6 Strategien für ein radikales Umdenken in der integralen Bauplanung
Im Schatten jedes Schöpfers architektonischer Wahrzeichen und Wunderwerke stehen die Tragwerksplaner, die mit der integralen Bauplanung kühne Gestaltungskonzepte mit den Gesetzen der Schwerkraft und den Sachzwängen der Baustatik unter einen Hut bringen. Wenigen gelingt dies besser als Erleen Hatfield.
Hatfield, die über eine Doppelqualifikation als Tragwerksplanerin und Architektin verfügt, war beim Bau des spektakulären Mercedes-Benz Stadium in Atlanta für die Konstruktion des weltweit ersten weitgespannten einziehbaren Dachs verantwortlich, das sich wie eine Kamerablende öffnet und schließt. Ohne die enge Zusammenarbeit zwischen Hatfields Team von BuroHappold Engineering und den Architekten bei HOK wäre diese bautechnische Innovation niemals möglich gewesen.
Hatfield brachte über 25 Jahre Erfahrung in ihr 2018 in New York gegründetes Ingenieurbüro Hatfield Group ein, das sich als Spezialist für integrale Bauplanung positioniert. Aus dem Portfolio der für die nahe Zukunft geplanten Projekte wird ersichtlich, wie emphatisch sie sich ein radikales Umdenken auf die Fahnen geschrieben hat. Hier verrät sie einige der Strategien, mit denen es ihr bisher gelungen ist, die Branche aufzumischen und zukunftsweisende baustatische Konzepte zu entwickeln.
1. Zusammenarbeit: der Architekt als Teilhaber
An allererster Stelle steht für Hatfield der Wunsch, über die herkömmlichen Aufgaben des Tragwerksplaners hinaus als gleichwertiger Kreativpartner zum Planungsprozess beizutragen. „Wir wollen bei den Architekten ein Umdenken auslösen“, erklärt sie. „Dazu haben wir einen Architekten als Teilhaber in unser Ingenieurbüro geholt. Das ist ein Alleinstellungsmerkmal, das unsere ingenieurtechnische Arbeit enorm aufwertet.“
Dieser Teilhaber heißt Martin Finio, arbeitete zuvor bei Christoff:Finio Architecture und kennt Hatfield seit über 15 Jahren aus der gemeinsamen Lehrtätigkeit an der Yale School of Architecture.
Das stereotypische Konfliktverhältnis zwischen Bauingenieuren und Architekten führt Finio auf unterschiedliche Perspektiven bei der Wahrnehmung und Bewältigung von Schwierigkeiten zurück: Wo Ingenieure rein rechnerische Probleme mit quantifizierbaren Lösungen sähen, neigten Architekten eher zu einer qualitativen Betrachtungsweise mit holistischen Lösungsansätzen. Diese Kluft möchte er als Vermittler zwischen beiden Lagern überwinden. Die Früchte der Zusammenarbeit zwischen Hatfield und Finio – etwa die Wohnungsbauprojekte Lied Place Residences in Lincoln (Nebraska) und 184 Morgan Street (New Jersey) – sprechen für den Erfolg dieses Ansatzes.
2. Perspektivwechsel: die Intentionen hinter dem Konzept
„Seit wir Martin mit im Team haben, überlegen wir ganz bewusst, wie wir ingenieurtechnische Probleme anders lösen können“, bekräftigt Hatfield. „Wir versuchen uns der Sicht der Architekten anzunähern, indem wir offen an die Sache herangehen und architektonische Aspekte verstärkt in unsere Arbeit einbeziehen.“
Hatfield ist bestrebt, ihr Team von Bauingenieuren zum kreativen Denken zu bewegen. „Normalerweise funktioniert integrale Bauplanung aus Sicht der Tragwerksplaner so, dass man Planungsprobleme mit typischen ingenieurtechnischen Ansätzen zu lösen versucht, das heißt mit präskriptiven Methoden und Standardansätzen. Dabei kommen oft schwerfällige baustatische Konzepte heraus, denen jede Eleganz abgeht.“
Bei der Zusammenarbeit mit Pelli Clarke Pelli Architects im Rahmen der Planung des Naturkundemuseums im chinesischen Chengdu fungierte das Team der Hatfield Group quasi als Dolmetscher für den Architekten. „Wir haben uns mit den Mitarbeitern von Pelli zusammengesetzt und uns bemüht, die Intentionen hinter dem Gestaltungskonzept herauszukitzeln“, berichtet Finio. „Wir haben gefragt: ‚Welche Sprache sprecht ihr, und was wollt ihr kommunizieren?‘ Und dann haben wir diese Aussageabsicht in eine entsprechende Struktursprache gebracht.“
Die Impulse der Hatfield Group trugen zur Stärkung des architektonischen Konzepts bei, sodass das Projekt mitsamt präzisen Anweisungen zur Tragwerksplanung an das ausführende Ingenieurbüro, China Southwest Architectural Design and Research Institute Corp. Ltd., übergeben werden konnte.
3. Kommunikation: miteinander statt gegeneinander
Veränderung in eine Branche zu bringen, die gerne an altbewährten Methoden festhält, kann schwierig sein. Die Durchsetzung bahnbrechender Neuerungen erfordert viel Geduld.
