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Skandinavische Architektur: Warum die Nordeuropäer so nachhaltig bauen

Ein Beispiel für Skandinavische Architektur in der Göteborger Innenstadt

Was ist das Besondere an skandinavischer Architektur? Die Nordeuropäer sind weltweit führend, wenn es um einen nachhaltigen Baustil geht. Anhand von drei einzigartigen Projekten beschreiben nordische Architekten die Ansätze hinter ihren innovativen, budgetbewussten und umweltfreundlichen Gebäuden – und warum es wichtig ist, diese auf globaler Ebene zu skalieren.

Was macht jenen besonderen Zauber aus, der skandinavischer Architektur innewohnt? Vom städtischen Wohnungsbau bis hin zum Gewerbepark mitten auf dem flachen Land strahlt die gebaute Umwelt im Norden Europas ein beneidenswertes Charisma aus. Dabei ist es nicht nur die Ästhetik, die sie so attraktiv macht – auch in puncto Nachhaltigkeit im Bauwesen haben die skandinavischen Länder die Nase vorn.

Der Leiter der Stockholmer Handelshochschule, Lars Strannegård, brachte es im Interview mit der Financial Times auf den Punkt: Für skandinavische Unternehmen stehe das Bemühen im Vordergrund, „Nachhaltigkeit in sämtliche Abläufe zu integrieren“. Er beruft sich auf seine Landsmännin Greta Thunberg, wenn er sagt: „Die Nähe zur Natur liegt für uns auf der Hand. Sie ist nicht nur die Grundlage für einen Großteil unserer Industrie, sondern auch Teil unserer Kultur.“

Entsprechend hat Nachhaltigkeit für viele Menschen in Dänemark, Finnland, Schweden, Norwegen und Island einen enormen Stellenwert. Skandinavische Architektur besticht durch den Einsatz naturbelassener Werkstoffe wie Holz und Stein. Bei der Planung spielt die optimale Nutzung des Tageslichteinfalls eine ebenso wichtige Rolle wie die Überzeugung, dass Räume flexibel anpassbar und Gebäude weniger für die Ewigkeit errichtet als vielmehr problemlos rückbaubar sein müssen. Farben und Konturen sind oft von Vorbildern aus der Natur inspiriert. Insgesamt ergibt sich eine Ästhetik, die sich auf Vereinfachung, Minimalismus und effiziente Funktionalität als Grundpfeiler stützt und für die Nachhaltigkeit praktisch kein Thema, sondern eine Selbstverständlichkeit ist.

Skandinavische Architektur am Göteborger Gästehafen: Kaj 16 wird vom Erdgeschoss bis zur „Baumkrone“ aus nachhaltigen Materialien gebaut.
Skandinavische Architektur am Göteborger Gästehafen: Kaj 16 wird vom Erdgeschoss bis zur „Baumkrone“ aus nachhaltigen Materialien gebaut. Credit: Dorte Mandrup.

Woher kommt dieser Fokus auf Nachhaltigkeit? Die Vermutung liegt nahe, dass es mit der Kälte zu tun hat. In Ländern mit langen, dunklen Wintern ist die Sehnsucht nach Licht und Wärme besonders stark ausgeprägt und findet Ausdruck in Bauwerken, die beides zelebrieren.

Diese Erklärung greift jedoch zu kurz – meint jedenfalls Noel Wibrand, der beim dänischen Architekturbüro Dorte Mandrup für die digitale Planung zuständig ist. Er macht eher geopolitische Realitäten für den skandinavischen Hang zur Nachhaltigkeit verantwortlich, und zwar insbesondere die Ölkrise in den 1970er Jahren. Der damalige Schock habe zu umfassenden Reformen des Steuersystems und der Bauvorschriften geführt und die Reduzierung des Energieverbrauchs in sämtlichen Phasen des Planungszyklus in den Mittelpunkt gerückt.

Entsprechend nahmen die Entscheidungsträger in der skandinavischen Bauwirtschaft und -politik Nachhaltigkeit und Umweltschutz bereits zu einem Zeitpunkt ernst, als sie anderswo noch als esoterische Randthemen galten. Auch die Vorteile von BIM und Generativem Design wurden sehr früh erkannt und ausgenutzt.

Die in diesem Beitrag präsentierten Projekte der Architekturbüros Dorte Mandrup, White Arkitekterund ARKÍS arkitektar veranschaulichen auf ihre je eigene Weise sehr überzeugend den Erfolg eines Baustils, der Nachhaltigkeit in sämtlichen Phasen von der Werkstoffauswahl über das Building Lifecycle Management bis hin zum Abriss des Gebäudes zum Maß aller Dinge erhebt.

