Skip to main content

Nach dem Lockdown: Lektionen aus der Bauwirtschaft für den Wiederaufschwung

Technologien wie Drohnen oder Roboter können auf einer Baustelle in Zeiten von Corona wichtige Aufgaben übernehmen. Bildgestaltung: Micke Tong

So neuartig die Bedrohung durch die derzeitige Pandemie in mancher Hinsicht sein mag, ist sie keineswegs die erste Krise, die zahlreichen Branchen einen fatalen Schlag versetzt hat. Aus vergangenen Herausforderungen kann die Baubranche lernen, um für die Zukunft gerüstet zu sein.

Aktuell ist die Baubranche im Zeichen des Corona-bedingten Konjunktureinbruchs mit ähnlichen Entscheidungen konfrontiert wie bereits während der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise vor zehn Jahren. Die dabei vorgenommenen Weichenstellungen werden womöglich den Ausschlag darüber geben, welche Unternehmen die globale Pandemie überstehen und welche nicht. Entscheidungsträger aus anderen Branchen können einiges aus den – damaligen wie heutigen – Erfolgen und Fehltritten im Baugewerbe lernen. Fünf dieser Lektionen für den Wiederaufschwung werden in diesem Beitrag erläutert.

Die Verfasserin Allison Scott, Director of Construction Thought Leadership bei Autodesk. Bildgestaltung: Micke Tong.
Die Verfasserin Allison Scott, Director of Construction Thought Leadership bei Autodesk. Bildgestaltung: Micke Tong.

1. Investition lohnt sich auch in Krisenzeiten

Die Finanz- und Wirtschaftskrise stürzte die US-Volkswirtschaft in eine schwere Rezession, die das Baugewerbe vor allem im Zeitraum von 2006 bis 2011 stark in Mitleidenschaft zog. Sie hinterließ drastische Veränderungen und trieb viele Baufirmen in den Ruin.

Andere standen sie durch, verweigerten sich jeglichen Neuerungen und überlebten mehr schlecht als recht. Wiederum andere Unternehmen jedoch nahmen den Abschwung zum Anlass für Investitionen – zum einen in ihre Mitarbeiter, zum anderen in die Konsolidierung des Kerngeschäfts. Diese Mittel flossen in neue Technologie und innovative Arbeitsverfahren sowie in die Fort- und Weiterbildung der Belegschaften.

Im April 2010 setzte Apple mit der Markteinführung des iPad eine Revolution technologischer Innovation in der Baubranche in Gange. Zahlreiche neue Apps ermöglichten plötzlich eine sehr viel engere Zusammenarbeit zwischen Büro und Baustelle. Für die innovationsfreudigen unter den Bauunternehmen tat sich in der unmittelbaren Folge der „Great Recession“ eine Vielzahl von Möglichkeiten zur Anwendung der neuen Technologien auf. Viele von ihnen wussten diese Chancen mit großem Erfolg zu nutzen.

So stand beispielsweise die Gebäudedatenmodellierung (wie BIM) zu Beginn der damaligen Rezession noch ganz am Anfang ihres branchenweiten Durchbruchs. Dem von Dodge Data and Analytics veröffentlichten SmartMarket Report für das Jahr 2012 zufolge stieg die Implementierung von BIM-Software bei US-amerikanischen Architektur-, Ingenieur- und Baufirmen zwischen 2007 und 2012 von 28 auf 70 Prozent an (bei deutschen Firmen lag der Anteil einer PwC-Studie zufolge noch 2019 erst bei 52 Prozent). Damals kommentierte Stephen Jones von Dodge Data and Analytics: „So kontraintuitiv es zunächst erscheinen mag, mitten in einer Rezession die Ausgaben zu erhöhen, zeigen die Ergebnisse unserer Forschung doch branchenweit eine hohe Bereitschaft, durch die Implementierung von BIM-Technologien und -Verfahren in eine effizientere und produktivere Zukunft zu investieren.“

