Für glänzende Noten: SYMPLEXITY-Roboter lernen, Werkstücke zu Polieren
Industrielles Polieren ist ein Grundpfeiler in der Fertigung – ein notwendiger, aber außerordentlich manueller Prozess, der Werkstücken ihre matte, glänzende, plane oder anderswie bearbeitete Oberfläche verleiht. Von Schleifpapier bis zu Laserstrahlen – die Oberflächenbearbeitung sowie die Beurteilung von Werkstoffen erfolgt immer noch durch Menschen. Der Prozess hat eine stolze handwerkliche Vergangenheit, lässt sich aber nur schwer reproduzieren und objektiv messen.
Wie kommt es also, dass beim industriellen Polieren keine Roboter eingesetzt werden? Sicherlich wäre eine Maschine, die niemals ermüdet und stets die gleiche präzise Bewegung ausführt, ausgezeichnet für eine solche Arbeit geeignet? Genau das prüft unter anderen SYMPLEXITY, eine Kooperative zwischen Industrie und Hochschulen aus ganz Europa. SYMPLEXITY entwickelte sich aus drei bestehenden Projekten in den Bereichen Programmierung, Oberflächenbearbeitung und Mensch-Roboter-Zusammenarbeit und umfasst 15 Partner aus sechs Ländern.
Polieren ist gar nicht so einfach
Roboter übernehmen in der Fertigung einfache, sich wiederholende Aufgaben. In der Automobilfertigung zum Beispiel führen Dutzende von Robotern mit wenigen Handgriffen präzise Aktionen aus. Sollen Roboter jedoch die Oberfläche eines Werkstücks oder Objekts polieren, müssten sie unzählige unterschiedliche Bewegungen ausführen: jede einzelne in Technik, Annäherungswinkel und Druck individuell auf das Werkstück abgestimmt. Für einen Menschen ist es einfach, 5 Mikrometer von einem Objekt abzutragen – eine Maschine dazu zu befähigen, erfordert eine ganz neue Stufe der Programmierung. Ein erfahrener menschlicher Produktveredler kann mit einem Blick feststellen, ob eine Oberfläche ausreichend glänzt. Aber für die Software, die einen Roboter antreibt, bedeutet der Begriff glänzend ohne mathematische Werte nichts.
Sebastian Hähnel, Wissenschaftler des Fraunhofer-Instituts für Produktionstechnologie in Aachen, ist Projektkoordinator bei SYMPLEXITY. Seiner Meinung nach biete Kollaborative Intelligenz den goldenen Mittelweg. „Wir untersuchen deshalb die menschliche Arbeitskraft, um Informationen über Eigenschaften wie Sensibilität der Hände, Anpassungsfähigkeit und Flexibilität zu gewinnen“, erklärt Hähnel.
Die Lösung zukünftiger Probleme?
Es geht aber nicht nur um industrielles Polieren. Fausto Romagnani ist Besitzer der Firma Romagnani Stampi, die in Mailand Spritzguss- und Pressformen für die Automobilindustrie herstellt. Er vergleicht SYMPLEXITY mit dem Wettlauf ins All in den sechziger Jahren: ein Programm, das Probleme in der Industrie lösen wird, die es noch gar nicht gibt. SYMPLEXITY zieht geeignete Partner hinzu, um aus dem Programm resultierende Forschungs- oder wirtschaftlich relevante Ergebnisse zu generieren und die daraus hervorgehenden Technologien werden sowohl positiv aufgenommen als auch umgesetzt.
Ein besonders vielversprechendes Werkzeug aus der SYMPLEXITY-Denkfabrik ist die SIR-Zelle. Diese Roboterzelle ist benannt nach dem Konsortialpartner, der sie produziert hat: die Firma Soluzioni Industriali Robotizzate aus dem italienischen Modena. Basierend auf bestehender Technologie mit einer Spindel, einer Werkzeughalterung und weiteren üblicherweise in Fräs- und CNC-Vorrichtungen verwendeten Komponenten, verfügt die SIR-Roboterzelle über hoch entwickelte Funktionen, die von Autodesk PowerMill Robot gesteuert werden.
Ein Großteil der Programmalgorithmen zur Steuerung der Polierroboter von SYMPLEXITY wird durch maschinelles Lernen generiert werden. Eine zentrale Komponente der geplanten Innovationen im Bereich des maschinellen Lernens ist die Oberflächenmesstechnik, bei der ein Roboter die Oberfläche analysiert und die für die vorgesehene Leistung relevanten Werte liefert. Sensorsysteme sammeln Informationen über jede Oberflächenbeschaffenheit und liefern mathematische Werte in Bezug auf Glanz, Defekte, Rauheit usw.
