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Virtueller Rundgang: Die Kathedrale Notre-Dame zieht um die Welt

Virtueller Rundgang Notre-Dame

  • Als im Frühjahr 2019 die Kathedrale Notre-Dame in Flammen stand, entstand daraus eine neue Idee: eine mobile Ausstellung, deren virtueller Rundgang das Gotteshaus während der Restaurierungsphase für die Öffentlichkeit zugänglich macht
  • Mithilfe von Virtueller Realität (VR) und Augmented Reality (AR) haucht das französische Start-up Histovery der Ausstellung neues Leben ein
  • Videospieltechnologien sind ein wichtiges Werkzeug, um den Besuchenden die neunhundert Jahre alte Geschichte der Kathedrale näherzubringen und ihnen einen Blick hinter die Kulissen ihrer Restaurierung zu ermöglichen

Am Vorabend des 15. April 2019 verdunkelte eine dicke Rauchwolke den Himmel über Paris. Notre-Dame de Paris, die weltberühmte gotische Kathedrale, stand plötzlich in Flammen. Doch nicht nur das: Mit dem Bauwerk drohten nicht weniger als neun Jahrhunderte französischer Geschichte zu Staub und Asche zu zerfallen.

Was genau den Brand auslöste, ist noch immer unbekannt. Jedoch führte die kaminartige Architektur des Dachs und des Vierungsturms dazu, dass die im 19. Jahrhundert von Eugène Viollet-le-Duc entworfene Konstruktion das Feuer dramatisch beschleunigte. Die Hitze bezwang selbst den aus Eichenholz und Blei bestehenden Dachstuhl im Hauptschiff, der schließlich mit dem restlichen Dach in sich zusammenstürzte.

Rückblende: Bereits gut 170 Jahre bevor sich das Unglück ereignete, hatte Frankreichs Nationaldichter Victor Hugo eine Vorahnung, die er in seinem Roman Der Glöckner von Notre-Dame zu Papier brachte: „Aller Augen hatten sich nach der Höhe der Kirche erhoben. Was sie da sahen, war etwas Ungewöhnliches. Auf dem Gipfel der höchsten Galerie, hoch oben über der Mittelrosette, war eine große Flamme zu sehen, die zwischen den beiden Glockentürmen mit Funkenwirbeln aufstieg.“

Virtueller Rundgang Notre-Dame
Für den virtuellen Rundgang konnten vielschichtige Details mithilfe digitaler Tools geschichtsgetreu repliziert werden. Credit: Histovery.

Fast zwei Jahrhunderte später wurde aus dieser fürchterlichen Vision grausame Realität. Hilflos mussten die Bevölkerung von Paris und ganz Frankreich zusehen, wie mehr als 500 Beschäftigte der Feuerwehr stundenlang gegen die Flammen ankämpften. Schließlich konnten die ikonischen Westtürme gerettet werden, doch der Großteil des Dachstuhls war zerstört. Das Wahrzeichen einer ganzen Nation war stark in Mitleidenschaft gezogen und sofort regte die Politik Maßnahmen zum Wiederaufbau an.

Weit über Grenzen Frankreichs hinaus löste die Tragödie eine Welle der Anteilnahme aus. Solidaritätsbekundungen und großzügige Spenden sowohl von Privatpersonen als auch von Unternehmen und Großkonzernen aus aller Welt fanden ihren Weg nach Frankreich. Vor der Katastrophe zählte die Kathedrale täglich mehr als 30.000 Besuchende – die Gläubigen, die regelmäßig dem Gottesdienst beiwohnen, nicht eingerechnet. Präsident Emmanuel Macron sah sich daraufhin veranlasst, der französischen Bevölkerung feierlich zu versprechen, das Monument bis Ende 2024 vollständig zu restaurieren.

Die Weltreise einer AR-Ausstellung

Eine einzigartige Antwort auf das tragische Unglück bietet die Ausstellung „Notre-Dame de Paris, the Experience“ des französischen Start-ups Histovery. Das Expertenteam für die Ausgestaltung von Veranstaltungen mit immersiven Technologien und Augmented Reality (AR) erstellte einen virtuellen Rundgang, der das Publikum einlädt, in die über neunhundertjährige Geschichte der Kathedrale einzutauchen.

Virtueller Rundgang Notre-Dame
AR-Technologie der neuesten Generation lässt Besuchende die Geschichte des Bauwerks entdecken und erlaubt einen Blick hinter die Kulissen seiner Restaurierung. Credit: Histovery.

