Agile Organisation – wie nimmt man die gesamte Belegschaft mit auf die digitale Transformations-Reise?
- Um in Deutschland wettbewerbsfähig zu bleiben, müssen sich viele Unternehmen neu aufstellen. Mit Hilfe von agilen Organisationsmethoden und -strukturen sind Unternehmen am besten gerüstet für die digitale Transformation.
- Eine der größten Herausforderungen bei der Umstellung auf digitale Prozesse: die Haltung der Mitarbeitenden
- Best-Practice-Beispiel „Siemens-Energy-Werk in Spandau“: Betriebsleiter Stephan Jorra berichtet, warum eine agile Organisation dabei hilft, den Veränderungsprozess erfolgreich zu gestalten.
Viel diskutiert wird sie schon – die Digitalisierung, die endlich Einzug halten müsse und in vielen Industrien tut sie es auch schon rasant. Aber vielerorts – hauptsächlich bei mittelständischen Betrieben und insbesondere in der Baubranche – tut man sich schwer mit der Umstellung auf digitale Prozesse. Begriffe wie BIM sind noch nicht wirklich flächendeckend angekommen. Viele Bauherren und Bauunternehmen sind zurückhaltend, wenn es heißt, sie müssten sich vernetzen und digital zusammenarbeiten. Noch immer gibt es Zeitgenossen, die ungern zu Notebook und Smartphone greifen, um Entwürfe zu teilen oder den Baufortschritt zu überwachen. Es gibt natürlich die Vorreiter, die die digitale Zusammenarbeit schon erfolgreich vorleben, wie zum Beispiel Roche mit dem „Turmbau zu Basel“.
Wie müssen sich Unternehmen aufstellen, um sich fit für die Zukunft zu machen? Woran gilt es zu arbeiten, will man nicht ins Hintertreffen geraten und die wirtschaftliche Existenz gefährden? Denn eines ist sicher: Die Reise ins digitale Zeitalter lässt sich nicht aufhalten. Wer sich dagegen stemmt, schadet sich nur selbst. Um leichter auf den digitalen Zug aufzuspringen, ist der Blick auf Organisationsstrukturen und die vorherrschende Firmenkultur sinnvoll, um Mitarbeitende mitzunehmen. Erfolg verspricht hier die agile Organisation.
Agile Organisationsformen statt klassischer Projektarbeit
Den Begriff „agil“ verbindet man im Privaten damit, möglichst bis ins hohe Alter „beweglich“ zu sein. Damit ist sowohl die körperliche als auch geistige Beweglichkeit gemeint. Spricht man von der Firmenkultur oder darüber, wie sich eine Firma organisiert, bezieht sich die „Agilität“ auf den Führungsstil, die Strukturen und die Werte, die in einem Unternehmen gelebt werden. Im engeren Sinne werden „agile Arbeitsmethoden“ herangezogen, um Prozesse zu beschleunigen, sie aber auch in qualitativer Hinsicht zu verbessern. Ein Beispiel ist die Scrum-Methode, die häufig in der Softwareentwicklung eingesetzt wird.
Eine agile Organisation wendet sich ab von der klassischen Projektarbeit, bei der alles minutiös durchgeplant wird – inklusive Lastenheft, ausgefeiltem Projektplan und vordefinierten Meilensteinen. Von der Einführung von agilen Arbeitsmethoden erhofft man sich, den Wandel einzuleiten beziehungsweise zu beschleunigen und den Weg ins digitale Zeitalter zu ebnen: „Agile Arbeitsmethoden, agile Frameworks oder Methodenwelten sorgen für Beschleunigung. Sie dienen dazu, Prozesse und Zusammenhänge schneller abzubilden, schneller in die Rückkopplung mit den internen oder externen Kunden zu gehen, schneller Prototypen zu erstellen, um in kurzer Zeit das beste und nützlichste Produkt zu bekommen“, so die Plattform Business Wissen.