Die Forschung soll aufzeigen, dass wenn die Messtechnik zum Beispiel eine Oberfläche mit ungenügender Qualität identifizieren würde, ein maschinelles Lernsystem basierend auf dem analytischen Modell einen Schritt oder einen Parameter ändern würde. Es könnte die Programmierung auf eine stärkere Abrasionsleistung einstellen und zukünftige Arbeitsabläufe bei ähnlichen Oberflächen mit denselben Ausgangsparametern korrigieren. Nach einer solchen Kurskorrektur würde das System noch bevor es den Arbeitsablauf startet, basierend auf den Anforderungen an das Werkstück, fundierte Entscheidungen über Polierkraft, -winkel, -geschwindigkeit und so weiter treffen. Softwareingenieure bei SYMPLEXITY erwarten, dass CAD‑Dateien zukünftig selbst Hinweise enthalten werden, die ein Roboter für die optimale Bearbeitung eines Werkstücks benötigt.
Roboterpolieren in der Zukunft
Untersuchungen von SYMPLEXITY zufolge werden 90 % aller Veredelungsarbeiten heute noch von Hand erledigt. Mit Robotern könnte man dieses Verhältnis auf ca. 20 % verringern, während der Rest von Robotern unter menschlicher Aufsicht ausgeführt würde. Aber wie wird diese Zusammenarbeit aussehen? Romagnani sieht darin die Hauptaufgabe von SYMPLEXITY. „Was wird im Ergebnis erreichbar sein?“, fragt er. „Im Arbeitsablauf von grobem Polieren zu sehr feinem Polieren werden wir mit Robotern wahrscheinlich irgendwo in der Mitte anlangen. Wo hat die Messtechnik ihre Grenzen und wo liegen die zwischen Roboter und Mensch? Welche Bereiche werden sich überschneiden?“
Dies sind entscheidende Fragen. Menschen sind aufgrund von Erfahrung und Intuition besser in der Veredlung von Oberflächen, aber Roboter wären schneller und effizienter – und bräuchten keine Ruhepausen. Können Roboter lernen, in jeder Hinsicht auf die Stufe eines Menschen zu kommen?
„Die Fähigkeit, immer und immer wieder exakt die gleiche Bewegung auszuführen, ist bei der Qualitätssicherung von gefertigten Teilen von großem Vorteil“, sagt Hähnel. „Außerdem kann ein Roboter für höhere Arbeitslasten eingesetzt werden. Ein Roboter kann sich mit Werkzeugen bewegen, die Menschen nicht einmal heben, geschweige denn tragen können.“
Wie Messdaten zum Leben erweckt werden
Anstelle eines Menschen, der eine subjektive Entscheidung über die Qualität eines Werkstücks trifft, können anhand des fertiggestellten Teils mathematische Daten zur Bewertung der Leistungsqualität gewonnen werden. Eine der aufregendsten Entwicklungen von SYMPLEXITY ist die Visualisierung von Daten zur Oberflächenqualität mit Augmented Reality (AR). Dies könnte bei der Verringerung des aufgrund von Sichtung und Beurteilung durch Menschen entstehenden teuren Haftungsrisikos von großem Nutzen sein. Ergebnisse werden weiterhin von einem menschlichen Sachverständigen genehmigt werden müssen, quantifizierbare Messdaten von Eigenschaften jedoch könnten direkt in die Qualitätssicherung (QS) einfließen.
Derzeit verwendet die SIR-Zelle das Messsystem QISAB CWS 640 zur Messung der Oberflächenqualität. Dieses kann bis zu 13 Datenparameter ermitteln. Die Microsoft HoloLens zeigt diese gemessenen Daten dann dem Benutzer durch Überlagerung mittels AR direkt auf dem Werkstück an. Kunde und Operator können in der SIR-Zelle die Daten über das HoloLens-Headset überprüfen. Damit ist die SIR-Zelle sowohl Fertigungs- als auch Qualitätssicherungswerkzeug in einer Maschine.
Die digitale Messtechnik ist nicht neu, aber AR könnte das Ende für flache 2D-Darstellungen auf Bildschirmen bedeuten. Anstatt sich vorstellen zu müssen, wie sich eine bestimmte Parameteränderung auf ein Werkstück auswirken wird, sieht man die Information direkt auf dessen Oberfläche. Benutzer können anhand der Daten erkennen, wo ein anderes Werkzeug oder eine andere Technik benötigt wird, um bessere und schnellere Entscheidungen treffen zu können. Das Potenzial ist vielversprechend – weit über das industrielle Polieren hinaus.
Nach Abschluss bestimmter Test- und Vorbereitungsphasen ist man bei SYMPLEXITY bereit, reale Beispiele in die Praxis umzusetzen. Wie wird es mit SYMPLEXITY weitergehen, wenn diese erfolgreich sind? Werden SIR-Roboterzellen im Handel erhältlich sein? Wird es AR als Plug-in für CAM-Software geben?
Die Partner des Konsortiums besitzen die Rechte an ihrem jeweiligen geistigen Eigentum – SYMPLEXITY bringt lediglich ihr Fachwissen, ihre sich ergänzenden Technologien und Ideen zusammen. Für manche der Partner bedeutet dies weitere Entwicklungsarbeit, vielleicht mit anderen Partnern in einem neuen Konsortium. Für andere, dass sie marktreife Ware zum Verkauf anbieten können. So oder so kann man der Zukunft von Fertigung, Roboter-Fähigkeiten und Mensch-Roboter-Zusammenarbeit positiv entgegensehen.