Kunst am Fjord: Deichman Bibliothek in Oslo als Teil eines nachhaltigen Stadtensembles
- Im umfangreichsten Stadterneuerungsprojekt der norwegischen Geschichte erlebt Oslos historischer Stadtteil Bjørvika einen fundamentalen Wandel.
- Binnen zehn Jahren soll im Projekt „Fjord City“, dessen Teil auch die Bibliothek Deichman und das vor Kurzem eröffnete Munch Museum in Oslo sind, aus einem Industriehafen ein neues Zentrum der Kunst und Kultur entstehen.
- Nachhaltigkeit stand von Projektbeginn an im Fokus des verantwortlichen Ingenieurbüros Multiconsult. Dabei ermöglichten fortschrittliche digitale Technologien die Realisierung ambitionierter Ziele und komplexer Entwürfe.
Willkommen in Fjord City, dem umfangreichsten Stadterneuerungsprojekt in der norwegischen Geschichte. Über mehr als ein Jahrzehnt hinweg wird hier aus einem ehemaligen Containerhafen eine neue Heimat für Kunst- und Kulturbegeisterte geschaffen. Zu den besonderen Attraktionen zählen das einem Eisberg nachempfundene Opernhaus sowie das Edvard-Munch-Museum, das bereits dieses Jahr seine Pforten geöffnet hat.
Zwischen Opernhaus und Museum zieht der modern gestaltete Komplex der 2020 eröffneten Bibliothek Deichman die Aufmerksamkeit auf sich. Grundlage des schlanken Baus mit seiner teilverglasten Fassade, die einen Blick ins Innere gewährt, dem vorspringenden Oberbau und den filigranen, aus Glasdreiecken gestalteten Oberlichtern war die 3D-Technologie zur Gebäudedatenmodellierung (BIM).
Nachhaltigkeit von Beginn an
Nachhaltigkeit war von Beginn an die Vorgabe der Stadt für alle Bereiche des Bjørvika-Entwicklungsprojekts. Ein anspruchsvolles Unterfangen, das dem hauptverantwortlichen Architektenteam von Multiconsult oblag.
Um den Vorgaben bei der Planung und Realisierung der Bibliothek Deichman gerecht zu werden, zog Multiconsult das auf Akustiklösungen spezialisierte Unternehmen Brekke and Strand Akustikk AS, die Mobilitäts- und Transportexperten von Civitas sowie die Architekturbüros Bollinger + Grohmann Lundhagem und Atelier Oslo hinzu. Für den Bereich Energieeffizienz stand der Passivhaus-Standard Pate. Die gesamte Infrastruktur – von den Transportaspekten über den Energieverbrauch bis hin zu den verwendeten Baustoffen – ist auf einen möglichst geringen ökologischen Fußabdruck ausgelegt.
Laut Kristin Olsson Augestad von Multiconsult waren die Umweltziele von Anfang an äußerst ambitioniert.
Bibliothek und Museum sollten nicht nur wenig Energie verbrauchen, sondern auch „50 % weniger Treibhausgase ausstoßen als Standardgebäude“. Dies wurde zum einen mittels Sichtbeton, zum anderen durch sorgfältige Auswahl spezieller Materialien erreicht.
Hierzu gehörten neben CO2-arm hergestelltem Beton und Recyclingstahl auch vorgefertigte BubbleDeck-Hohlkörperdecken. Diese bestehen aus Kugeln aus recyceltem Kunststoff sowie Bewehrungsstahl und senken den Betonbedarf. Ein vollständiger Verzicht auf Beton war zwar nicht möglich, aber auch nicht unbedingt erstrebenswert. Beton kann Wärme speichern und ab bestimmten Außentemperaturen nach außen abgeben, was ihn zu einem wichtigen strategischen Element hinsichtlich der Energieeffizienz macht. Im Falle der Bibliothek Deichman erfolgt diese Wärmeabgabe über die Dachkonstruktion.
Zur Senkung der Treibhausgasemissionen der Bibliothek hat die Stadt Oslo jedoch noch weitere Maßnahmen vorgesehen:
- Betonelemente mit integrierten Wasserleitungen in Wand und Decke, die als energieeffizientes Kühlsystem dienen
- Transparente Verbundstoffe außen zur Einhaltung des Passivhaus-Standards
- Standortwahl neben Norwegens meistgenutztem öffentlichem Nahverkehrshub
- Verzicht auf Parkplätze
Eins mit der Umgebung
Laminierte Wandabschnitte, die das einfallende Sonnenlicht zerstreuen, sorgen im Wechsel mit schmalen Klarglaselementen für eine entspannende Lichtatmosphäre im Inneren. Gleichzeitig minimiert die Isolierung der Fassade die Energieabstrahlung: Der geschätzte Nettobedarf an Energie des gesamten Gebäudes liegt bei gerade einmal 75 Kilowattstunden pro Quadratmeter und Jahr.
Die Fenster der Fassade spiegeln die schmale und längliche Form der Gesamtkonstruktion im Kleinen wider und bieten auf Augenhöhe der Passanten einen ungehinderten Blick in den hell erleuchteten Hauptsaal, der zum Verweilen und Lernen einlädt. Abends erstrahlt das gesamte Gebäude dann in warmem Licht, das die belebten Straßen und Wege in goldenen Glanz hüllt.
Wer die Bibliothek tagsüber durch die Eingänge betritt, die alle in Richtung Stadtzentrum liegen, findet sich inmitten eines raffinierten visuellen Effekts wieder: Diagonale Säulen aus Tageslicht, das über die Dachelemente reflektiert wird, bilden einen Lichthof im Eingangsbereich.