Firmen, die sich die Zeit nahmen, BIM und Tools zur Unterstützung der Zusammenarbeit zwischen Büro und Baustelle in ihre Arbeitsabläufe zu integrieren und die Mitarbeiter entsprechend zu schulen, hatten einen Vorsprung, als die Wirtschaft sich allmählich wieder erholte. Öffentliche wie private Bauherren und Generalunternehmer hatten ein gesteigertes Interesse daran, Aufträge an Firmen mit intelligenten und innovativen Ansätzen zur Risikominderung und Gewährleistung berechenbarer Ergebnisse zu vergeben. Laut einem Bericht der Harvard Business Review ergab eine kürzlich veröffentlichte Umfrage unter 3.500 Unternehmen weltweit, dass Marktteilnehmer, die unternehmensweite Maßnahmen zur Vorbereitung auf den Abschwung ergriffen, sowohl während als auch nach der Rezession ein viermal schnelleres Umsatzwachstum verzeichneten als ihre weniger proaktiven Mitbewerber. Als besonders zielführend erwies sich dabei die Implementierung von Digitaltools.

Gut möglich, dass es Unternehmen, die vor zehn Jahren die Chance zur Transformation nicht genutzt haben, diesmal noch härter treffen wird. Viele dürften einen solchen Rückschlag kein zweites Mal überstehen.

2. Mehr Kontrolle durch vertikale Integration

Aus Wirtschaftskrisen gehen diejenigen Unternehmen gestärkt hervor, denen es gelingt, aus Wachstumschancen Profit zu schlagen. In naher Zukunft dürfte es – nicht nur in der Bauwirtschaft – ähnlich wie nach der Rezession vor zehn Jahren zu einer Zunahme von Fusionen und Übernahmen kommen. Von der vertikalen Integration erhoffen sich Unternehmen mehr Kontrolle und höhere Gewinnmargen.

Einige traditionelle Total- oder Generalunternehmer werden fusionieren und/oder in weitere Geschäftsfelder expandieren – sei es in Architektur- und Ingenieurleistungen, die Fertigung oder auch die Vermarktung von Gewerbeimmobilien. Aus Sicht der Unternehmen ist der Trend hin zu einer verstärkten vertikalen Integration durchaus sinnvoll: Er ermöglicht nicht nur mehr Kontrolle über die Lieferkette und die gesamte Projektierung von Bauvorhaben, sondern verspricht auch höhere Erträge. Mit dem Grad an vertikaler Integration erhöhen sich die Gewinnspannen weiter.

Aus Krisen gestärkt hervorgehen: wie beispielsweise mit Kooperationen oder Unternehmensfusionen. Bildgestaltung: Micke Tong
Aus Krisen gestärkt hervorgehen: wie beispielsweise mit Kooperationen oder Unternehmensfusionen. Bildgestaltung: Micke Tong

Für manche Firmen sind Projektpartnerschaften mit neuen oder unkonventionellen Marktteilnehmern möglicherweise eine attraktivere Option als traditionelle Fusionen und Übernahmen. Einige Beispiele aus den vergangenen Jahren – die Kooperation zwischen JLL und Google zur Entwicklung eines KI-gestützten Büroassistenten, die Zusammenarbeit der auf Anlagenbau spezialisierten Fluor Corporation mit IBM Watson und die gemeinsam von Skanska und IKEA betriebene Expansion des Fertighausbaus – haben gezeigt, dass auch etablierte Unternehmen ihre Marktstellung durch die Expansion oder Transformation ihres Leistungsangebots stärken können.

3. Keine Angst vor Fehlschlägen

Teilweise hat die Corona-Pandemie die Verbreitung von Technologien beschleunigt, die in zahlreichen Branchen bereits innovative Ansätze im Umgang mit Technik und Daten unterstützten. So ist etwa die Anzahl der neu angelegten Projekte in BIM 360 Design von Autodesk seit Mitte Februar um ca. 350 Prozent angestiegen. Zusätzlich haben die zahlreichen Corona-bedingten Baustopps dazu geführt, dass in den betroffenen Branchen neue, oftmals unerwartete Anwendungszwecke für vorhandene Tools und Technologien gefunden werden.

