Nachhaltig, flexibel und intelligent: Ein Besuch im Gebäude der Zukunft
Es klingt wie eine Brutstätte, und irgendwie ist es das auch. NEST in der Schweiz ist das wohl innovativste Gebäude der Welt: Hier wachsen Ideen für die Häuser der Zukunft, um die Bauindustrie später regelrecht zu „beflügeln“. Baustellenroboter auf dem Dach und Energieanlagen unter der Erde sollen wertvolle Innovationen für das digitalisierte Bauen von morgen liefern.
NEST steht eigentlich für „Next Evolution in Sustainable Building Technologies“ und ist ein modulares Forschungs- und Innovationsgebäude auf dem Campus der Empa – des Forschungsinstituts für Materialwissenschaften und Technologieentwicklung bei Zürich. Wie beim Baukastenspiel Jenga werden immer wieder neue Wohn- und Forschungsmodule auf den drei Trägerplattformen eingesetzt bzw. ausgetauscht. Damit ist das Gebäude fortwährend im Wandel. Zumindest die äußere Hülle.
Der Gebäudekern mit Atrium, Gemeinschaftsräumen und Energie- und Wasseranlage im Keller ist beständig – die Architekten sprechen von „inneren“ Fassaden. „NEST ist sozusagen ein Labor, das von innen nach außen gestülpt wurde. Die Experimente liegen an der Peripherie, also außen, und die Fassade, welche Identität stiftet, liegt im Zentrum, also innen“, sagt der Züricher Architekt Fabio Gramazio.
NEST ist Forschungslabor und gleichzeitig bewohntes Gebäude
Dass NEST mehr als nur Labor ist, zeigen die Klingelschilder. Sie tragen die Namen von akademischen Gästen, die hier wohnen. „Das macht die Forschung hier so besonders. Wir forschen hier nicht in einer isolierenden Umgebung, sondern unter Realbedingungen“, sagt der Hausherr Reto Largo. Er ist der Geschäftsführer von NEST. Sein Vater war Bauunternehmer, er selbst kommt ursprünglich aus der IT. Largo kennt also beide Seiten: den Bau und die Digitalisierung. Es liegt auf der Hand, dass er bei NEST beides zusammenbringen will. Und er möchte noch etwas zusammenbringen: die Forschung mit der Wirtschaft. An die 160 Partner aus Industrie und Forschung sind an NEST beteiligt. Darunter die Autodesk Foundation sowie die Forschungsabteilung von Autodesk Research.
„Ohne das Netzwerk wäre NEST gar nicht möglich“, ist Largo überzeugt. Und er ergänzt: „Das finanzielle Risiko ist bei uns für die Unternehmen viel kleiner, als wenn sie neue Technologien in der realen Wirtschaft ausprobieren würden.“ Das mache die Zusammenarbeit für die Firmen so attraktiv.
Davon ist auch Russell Loverridge überzeugt. Er ist Geschäftsführer des Nationalen Forschungsschwerpunkts (NFS) Digitale Fabrikation, der zu einem der größten Forschungsfonds für Innovation am Bauen in der Welt gehört. „Um die Herausforderungen der digitalen Zukunft zu leisten, können wir uns am Bau keine Einzelkämpfer mehr leisten. Wir müssen zusammenarbeiten.“
Und genau das macht der NFS Digitale Fabrikation bei NEST. Mit Forschenden aus acht Professuren der Eidgenössischen Technischen Hochschule (ETH) Zürich und mehr als 30 Unternehmen – darunter Architekten, Robotiker, Materialwissenschaftler, Statiker und Nachhaltigkeitsexperten – hat die Institution das sogenannte DFAB HOUSE geplant und gebaut. Es ist das neuste Modul auf dem NEST – erst Anfang des Jahres wurde es eröffnet. Das DFAB HOUSE – kurz für „Digital Fabrication House“ – verkörpert die Zukunft des Wohnungsbaus – hier wurde nicht nur digital geplant, sondern auch weitgehend digital gebaut.
Roboter, KI und 3D-Drucker auf der Baustelle der Zukunft
Roboter fabrizierten für das DFAB HOUSE nicht-standardisierte Holzelemente und haben sie vor Ort auf der Baustelle als Fassade zusammengesetzt. Ein 3D-Drucker produzierte die Schalungen für die feingliedrige Betondecke im Wohnzimmer. Und für die geschwungene, schalungsfreie Betonwand fertigte ein Roboter die Bewehrung.