Bis heute hat die mobile Ausstellung bei mehr als 20 Museen und Monumenten in Frankreich und Deutschland Station gemacht. Ein exklusiver Sponsoringvertrag mit L’Oréal erlaubte es dem Unternehmen überdies, im französischen Pavillon der Weltausstellung in Dubai sowie im Frühjahr 2022 am Pariser Collège des Bernardins den Rundgang der Öffentlichkeit zu präsentieren. Das nächste Ziel war das National Building Museum in Washington, D.C. Nach einem Besuch in Dresden kehrt die Ausstellung wieder in die USA zurück und ist dort in New Orleans zu sehen, bevor man in den kommenden zwei Jahren an zahlreichen weiteren Orten zu Gast ist.

„Histovery hat den Anspruch, seinen Besucherinnen und Besuchern einen tiefen Einblick in die Geschichte und den Wiederaufbau der Kathedrale zu gewähren“, so der Mitbegründer und CEO von Histovery, Bruno de Sa Moreira. „Wir machen Notre-Dame wieder zugänglich, indem wir eine interaktive Oberfläche mit Augmented Reality verknüpfen – natürlich stützen wir uns dabei immer auf die aktuellsten wissenschaftlichen Erkenntnisse.“

In der Praxis öffnet sich die Tür zum virtuellen Rundgang, indem alle Teilnehmenden ein sogenanntes HistoPad bekommen, ein interaktives Tablet zur Begleitung durch die Ausstellung, mit dem sich die geschichtsgetreuen 3D-Modelle aus jedem Blickwinkel betrachten lassen. Damit lässt sich die visuelle Detailschärfe bestimmen, virtuelle Objekte können bewegt und Türen geöffnet werden und man kann vollständig in die sonst unzugänglichen Bereiche der langen und verwobenen Geschichte des Bauwerks eintauchen. Beim Rundgang durch die Ausstellung können die Besuchenden sogar in der Zeit zurückreisen und interaktiven historischen Szenerien beiwohnen, indem sie bestimmte Stationen mit ihrem Pad scannen.

Virtueller Rundgang Notre-Dame
Mit dem HistoPad können Ausstellungsbesuchende in der Zeit zurückreisen. Credit: Histovery.

„Wenn man die Menschen eine aktive Rolle spielen lässt, fällt es ihnen viel leichter, ihren Wissensdurst zu stillen“, erklärt Edouard Lussan, der Histovery mitbegründet und das HistoPad für den Rundgang durch Notre-Dame entwickelt hat. Bei der Entwicklung des HistoPads verwendete Histovery auf 3ds Max und Maya von Autodesk basierende Softwarelösungen.

„Mit diesen digitalen Tools kann man komplizierte Zusammenhänge verblüffend einfach erklären“, so Lussan. „Und da wir große Mengen an Daten einbinden können, enthält das fertige Produkt im Rundgang eine Fülle interessanter Informationen.“

Kunstschaffende interpretieren historische Ereignisse

Doch Histovery arbeitet nicht nur mit digitalen Hilfsmitteln. Den einzigartigen Blick auf das Weltkulturerbe Notre-Dame de Paris eröffnet insbesondere die gestalterische Mitarbeit von zwölf Künstlern. Sie ermöglichen der Öffentlichkeit einen Einblick in die Fülle der architektonischen Details, historischen Ereignisse und wissenschaftlichen Erkenntnisse, der bisher nur den Fachleuten vorbehalten war. In Zusammenarbeit mit der für die Restaurierung und den Erhalt der Kathedrale zuständigen Behörde wurde dazu der aktuelle wissenschaftliche Stand der Dinge mit Technologien der virtuellen Realität (VR) verknüpft.

Virtueller Rundgang Notre-Dame
Eine digitale Nachbearbeitung der Krönungsszene Napoleons nach einem Gemälde von Jacques-Louis David. Credit: Histovery.

„Die Liebe zum Detail ist es, was die Ausstellung so besonders macht“, erläutert de Sa Moreira. „Deshalb ist es für eine realistische Umsetzung unverzichtbar, eine optimale Kommunikation zwischen den wissenschaftlichen und den gestalterischen Teams zu ermöglichen, weil wir nur so die ganz besondere Wirkung des Projekts erzielen können.“

„Die große Menge an historischen Informationen aus den verschiedenen Epochen, mit nicht weniger als sieben unterschiedlichen wissenschaftlichen Expertengruppen zu koordinieren, stellte eine der größten Herausforderungen für uns dar“, stimmt ihm Lussan zu. „Hinzu kam die schwierige Auswahl der zu behandelnden Themen – und der Notwendigkeit im Rahmen von Produktion und Fortschritt so schnell wie möglich voranzukommen.“

Mehr als ein Jahr lang arbeitete das Team daran, die 21 ausgewählten historischen Ereignisse nachzustellen. Die Entwicklung der Konzepte und die wissenschaftliche Recherche fanden zeitgleich statt und umfasste gut ein halbes Jahr. Laut de Sa Moreira besteht ein entscheidender Vorteil der Verlagerung der Ausstellung in den digitalen Raum darin, dass sie von einem Ort zum anderen transportiert werden kann, ohne Beschädigungen oder Verluste zu riskieren. „Darüber hinaus“, fährt er fort, „kann sie problemlos vervielfältigt werden, sodass sie zeitgleich in Paris und Washington gezeigt werden kann.“

Virtueller Rundgang Notre-Dame
Die Ausstellung bietet der Öffentlichkeit einen bisher nie dagewesenen Einblick in die Fülle architektonischer Details, historischer Ereignisse und wissenschaftlicher Erkenntnisse. Credit: Histovery.