„Diese Projekte zeigen, was sich durch eine konsequent nachhaltige Planung erreichen lässt: eine Architektur mit heilsamer Wirkung, mehr Sicherheit und weniger Verschwendung“, bekräftigt Lynelle Cameron, die als Vice President bei Autodesk für Nachhaltigkeit zuständig ist und die Autodesk Foundation leitet. Die hier vorgestellten Ansätze weisen den Weg in Richtung kohlenstofffreie Wirtschaft und zahlen sich sowohl menschlich als auch finanziell aus.“

Skandinavische Architektur in einer nach Plänen von White Arkitekter gebauten Klinik in Grönland.
In dieser nach Plänen von White Arkitekter gebauten Klinik in Grönland soll die Nähe zur Natur Stress abbauen und Heilungsprozesse unterstützen. Bildquelle: Luxigon. Credit: White Arkitekter.

1. Grönland: Naturnahe und nachhaltige Architektur mit therapeutischer Wirkung

Wer im unwirtlichen Klima Grönlands ein Bauprojekt in Angriff nimmt, darf mit der Natur nicht auf Kriegsfuß stehen. Aus einem Kräftemessen mit der Polarlandschaft kann der Mensch nur als Verlierer hervorgehen.

Beim schwedischen Architekturbüro White Arkitekter, das den Planungswettbewerb für den Bau einer psychiatrischen Heilanstalt gewann, war man sich der Herausforderungen selbstverständlich bewusst: Durchschnittstemperaturen im Minusbereich von Oktober bis Mai, Permafrostböden, heulender Wind, Dauerregen und die endlose Nacht des arktischen Winters sorgen für eine kurze Bausaison; das gesamte Baumaterial musste per Schiff antransportiert werden. Auch deshalb fiel die Entscheidung für ein Holzgebäude.

Der unwirtlichen Umgebung zum Trotz sah der Ausschreibungstext einen Entwurf vor, der sowohl die Patienten als auch das Personal der Einrichtung näher an die Natur heranbringen sollte. Sämtliche Räume, Gänge und öffentlichen Bereiche mussten darauf ausgelegt sein, durch Einbeziehung natürlicher Elemente eine beruhigende Wirkung zu erzeugen, die den Abbau von Stress fördert und Heilprozesse unterstützt.

Skandinavische Architektur unterstützt durch Technologie: Mithilfe von Generativem Design konnte White Arkitekter den Tageslichteinfall maximieren.
Mithilfe von Generativem Design konnte White Arkitekter den Tageslichteinfall maximieren. Bildquelle: Luxigon. Credit: White Arkitekter.

White Arkitekter konnte sich die Expertise eines firmeneigenen Teams mit Spezialisierung auf evidenzbasierte Planung und „heilende Architektur“ zunutze machen. Die Lage des Baugeländes direkt am Wasser und die Synchronisierung eines dynamisches Beleuchtungskonzepts mit dem natürlichen Tageslichtrhythmus kamen dem Projektziel ebenfalls entgegen.

„In Grönland hat man gar keine andere Wahl, als nachhaltig zu planen“, meint Gina Bast Mossige vom Osloer Standort des Architekturbüros, die das Klinikbauprojekt leitete. „Es gibt atemberaubende Schönheit in der Arktis, daher wollten wir den Kontakt mit der das Gebäude umgebenden Landschaft fördern und bewahren. Die Natur kann aber sehr unwirtlich sein: Aufgrund der Witterungsbedingungen muss das Gebäude extreme Kälte, Dunkelheit und starke Regenfälle vertragen können.“

Ein Paradebeispiel skandinavischer Architektur: In der grönländischen Heilanstalt haben Patienten unmittelbaren Zugang zur Natur.
Ein Paradebeispiel skandinavischer Architektur: In der grönländischen Heilanstalt haben Patienten unmittelbaren Zugang zur Natur. Bildquelle: Luxigon. Credit: White Arkitekter.

Mossiges Team bewältigte diese Herausforderungen unter anderem durch den Einsatz von BIM-Technologie. Den Großteil der Planungsarbeiten leisteten die Architekten in ihren Büros in Schweden und Norwegen. Dort verwendeten sie BIM 360 von Autodesk sowohl zur effizienten Kommunikation mit dem Bauherrn als auch zu Modellierung unterschiedlicher Optionen mithilfe von Generativem Design. Letzteres erwies sich als wertvolles Hilfsmittel insbesondere bei der Umsetzung der Vorgaben in Bezug auf Baustatik, Heilwirkung und Nachhaltigkeit sowie zur Maximierung des Tageslichteinfalls.