„Führungskräfte sind gefordert, ihren Mitarbeitern die Angst vor Fehlschlägen zu nehmen und den erforderlichen Spielraum zu gewähren, um etablierte Arbeitsabläufe vollkommen umzumodeln.“

Vielerorts sorgen Projektverantwortliche durch virtuelle Inspektionen mit 360°-Kameras und Video-Begehungen dafür, dass die Zeitplanung trotz Ausgangssperren und Kontaktverboten nicht vollkommen aus dem Ruder läuft. Dank der Unterstützung von Überwachungskameras, Drohnen und teils sogar mithilfe von SPOT, dem Hunderoboter von Boston Dynamics, bleiben alle Projektbeteiligten ständig auf dem Laufenden, auch wenn sie nicht physisch vor Ort sein können. Durch Integrationen zwischen Videokonferenzlösungen von Zoom und BIM-Software lässt sich die Protokollierung von Team-Besprechungen optimieren. Eine Kombination aus Live-Streaming-Präsentationen, Video-Botschaften und 4D-Animation unterstützt virtuelle Feiern zur Grundsteinlegung unter Einhaltung der Corona-Beschränkungen. Wenngleich sich natürlich nicht alle Arbeitsschritte im Rahmen eines Bauprojekts digitalisieren lassen, hat die Pandemie dennoch gezeigt, dass eine grundlegende Erneuerung vieler herkömmlicher Arbeitsweisen längst überfällig ist.

Tüftler und Problemlöser finden sich in der Baubranche auf allen Ebenen der Unternehmenshierarchie. Hier sind die Vorgesetzten und Führungsverantwortlichen gefordert, die Innovationsfreude, Experimentierlust und Kreativität ihrer Mitarbeiter zu fördern, ihnen die Angst vor Fehlschlägen zu nehmen und den erforderlichen Spielraum zu gewähren, um etablierte Arbeitsabläufe vollkommen umzumodeln oder sich neuartige Ansätze zur Bewältigung alter Herausforderungen auszudenken.

4. Nicht jede erzwungene Veränderung ist zwangsläufig schlecht

Für viele Arbeitnehmer hat der erzwungene Rückzug ins Homeoffice und die Umstellung auf neue Arbeitsgewohnheiten keineswegs nur Unannehmlichkeiten mit sich gebracht. Meiner Meinung nach spricht absolut nichts dagegen, diese neuen Modelle auch nach Ende der Corona-Beschränkungen zumindest teilweise beizubehalten.

Homeoffice macht die Baubranche für Arbeitnehmer attraktiver. Bildgestaltung: Micke Tong
Homeoffice macht die Baubranche für Arbeitnehmer attraktiver. Bildgestaltung: Micke Tong

Produktivität und Mitarbeitermotivation sind in der Baubranche schon seit Jahrzehnten ein brisantes Thema. Viele Unternehmen tun sich seit Langem schwer damit, hochqualifizierte Fachkräfte mit vielfältigen Hintergründen und Erfahrungen anzuwerben und langfristig zu binden. Dafür gibt es zahlreiche Gründe – eines der größten Probleme ist jedoch der traditionelle Arbeitsstil im Baugewerbe. Überstunden, Stress und ständiger Zeitdruck sowie der Mangel an Aufstiegsmöglichkeiten, Widerstand gegen Innovation und die fehlende Flexibilität machen die Branche wenig attraktiv für aufstrebende Nachwuchskräfte, insbesondere auch für Frauen und Angehörige ethnischer Minderheiten.