Das Thema Nachhaltigkeit im Sinne einer Erhaltung für zukünftige Generationen begegnete dem Projektteam auch auf andere Weise in Form bedeutender archäologischer Funde – darunter mehrere mittelalterliche Schiffe –, die mehrmals zu Baustopps führten.
Der Schwerkraft getrotzt
Neben den Überraschungen bei den Aushubarbeiten sah sich das Team von Multiconsult auch einzigartigen technischen Herausforderungen gegenüber.
Benannt nach Carl Deichman, der im Jahre 1785 die ersten Werke stiftete, bietet die als Dreieck konzipierte Bibliothek auf fünf Etagen über 450.000 Büchern ein Zuhause. Der große lichtdurchflutete Hauptsaal bildet das Herz der Bibliothek, das alle Etagen miteinander verbindet und sich zu kleineren offenen Séparées erweitert.
Nahe dem Opernhaus am Hafen gelegen, ist die Bibliothek jedoch mehr als nur ein bloßer Ort der stillen Lektüre: Der Keller beherbergt einen Hörsaal mit 200 Plätzen sowie für Freunde des Zelluloids ein Kino, während im Erdgeschoss mit Lesesaal ein Restaurant und ein Café den Gästen aufwarten.
Kreativität war allerdings vor allem ganz oben gefordert.
Ohne sichtbare Stützelemente sticht das auffällige Obergeschoss 18 Meter weit freischwebend hervor und wirft aus etwa 20 Meter Höhe seinen dreiseitigen Schatten.
Im Inneren dieses gewagten Stücks Ingenieurskunst geht es vom hellen Amphitheater aus in den vierten Stock mit einem einmaligen Panoramablick auf Stadt und Fjord. Das schwebende Design erleichtert des Weiteren die Einhaltung der behördlichen Vorgaben, denn so ist vom Hauptbahnhof aus der Blick nach Osten frei für eine erinnerungswürdige Sicht auf das Opernhaus. Mit Stützsäulen wäre dies beispielsweise nicht möglich gewesen.
Anhand von mehr als 50 mittels BIM-Technologie erstellten 3D-Modellen wurde die Sichtlinie immer wieder von Neuem simuliert und überprüft, bis die optimale Lösung unter Berücksichtigung der Tourismus-, Behörden- und Nachhaltigkeitsansprüche gefunden war. Zugleich eröffneten sich hierbei auch noch interessante Gestaltungsmöglichkeiten für das Dach der Bibliothek.
Die hängenden Pyramiden von Oslo
In das rein aus Dreieckselementen bestehende Dach sind speziell ausgerichtete Oberlichter eingelassen, die die einfallenden Sonnenstrahlen als Lichtsäulen effektiv ins Innere des Gebäudes lenken. Doch damit nicht genug: Die Dachfenster wirken zudem geräuschdämmend und fördern so das akustische Erlebnis im Hauptsaal und in den übrigen offenen Arealen der Bibliothek.
Eine umfangreiche Modellierung war nötig, um die komplexe Dachgeometrie in die Realität umzusetzen. Schließlich galt es zu klären, wie sich die unterschiedlichen Materialien, Winkel und Abmessungen auf die Tragfähigkeit des überhängenden Gebäudeteils auswirken würden. Stahl etwa könnte in Schwingung geraten und die Stabilität gefährden, sodass stattdessen lieber auf Beton als Material der Wahl gesetzt wurde. Zu viel davon jedoch hätte wiederum eine Überlastung zur Folge haben und die Einhaltung der projektspezifischen Nachhaltigkeitsziele erschweren können.
Als finale Lösung erwiesen sich über 470 individuell und millimetergenau gefertigte Dreieckselemente, die passgenau zu invertierten Pyramiden zusammengesetzt wurden.
Mehr als 30.000 Bewehrungsträger sorgen für den nötigen Halt zwischen dem Beton und der kaum rechte Winkel aufweisenden Dachstruktur. Mit Reißbrett und Winkelmesser war es hier natürlich nicht mehr getan.
Neue digitale Wege
Herman Bjørn Smith, Chief Digital Officer bei Multiconsult, hegt Zweifel, ob die erfolgreiche Umsetzung des jetzigen Bibliotheksdesigns ohne die 3D-Modellierung und fortgeschrittene digitale Bautechnologien überhaupt durchführbar gewesen wäre.
Für ihn versteht es sich von selbst, dass bei einem prestigeträchtigen Projekt wie diesem, bei dem die Architekten relativ freie Hand haben, innovative und bahnbrechende Ideen mit ganz neuen technischen Lösungen ans Licht kommen. „Irgendwie mussten wir einen Weg finden, die Entwürfe Realität werden zu lassen, und neue Technologien waren der Schlüssel dazu.“
Dieser Prozess verlief fließend, sodass selbst während der laufenden Projektumsetzung noch neue digitale Lösungen eingebunden wurden.
„Unsere Prozesse haben sich gegenüber dem Projektbeginn 2010 nachhaltig verändert“, macht er noch einmal deutlich. Aspekte wie Generatives und Parametrisches Design waren damals noch nicht so weit entwickelt und somit nicht weiter von Bedeutung. Doch mit dem digitalen Fortschritt hielten auch neue Disziplinen und Arbeitsweisen Einzug in die Kreation dieses zukunftsweisenden Bauwerks.