Seit 2013 produziert Histovery bereits die HistoPads und ist dabei darauf bedacht, die Produktions- und Entwicklungsprozesse laufend zu optimieren. Lussan zufolge ist es besonders die Erfahrung des Unternehmens, die dafür gesorgt hat, dass dieses Projekt schon jetzt so erfolgreich verlaufen ist. „Die schiere Datenmenge, die sich aus der langen Geschichte der Kathedrale ergibt, sorgt für eine Projektgröße, die ihresgleichen sucht“, betont er. „Die unterschiedlichen Epochen während eines Rundgangs auf dem HistoPad nachzubilden, erfordert ein enormes Maß an Teamwork.“

Erstmals bietet die Ausstellung „Notre-Dame de Paris, the Experience“ ihrem Publikum nie zuvor gesehene Nachstellungen historischer Ereignisse. Dabei sorgt das HistoPad für schnellen und unkomplizierten Zugriff auf Informationen und bietet eine intuitive Schnittstelle, mit deren Hilfe die Nutzer eingeladen werden, sich genau umzusehen und selbst Teil des historisch-kulturellen Geschehens zu werden. Die „Augmented Tour“ bietet außerdem allen Teilnehmenden die Möglichkeit, dem Rundgang in ihrem eigenen individuellen Tempo zu erkunden – schließlich gibt es in dem facettenreichen digitalen Universum, das Erinnerungen an ein Videospiel weckt, viel zu entdecken.

„Zusätzlich halten wir den virtuellen Rundgang stets mit den neuesten Ergebnissen von der Baustelle der Kathedrale auf dem neuesten Stand“, ergänzt de Sa Moreira. „Die Inhalte werden regelmäßig aktualisiert.“

Virtueller Rundgang Notre-Dame
Die Teams von Histovery benötigten mehr als ein Jahr, um die 21 historischen Ereignisse im Rundgang „Notre-Dame de Paris, the Experience“ nachzustellen. Credit: Histovery.

Eine Bühne für die Kunstgeschichte

Viele, die an dem Rundgang teilnehmen, sind anschließend begeistert: „Das Pad ist eine tolle Idee für eine so lehrreiche und interaktive Tour!“ Laut der französischen Online-Zeitschrift Connaissance des Arts konnte der Rundgang bei der Weltausstellung in Dubai innerhalb von nur 30 Tagen rund 150.000 Besucher gewinnen und so ein breites internationales Publikum von sich überzeugen.

Realisierbar wurde die Ausstellung erst durch die Unterstützung der Softwareanwendungen von Autodesk. Zudem hilft Autodesk beim Wiederaufbau der Kathedrale Notre-Dame selbst, und unterstützt die für die Restaurierung und Instandhaltung des Sakralbaus zuständigen städtischen Behörden. Mithilfe der Produkte von Autodesk für Architekten und Planende, wie etwa BIM 360, konnten digitale Modelle der Kathedrale und ihrer direkten Umgebung angefertigt werden, was den Wiederaufbau des Bauwerks enorm beschleunigt. Ihr Nutzen konnte darüber hinaus bereits in zahlreichen weiteren Bauprojekten von Kathedralen in Frankreich und der ganzen Welt unter Beweis gestellt werden.

„Notre-Dame de Paris, the Exhibition“ zeigt die Komplexität und Vielfältigkeit der Restaurierungsphasen auf und beleuchtet damit gleichermaßen die jahrhundertealte Geschichte der bildenden Künste. Auch weniger augenfällige Kunstrichtungen, wie etwa die Arbeit von Steinmetzen und Steinbildhauern und Glasmachern, bekommen die ihnen zustehende Aufmerksamkeit, indem der Rundgang diese wichtigen Tätigkeiten für das Publikum sichtbar macht. Nur so kann sich an der Ganzheit des Kulturerbes – ebenso wie an der Kathedrale selbst – die ganze Öffentlichkeit erfreuen.

Über den Autor

Maxime Thomas ist ein französischer Fachjournalist im Bereich Radio. Zu seinen Lieblingsthemen zählen die digitale Transformation und ihre direkten Auswirkungen auf Wirtschaft und Handel.

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