Wenn die Corona-Krise jedoch eines gezeigt hat, dann dies: Mehr Flexibilität ist nicht zwangsläufig gleichbedeutend mit sinkender Produktivität. Ganz im Gegenteil: Mehr Flexibilität steigert die Zufriedenheit und damit die Motivation der Mitarbeiter und fördert die Entstehung neuer Lösungsansätze. Die Zusammenarbeit in Echtzeit zwischen unterschiedlichen Teams und Projektbeteiligten kann mithilfe entsprechender Technologien auch weiterhin fortgesetzt bzw. sogar verbessert werden. Als zusätzliches Plus erweist sich der menschliche Faktor – Unternehmen, die auf Technologie, Innovation und Flexibilität als integrale Bestandteile ihrer Arbeitskultur setzen, gelingt es, eine besser qualifizierte, interessantere und vielfältigere Belegschaft anzuwerben und langfristig zu binden.

5. Kein Wachstum ohne Wachstumsschmerzen

Die Bauwirtschaft gilt nicht ganz zu Unrecht als extrem risikoscheu. Damit einher geht eine geringe Bereitschaft, durch Investitionen in Technologie oder Innovation am Status quo zu rütteln. Angesichts der im Baugewerbe üblichen schmalen Gewinnmargen bei Projekten, die sich über Zeitspannen von einem Jahr oder noch länger hinziehen, ist dieser Mangel an Experimentierfreude durchaus verständlich. Anstatt neue Ansätze auszuprobieren, konzentriert man sich lieber darauf, die laufenden Projekte möglichst zügig und mit möglichst wenig Verlust in trockene Tücher zu bringen.

Auch hier muss es Aufgabe der Führungskräfte sein, Veränderungen durchzusetzen und den dazu erforderlichen Kulturwandel aktiv zu fördern. Unternehmen, die dies nicht tun, lassen sich riesige Chancen entgehen. Führende Branchenvertreter sind sich der Notwendigkeit zur Implementierung entsprechender Technologien und Tools sowie zum Austausch von Daten längst bewusst. Der Titel des 2009 unter Federführung von Andrew Wolstenholme veröffentlichten Berichts des britischen Fachverbands Construction Excellence bringt es mit einem Zitat von Winston Churchill auf den Punkt: „Never Waste a Good Crisis“ – eine gute Krise will genutzt werden. Zu den Kernaussagen dieses Berichts zählte schon damals die Erkenntnis, dass sich das gewaltige Verbesserungspotenzial im Hinblick auf Sicherheit, Qualität, Kommunikation, Kosten, Zeitplanung und Produktivität nicht ohne eine grundlegende Neuausrichtung der vorherrschenden Geschäftsmodelle bewältigen lassen würde.

Neu sind die hier vorgestellten Konzepte also nicht – im Zeichen von Corona ist der Handlungsbedarf jedoch dringender als je zuvor. Mangelnde Risikobereitschaft ist ein Luxus, den sich Unternehmen nicht leisten können, wenn sie nicht nur die aktuelle Krise überstehen, sondern auch für die nächste gerüstet sein wollen.

Über den Autor

Ihre langjährige Architektur-, Innovations- und Marketingerfahrung wendet Allison Scott heute bei Autodesk an, um an der Spitze ihres neuen Customer-Experience-Teams ein ansprechendes Kundenerlebnis zu schaffen, das Fürsprache, Loyalität und Vertrauen in unserem Kundenstamm fördert. Scotts Team entwickelt und koordiniert mehrere Kundenbindungsprogramme, darunter auch unsere wachsende Online-Community, unsere Interessengruppen und das Executive Council Advisory Program. Damit wir unser Angebot flexibel an die Ansprüche der modernen Kundschaft im Baugewerbe anpassen können, generiert ihr Team aus unserem bestehenden Kundenkreis aufschlussreiche Insights, die unsere geschäftlichen Entscheidungen maßgeblich mitprägen.

Profile Photo of Allison Scott, Autodesk Director - DE