Von den Mitarbeitern wird verlangt, dass sie sich verändernden Gegebenheiten schnell anpassen. In einer agilen Organisation wird aber noch mehr von ihnen erwartet: sie sollen selbstständig und unternehmerisch handeln. Damit dies gelingt, ist auch ein besonderes Führungsprinzip notwendig. Firmen müssten weg vom so genannten „Servant-Leadership-Prinzip“, so der Tipp von Clevis Consult. Im Gegensatz zur hierarchisch geprägten Organisationstruktur herrscht in einer agilen Organisation eine flache, transparente Struktur und die Führungskraft übernimmt eher die Rolle des Coaches. So eine Transformationsphase kann zwei bis drei Jahre dauern, weiß Stephan Jorra, Betriebsleiter des Siemens-Energy-Werks in Spandau. Er sagt: „In einer agilen Arbeitswelt setze ich als Führungskraft nur noch die Leitplanken, gebe die Richtung vor und lasse den Menschen Freiräume, sich innerhalb dieses Rahmens zu entwickeln.“ Führungskräften falle es häufig schwer, alte Verhaltensmuster aufzugeben und keine Lösungen mehr vorzugeben, denn dies gehe auch mit einem Machtverlust einher.
Gefragt: die agile Organisationsstruktur
Die meisten Firmen kommen nicht umhin, ihre Prozesse schlanker zu gestalten – dies ist notwendig, in einem Umfeld, in dem die Kosten steigen, Fachkräfte Mangelware sind und zeitraubende Abläufe verschwinden sollen. Es ist für manch jungen Mensch schwer vorstellbar, dass bei Speditionen noch Faxe eingehen, um einen Transportauftrag zu vergeben und im Nachgang telefoniert wird. Gerade der Bausektor ist einer, dessen Produktivität seit Jahrzehnten nicht gestiegen ist.
Stephan Jorra ist seit fünf Jahren Betriebsleiter des Siemens-Energy-Werks in Berlin Spandau und verantwortlich für das operative Geschäft und 1.500 Mitarbeitende. Jorra sagt: „Wir sind ein gesundes Werk. Dennoch sehen wir, dass wir schneller auf Marktveränderungen reagieren müssen; in manchen Bereichen sind wir zu träge und müssen die Effizienz steigern und Fixkosten reduzieren.“
Jorra sieht in einer agilen Organisationsstruktur den Hebel, um flexibler zu werden und Dinge schneller abzuarbeiten: „Bei der agilen Methode wird keine Energie darauf verschwendet, alles groß auszuplanen.“ Stattdessen erreiche man eine größere Dynamik und kann schnell Erfolge feiern, so der Betriebsleiter.
Er veranschaulicht dies mit einem Beispiel aus dem administrativen Bereich: „Zwei Mitarbeiter waren lange Zeit zwei Tage die Woche damit beschäftigt, Rechnungen von Logistikdienstleistern auf Projekte zu buchen. Nach Einführung eines automatisierten Prozesses werden die Rechnungen automatisch zugeordnet und die Versandmitarbeiter können sich um andere Dinge kümmern. Ein KI-System hat dem Mitarbeiter also eine mühsame Sisyphusarbeit abgenommen.“ Dieses Projekt wurde sehr schnell durch ein organisationsübergreifendes agiles Squad-Team umgesetzt.
Den Begriff Squad-Team kennt man eher von der Polizei oder Feuerwehr, wo es sich um eine mobile Einsatztruppe handelt. In der agilen Organisation sind es sich selbst organisierende, cross-funktionale Teams, die aus bis zu acht Personen bestehen. Je nach Aufgabe werden diese Teams neu zusammengestellt.
In der Fertigung selbst bleiben agile Methoden naturgemäß außen vor – die Produktion bei Siemens Energy läuft weiterhin taktbasiert – aber im Vorfeld der Produktion wurden ebenfalls agile Prozesse eingeführt, erzählt Stephan Jorra. Agilität in der Fertigung lasse sich verwirklichen, wenn man hier ebenfalls auf cross-funktionale Teams setzt, Mitarbeitende aus dem Shopfloor teilhaben lässt und diese die neuen Prozesse mitgestalten.
Doch nicht immer empfinden es Mitarbeitende als positiv, wenn gewohnte Tätigkeiten wegfallen, weil eine Maschine dies besser und schneller kann.