Durch Zugang zu Freiluftbereichen soll die Einrichtung Patienten zudem beim Bewältigen von Gefühlen der Enge oder Einschränkung unterstützen. Dem Atrium gegenüber liegt ein teilklimatisierter Innengarten, der akustisch vom Rest des Gebäudes isoliert ist und im Wechsel der Jahreszeiten angepasst werden kann.

Die Klinik, deren Entwurf bereits mit einer Auszeichnung in der Kategorie „Future Health“ beim World Architecture Festival sowie einer lobenden Erwähnung beim European Healthcare Design Congress 2019 gewürdigt wurde, soll noch in diesem Jahr fertiggestellt werden.

Nachhaltigkeit beim Bau einer Justizvollzugsanstalt – auch das schafft skandinavische Architektur.
Nachhaltigkeit beim Bau einer Justizvollzugsanstalt – geht das überhaupt? Das isländische Architekturbüro ARKÍS arkitektar erbringt den Beweis. Credit: ARKÍS arkitektar.

2. Island: Eine nachhaltige Haftanstalt als ökologisches Vorzeigeprojekt

Nachhaltigkeit beim Bau einer Justizvollzugsanstalt – wenn diese Rechnung aufgehen soll, müssen ökologische Aspekte sorgfältig gegen andere Faktoren abgewogen werden: Versorgung und Komfort der Insassen, rechtliche und behördliche Vorgaben und Auflagen. Zur Gewährleistung der Sicherheit von Insassen und Personal muss jedes einzelne Bauteil bis hin zu den Türangeln und Befestigungselementen strenge Anforderungen erfüllen.

Diesen Ansprüchen gerecht zu werden, ist schon schwierig genug, wenn man sich nicht noch obendrein Nachhaltigkeitsziele setzt. Für ihren innovativen Ansatz zur Bewältigung komplexer und unkonventioneller architektonischer Herausforderungen wurden die Entwürfe des isländischen Architekturbüros ARKÍS arkitektar für die JVA Hólmsheiði am Stadtrand von Reykjavík zu Recht mit zahlreichen Würdigungen bedacht. In Hólmsheiði sitzen drei unterschiedliche Kategorien von Straftätern ein, für die jeweils unterschiedliche Haftbedingungen und Sicherheitsbedingungen gelten. Als erster Neubau einer Haftanstalt in Island seit dem späten 19. Jahrhundert steht das Bauprojekt zudem im Fokus von Öffentlichkeit, Medien und Politik und wird von Entscheidungsträgern im In- und Ausland mit großem Interesse verfolgt.

Hólmsheiði ist der erste Neubau einer JVA in Island seit Ende des 19. Jahrhunderts und ein gutes Beispiel für nachhaltige, skandinavische Architektur.
Hólmsheiði ist der erste Neubau einer JVA in Island seit Ende des 19. Jahrhunderts und ein gutes Beispiel für nachhaltige, skandinavische Architektur. Credit: ARKÍS arkitektar.

Die von der isländischen Regierung vorgegebenen Nachhaltigkeitsziele betrafen erstens die Minimierung der Kohlenstoffbilanz, zweitens die Kosteneffizienz des Gebäudes in Bezug auf Energieverbrauch und Wartung sowie drittens die Förderung sozialer Nachhaltigkeit durch proaktive Verbesserung der Lebensqualität der Insassen. Darüber hinaus sollte das Bauvorhaben als Pilotprojekt für den Einsatz von BIM-Technologie im öffentlichen Sektor dienen.

In Hólmsheiði sind Straftäter mit kurzen Haftstrafen und Untersuchungshäftlinge untergebracht; außerdem beherbergt die Anstalt das bislang einzige Frauengefängnis des Landes. Für die drei Populationen gelten unterschiedliche Vorgaben, und vor allem müssen sie streng voneinander getrennt werden. In allen drei Fällen muss zudem ein angemessenes Gleichgewicht zwischen Freiheitsentzug, menschenwürdiger Behandlung und dem Ziel der Wiedereingliederung in die Gesellschaft gewährleistet sein.

Entwürfe für die JVA im skandinavischen Architektur-Stil
Verschiedene Entwürfe für die JVA wurden anhand von Simulationen auf Erfüllung bestimmter Vorgaben für Sicherheit, Luftqualität usw. getestet. Credit: ARKÍS arkitektar.