Nach dem Bau dient das DFAB HOUSE nun als Testlabor für Smart-Home-Lösungen und IoT-Technologien. Vom Herd bis zum Licht ist im Haus alles vernetzt. Um Energie zu sparen, wird die Wärme des Abwassers zum einen über Wärmetauscher direkt in den Duschwannen zurückgewonnen. Zum anderen fließt das warme Wasser bei Nicht-Gebrauch aus den Leitungen zurück in den Boiler, anstatt in den Wasserrohren abzukühlen. Deshalb kann auf eine Temperaturhochhaltung verzichtet werden. Das spart nicht nur Energie, sondern verhindert auch Bakterienbildung in den Leitungen.
Kompostierbare Baumaterialien, um die Umwelt zu schonen
Neben dem DFAB HOUSE gibt es bislang noch fünf weitere Module auf und im NEST. Eines davon ist das sogenannte „Urban Mining & Recycling“, das unter der Leitung des Architekten Werner Sobek gestaltet worden ist. Nichts, was in dieser Wohneinheit verbaut wurde, ist geklebt oder beschichtet. Denn man will die verbauten Materialien später wieder in den Kreislauf zurückführen, um sie wiederzuverwerten oder zu kompostieren. Mit diesem Projekt will NEST nicht nur die sowieso schon knappen Rohstoffe auf diesem Planeten schonen, sondern auch neue Verbindungstechnologien für Materialien erforschen.
Selbsttragend dank Leichtbau-Innovationen
„HiLo“ wird das nächste Modul sein, das fertiggestellt wird. Derzeit steht noch ein großer Kran und ein Gerüst an der Ecke von NEST, wo später das sogenannte „High Performance, Low Energy“-Haus die „Krone von NEST“ sein wird. Renderings verraten bereits einen Blick in die Zukunft: Wie ein geschwungenes Tuch wird das Dach auf dem Haus liegen. Es ist selbsttragend, hauchdünn und aus Beton. An der schmalsten Stelle wird die Struktur gerade einmal drei Zentimeter messen. Mit Hilfe eines innovativen, materialeffizienten Schalungssystems wurde ein gespanntes Stahlseilnetz mit aufliegendem Textil als Schalungsform für den noch flüssigen Beton verwendet. Drei Schichten wird das Dach haben: außen eine Hülle aus Beton mit aufgebrachten Dünnschicht-Solarzellen, dann eine Isolation und zum Schluss eine Schicht Sichtbeton.
„Auch bei den Deckenelementen waren wir innovativ: Sie kommen ohne innenliegende Bewehrung aus und sind damit 60 Prozent leichter als herkömmliche Betondecken“, sagt der betreuende Professor Dr. Philippe Block.
Außen wird bei HiLo eine adaptive Solarfassade mit beweglichen Solarmodulen angebracht. Die Module können entweder dem Sonnenlauf folgen, um Energie zu gewinnen und den Innenraum zu verschatten, oder sie geben den Blick nach außen frei, indem sie sich in maximalem Winkel von der Fassade wegklappen. Dabei funktionieren alle Panels unabhängig voneinander.
Prof. Dr. Arno Schlüter ist der Kopf hinter der adaptiven Solarfassade – sein Doktorand Prageeth Jayathissa entwickelte gemeinsam mit dem Forschungsteam die Panels und stellte dabei genau die richtigen Fragen: „Wenn die Umwelt sich ständig verändert, warum ist dann die Architektur der Gebäude so statisch?“ Beim flexiblen und agilen Planen und Bauen konnten Softwareprogramme helfen:
Nicht nur die Solarfassade existiert digital als Modell in Autodesk Fusion 360 – auch das komplette NEST-Gebäude wurde von der Schweizer Firma BIM Facility mit Hilfe von Recap lasergescannt und besteht damit als Digitaler Zwilling in Revit und BIM 360. An die 3.000 Sensoren am Gebäude geben Facilitymanagement-Daten wie Temperatur oder Luftqualität frei und werden über die Plattform Autodesk Forge an das Revit-Modell gegeben. Mit diesen Daten möchte man später Schlüsse für die Bewirtschaftung des Gebäudes erzielen, um mit NEST nicht nur den Bau, sondern auch die Bewohner zu beflügeln.