Die größte Hürde für den Veränderungsprozess: die Mitarbeitenden sträuben sich
Routinen geben Sicherheit – wer routiniert in etwas ist, kennt sich bestens aus. Das klingt positiv und ist es auch. Zu einem Hindernis wird es dann, wenn sich Mitarbeitende in der Routine so wohl fühlen, dass sie sich gegen jegliche Neuerung sträuben. Die Aussage „das haben wir immer schon so gemacht“ steht stellvertretend für eine Haltung, die Veränderungen gegenüber nicht aufgeschlossen ist. Genau diese Mitarbeitenden gilt es zu überzeugen, dass die Veränderung notwendig ist und ihre Arbeitskraft und ihre Ideen weiterhin erwünscht sind. Es muss eine Firmenkultur entstehen, die Veränderungen gegenüber aufgeschlossen ist. An diesem Punkt setzt das Change Management an, dessen wichtigster Part die Kommunikation mit der Belegschaft ist, um alle Mitarbeitenden mitzunehmen.
Umstellen auf eine agile Organisationstruktur: so gelingt’s
Stephan Jorra hat für das Schaltwerk von Siemens Energy im Nordwesten von Berlin das Motto „MOVE“ ausgegeben. Hinter dem Akronym stecken die Wörter „Motivation, Orientierung, Vertrauen und Empathie“. Die Mitarbeitenden müssten zuallererst verstehen, warum die Veränderungen überhaupt notwendig sind. Im Fall des Siemens-Energy-Werks bringt er die Motivation so auf den Punkt: „Wir wollen uns zu einer intelligenten Fabrik wandeln, um dem Klimawandel aufzuhalten und nicht weil die Smart Factory gerade ‚en vogue‘ ist.“ Beim Thema „Empathie“ gehe es darum, sich vorzustellen, wie Mitarbeitende in der Logistik oder Fertigung die geplanten Veränderungen wahrnehmen und warum ihnen vielleicht angst und bange wird. Stephan Jorra: „Ich nutze 30 % meines Tageszeitmanagements dazu, solche Überzeugungsarbeit zu leisten und Ängste zu nehmen. Weil das zunächst einmal wichtiger ist, als die Technologie voranzutreiben.“
Konkret wurden diese Werte bei Siemens Energy mit Leben gefüllt, indem beispielsweise Auszubildenden in den Veränderungsprozess mit eingebunden wurden. Es wurde u. a. ein InnoLab ins Leben gerufen, also eine Innovationsschmiede, in der Azubis selbst Automatisierungslösungen entwickeln. Jorra betont, dass alle mit auf die digitale Reise mitgenommen werden müssen – quer über alle Altersstrukturen und alle Ebenen. Das gelingt nur, wenn das Management sich das Vertrauen der Belegschaft erarbeitet hat, indem es offen und ehrlich über die Hintergründe der Veränderungen kommuniziert.
Aufgaben und Berufsbilder verändern sich
Eine agile Organisation soll es Mitarbeitenden leichter machen, sich immer wieder an neue Gegebenheiten anzupassen: sei es eine neue Zeiterfassungssoftware, ein Designprogramm oder eben einen neuen Fertigungs- oder Logistik-Prozess, der ganz ohne menschliches Zutun auskommt.
Stephan Jorra prognostiziert: „Arbeitsinhalte werden sich verändern“. Im Werk von Siemens Energy wäre eine solche Veränderung, wenn zunehmend fahrerlose Transportsysteme im Einsatz sind, und sich Arbeitsinhalte der Mitarbeitenden zum Beispiel um Instandhaltung und Anpassungen solcher Systeme erweitern. Arbeitnehmende müssen sich von der Vorstellung verabschieden, dass sie ihren einmal erlernten Beruf ihr ganzes Leben lang ausüben werden. „Veränderung ist aber an sich nichts Negatives“, betont Jorra.
„Lebenslanges Lernen“ sollte auch dann seine abschreckende Wirkung verlieren, wenn den Mitarbeitenden dies auch zugestanden wird. Wenn Sie Zeit und Raum dafür bekommen, das Lernen in ihren Alltag einzubauen. Noch besser ist es, wenn die Mitarbeitenden proaktiv neue Rollen übernehmen. „Reskilling“ ist hier das Stichwort. So stellen Mitarbeitende am besten sicher, dass ihnen die Maschinen – ob in Gestalt eines Roboters oder einer „unsichtbarer“ KI im Rechner – die Arbeit nicht wegnehmen.