„Wenn wir Vorschläge aus ingenieurtechnischer Sicht machen, bemühen wir uns, dabei aufzuzeigen, dass es uns darum geht, das architektonische Konzept zu verbessern bzw. zu unterstützen und Risiken zu mindern oder Kosten zu senken – im Idealfall alle drei auf einmal“, betont Hatfield. „Der Schwerpunkt liegt auf der Kommunikation und darauf, dass alle am selben Strang ziehen.“
Konkret bedeutet das: zahlreiche Besprechungen, bei denen alle Beteiligten ihre Bedenken, Einwände und Anregungen zu Gehör bringen können, damit letztlich eine gestalterische Lösung gefunden wird, die auf unerwartete Weise die an das Projekt geknüpften Erwartungen erfüllt.
4. Iteration: unbegrenzte Möglichkeiten dank Generativem Design
Probieren geht über Studieren: Dieser Grundsatz gilt ganz besonders bei der Entwicklung kreativer Lösungsansätze für komplexe Herausforderungen. Generatives Design nimmt Hatfield und ihrem Team dabei eine Menge Arbeit ab. „Mit Dynamo hat man im Handumdrehen 50 unterschiedliche Varianten erstellt“, erläutert sie. „Dadurch werden die verschiedensten Iterationen möglich.“
In der Zeit, die früher zur Berechnung von zwei oder drei Entwürfen erforderlich gewesen wäre, können Hatfields Mitarbeiter heute mehrere Hundert Lösungen generieren und testen.
„Generatives Design ermöglicht uns eine weitaus produktivere und effizientere Erledigung vieler ingenieurtechnischer Aufgaben“, so Hatfield. „Damit können wir alle möglichen Konfigurationen im Schnellverfahren testen – z. B. Trägerabmessungen, Geometrien oder unterschiedliche Werkstoffe – und gelangen sehr viel schneller zu den Antworten auf unsere Fragen.“
Von Geschossdecken bis hin zu ganzen Gebäudefassaden lässt sich Generatives Design sowohl auf der Mikro- als auch auf der Makro-Ebene einsetzen, um Bauingenieuren einen Einblick in das Zusammenwirken verschiedener Systemkomponenten zu verschaffen.
5. Technologie: kreative Potenziale freisetzen
Dass ein relativ kleines Unternehmen wie Hatfield Group überhaupt in der ersten Liga mitspielen kann, verdankt es Technologien zur Steigerung der Produktivität und Qualität. Dabei verfolgt das Team einen agnostischen Ansatz und arbeitet jeweils mit den Software-Programmen, die sich für eine bestimmte Aufgabe am besten eignen. In der frühen Entwurfsphase vereinfacht 3D-Modellierung die Zusammenarbeit mit Architekten. Anschließend steigen die Bauingenieure für die eigentliche Tragwerksplanung auf BIM-Software – nämlich Revit und Dynamo von Autodesk – um.
„Unser System ist so aufgebaut, dass wir in jeder Phase die am besten geeigneten Tools verwenden“, erläutert Hatfield. Wenn einzelne Anwendungen nicht miteinander kompatibel sind, schreibt das Team die Interoperabilitätsregeln notfalls einfach selbst. Ebenso werden ungewöhnliche Geometrien mithilfe intern entwickelter Visualisierungsprogramme ausgetestet. Die dadurch eingesparte Zeit kann wiederum in kreativere Aspekte der Arbeit investiert werden.
„Wir sind ein vergleichsweise junges Unternehmen und längst nicht so groß wie viele etablierte Ingenieurbüros“, so Hatfield. „Dass wir trotzdem so erfolgreich sind, liegt vor allem daran, dass wir die Vorteile dieser technischen Hilfsmittel für uns nutzen.“
6. Mentalitätswandel: keine Angst vor Komplexität
Iteration geht nicht ohne Kooperation. Hatfields Team weiß nur allzu gut, dass komplexe Projekte ständigen Austausch erfordern – sowohl intern als auch mit den Auftraggebern.
„Wir fühlen uns sehr wohl in diesem Frühstadium eines Projekts, wenn vieles noch chaotisch läuft und es auf Kommunikation ankommt“, so Hatfield. „Wir können unsere Ideen so artikulieren, dass sie für unsere Auftraggeber, also die Architekten, nachvollziehbar sind … Wir sind bemüht, die Klischees umzustoßen, die Architekten von Ingenieuren im Kopf haben. Wir verstehen uns als nutzerorientierte und konzeptbewusste Tragwerksplaner, die einen unverzichtbaren Beitrag zum architektonischen Gestaltungsprozess leisten.“
Auch Finio bekräftigt, dass die ingenieurtechnische Perspektive von Anfang an in den Planungsprozess einfließen muss: „Als Bauingenieur kann man nicht warten, bis das Gestaltungskonzept für ein Gebäude steht, und dann die technischen und baustatischen Aspekte nachträglich einbringen. Wir wollen bereits in den Frühphasen mit am Tisch sitzen und die Architekten beim Formulieren ihrer Fragen unterstützen – oder zumindest präsent sein und ein Gespräch darüber führen, welchen Beitrag die Ingenieurtechnik zur Beantwortung ihrer Fragen leisten kann.“