„Das ist eine interessante Kombination von Herausforderungen, die viele Fragen aufwirft“, berichtet der Geschäftsführer von ARKÍS, Þorvarður Lárus Björgvinsson. „Wie plant und gestaltet man eine Umgebung, die den Ansprüchen der unterschiedlichen Mikrogemeinschaften gerecht wird, die sich in einem Gefängnis bilden? Wir haben verschiedene Entwürfe anhand von Simulationen auf die Erfüllung bestimmter Vorgaben für Sicherheit, Werkstoffe, Luftqualität und Energieverbrauch getestet. Grundsätzlich kommen in Gefängnissen genau die gleichen Systeme zum Einsatz wie in anderen Gebäuden auch – nur dass zusätzlich eben auch Sicherheits- und Überwachungssysteme berücksichtigt werden müssen.“

„Hinzu kommt, dass der Innenausbau keinerlei Schwachstellen aufweisen darf“, so Björn Guðbrandsson von ARKÍS. „Da kann man nicht einfach jedes Mal ein neues Loch bohren, wenn irgendwo ein Problem auftaucht. Jede Änderung am Bauplan muss auf potenzielle Risiken überprüft werden. Die BIM-Technologie hat uns wirklich sehr dabei geholfen, diese teilweise widersprüchlichen Anforderungen zu bewältigen.“

Nachhaltigkeit ist ein Fokus in der skandinavischen Architektur
Statt Glas und Stahl werden im Mischnutzungsprojekt „Kaj 16“ einheimische Hölzer, Gräser und Sträucher verbaut. Credit: Dorte Mandrup.

3. Schweden: Beim größten Holzbau in Europa setzt man auf Nachhaltigkeit

Ein Hochhaus, das statt der Fassade aus Glas und Stahl eine einladende Holzästhetik präsentiert? Auch das ist machbar, wie das Team hinter dem Projekt „Kaj 16“ zeigen will. Das mehrstöckige Mischnutzungsgebäude, das gerade nach Plänen des dänischen Architekturbüros Dorte Mandrup in der Göteborger Innenstadt direkt am Wasser entsteht, soll als größter Holzbau in Europa über dem Hafengebiet Lilla Bommen thronen.

Das durchsichtige Erdgeschoss ist als Einkaufs- und Gastropassage geplant, die die Fußgängerzone mit dem Kai verbinden soll. Darauf prangt eine ganz aus Holz gebaute „Baumkrone“ mit Büroräumen und Wohneinheiten. Verbaut werden unterschiedliche einheimische Hölzer sowie Gräser und Sträucher, die unter den mikroklimatischen Bedingungen verschiedener Höhenlagen gedeihen. Das Erdgeschoss besteht weitgehend aus rückgewonnenem Beton und Glas aus dem Abriss des Vorgängergebäudes. Als wenn den Nachhaltigkeitskriterien im Bauwesen damit noch nicht Genüge getan wäre, sieht der Entwurf obendrein eine Evolution des Gebäudes im Laufe der Jahrzehnte vor.

Skandinavische Architektur der Spitzenklasse: In Göteborg entsteht gerade der größte Holzbau in Europa
Mithilfe von Generativem Design ließen sich die Auswirkungen der Verwitterung an der Holzfassade des Projekts „Kaj 16“ vorhersagen. Credit: Dorte Mandrup.

„Der Lebenszyklus von Gebäuden ist ein weiterer Aspekt ihrer Nachhaltigkeit, den wir bei diesem Projekt in den Fokus rücken wollten“, erläutert Noel Wibrand. „Traditionell war es so, dass Gebäude zu einem bestimmten Zweck geplant und errichtet wurden. Fünfzig Jahre später mussten sich dann andere um den Abriss kümmern. Stattdessen gestalten wir mithilfe von Generativem Design ein Gitternetz, das dem Bau mehr Flexibilität verleiht.“

Mit cloudbasierten Tools entwarfen Wibrand und sein Team modulare Optionen, die eine einfache Umwandlung der Innenräume ermöglichen, sodass Gewerberäume zu Wohneinheiten umfunktioniert werden können und umgekehrt. Generatives Design vereinfachte die Analyse der Auswirkungen unterschiedlicher Witterungsbedingungen wie Sonnenlicht, Wind, Kälte und Regen auf den Energiebedarf des Gebäudes sowie die Prognose der Auswirkungen zukünftiger Verwitterung auf die Holzfassade. Sogar für den letztendlichen Abriss des Gebäudes wurden Pläne entworfen, damit zukünftige Generationen das Gelände zu anderen Zwecken verwenden können.

Wie die beiden anderen vorgestellten Bauprojekte ist auch „Kaj 16“ ein Paradebeispiel für eine datengestützte Planung, die mit den Werten der skandinavischen Architektur im Einklang steht und sie auf innovative, kosteneffiziente und umweltfreundliche Weise realisiert.

Über den Autor

Mark de Wolf ist freier Journalist und preisgekrönter Copywriter, der sich auf Technologie-Themen spezialisiert hat. Er wurde im kanadischen Toronto geboren, beschreibt sich selbst als „Made in London“ und lebt heute in Zürich. Sie erreichen ihn online unter markdewolf.com.

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