Natürlich technisch – Wie Pflanzen und Tiere die Robotik inspirieren
In dem interdisziplinären Projekt „Growbot“ arbeiten Biomechaniker, Chemiker und Ingenieure an Robotern, die wie Pflanzen klettern und wachsen sollen. Es ist nicht das erste dieser Art. Immer wieder bedient sich die Robotik an der Grundlagenforschung der Biologie. Dabei hat Technik die Natur teilweise längst überholt.
Thomas Speck hat alle Tarzan-Filme gesehen, und alle haben sie einen Fehler. Der Professor für Biomechanik und -mimetik und Direktor des Botanischen Gartens der Universität Freiburg sagt, Tarzan hätte niemals an Lianen schwingen können. „Wenn überhaupt, dann hätten das Luftwurzeln sein müssen.“ Speck ist über Skype zugeschaltet, hinter ihm eine riesige Bücherwand, er muss nur den Arm ausstrecken, um nach einem der Bücher zu greifen. In seinem Büro hat er alle Pflanzen stehen, über die er gearbeitet hat, erzählt er. Eine davon ist die Blüte einer Strelitzie aus Japan. Sie ist nicht echt – und sieht doch so aus, als wäre sie es. So sehr, dass nicht einmal der Experte selbst auf Anhieb erkennt, dass sie künstlich ist.
Speck befasst sich in seiner Forschung mit Pflanzenbiomimetik und gilt als führender deutscher Wissenschaftler im Bereich der Bionik. Aktuell ist er an einem EU-geförderten Projekt beteiligt und soll Roboter zum Klettern bringen – inspiriert von den Bewegungsmechanismen von Kletterpflanzen. Wie Lianen sollen sich miniaturisierte 3D-Drucker auf Oberflächen verankern, darauf wachsen und sich bewegen. Für die Entwicklung dieser sogenannten „Growbots“ arbeiten Forscher aus verschiedensten Disziplinen und Ländern zusammen. Barbara Mazzolai, Direktorin am Zentrum für Micro-BioRobotics des Istituto Italiano di Tecnologia in Pisa, koordiniert das Projekt.
3D-Drucker, die klettern können
„Einer unserer Roboter soll eine Art Ranke aussprühen“, erklärt Speck. Mit Polymerchemiker Andreas Lendlein vom Institut für Biomaterialforschung am Helmholtz-Zentrum Geesthacht entwickeln Speck und sein Team 3D-Drucker, die sich mit Polymerfäden autark fortbewegen. Die Idee ist, dass diese sich an einem Gegenstand verankern, kontrahieren und so den Roboter bewegen. „Bei Vorgängerrobotern hatten wir bislang oft den Fall, dass sie immer zum Erdboden zurückkehren mussten, um Distanzen zwischen hohen Objekten zu überbrücken. Das wollten wir vermeiden“, sagt Speck. Gemeinsam mit Lendlein und dem Botaniker Nicholas Rowe aus Montpellier in Südfrankreich untersucht er, unter welchen Umwelteinflüssen diese Polymerfäden sich steuern lassen, also abhängig von Licht, Feuchtigkeit und Wärme.
Der Growbot eigne sich zunächst vor allem für Kontrollaufgaben, weniger für Serviceleistungen. Ausgestattet mit Kameralinsen und Sensoren könnte er zum Beispiel in Städten wie New York prüfend zwischen Häusern an Trägerkonstruktionen entlanghangeln und Stromleitungen prüfen. Denkbar wären auch Einsätze bei archäologischen Grabungen oder Bergungsarbeiten. Überall dort, wo es für Menschen zu gefährlich würde, könne man, so Speck, „zehn kleine Growbots mit Wärmesensoren reinschicken, um zu gucken: Ist da noch jemand?“
Einen ähnlichen Ansatz gab es im Jahr 2012. Auch hier war Robotik-Expertin Barbara Mazzolai aus Italien die treibende Kraft. Sie entwickelte mit ihrem Team den „Plantoiden“, einen Roboter, der aussieht wie eine kleine Rakete, das Wurzelwachstum von Pflanzen imitiert und sich in die Erde bohrt. Auch hier arbeiteten die Forscher mit 3D-Druckern und bestückten die künstlichen Wurzeln mit Sensoren, um die chemische Zusammensetzung des Untergrunds, den Säuregrad und die Feuchtigkeit zu messen.
Am Massachusetts Institute of Technologie (MIT) galt das Pflanzenwachstum ebenfalls als Inspirationsquelle für die Konstruktion eines flexibel arbeitenden Industrieroboters. Ingenieure konzipierten ein Getriebe mit Ketten, einer herkömmlichen Fahrradkette nicht unähnlich, nur mit dem Unterschied, dass die Einheiten der Kette durch Motoren ineinander verschränkt und verriegelt werden und einen starren Strang formen.
Verschränkung von Artifiziellem und Natürlichem
„Man meint immer, Pflanzen seien unbeweglich, aber das liegt nur daran, dass sie sich in Zeitskalen bewegen, die wir gar nicht wahrnehmen“, sagt Thomas Speck. „Mit Zeitrafferaufnahmen kann man genau hinsehen. Und dann merkt man, dass da richtig Action ist.“ Es ist leicht, ihm das zu glauben, und noch leichter ist es, sich anstecken zu lassen von seiner Begeisterung für etwas, was man täglich als selbstverständlich und gegeben erachtet. Der Efeu am Nachbarhaus, der an der Wand rankt, die Bäume, deren Blätter der Wind kitzelt, all das muss irgendwann gewachsen sein und war nicht immer einfach da.
Thomas Speck meint, vielen Menschen fehle der Bezug zur Wahrnehmung von Natur. Die Natur als Begriff sei stark geprägt von Märchen und Disneyfilmen, „symbolisch überhöht“ gar. Botanische Gärten würden mit riesigem Aufwand gepflegt, um ein Gefühl von Natur zu vermitteln. Aber eben nur ein Gefühl. Im Grunde sind sie höchst artifiziell. Andererseits: was macht das schon? Als Bioniker ist Speck ständig in der Symbiose von Artifiziellem und Natürlichem verschlungen. Er erforscht das Leben, um die Technik zu bereichern. Und sind die Analysen vollzogen, Ansätze und Umsetzungen gefunden, so geht die Technik meist weit über das hinaus, was sie ursprünglich zu imitieren versuchte. Technik, und so auch die Robotik, bedient sich der Natur, um Daseinsformen nach eigenen Gesetzmäßigkeiten zu finden und zu bauen.
Erkennbar wird dieser Opportunismus bei Robotern, die sich an Tieren orientieren. „Ganz oft wird so getan, als würde man Biomimetik betreiben und am Ende ist es keine“, sagt Tom Weihmann, Zoologe von der Universität Köln. Er meint damit die Freiheit der Ingenieure, sich zwar von „biologischen Designs“ inspirieren zu lassen, letztlich aber bauen zu können, wie und was beliebt. Dennoch wurde in den vergangenen Jahren eine ganze Reihe Roboter konstruiert, von denen ein Teil auf Erkenntnissen biologischer Grundlagenforschung basiert.
Vorbild ist, was kriecht, schwimmt, fliegt, läuft und krabbelt – um dann programmiert und trainiert zu werden für die wildesten Umweltbedingungen. Roboter müssen potentielle Temperaturen von mehr als 40 und minus 40 Grad aushalten und sind Gegebenheiten ausgesetzt, bei denen Tiere dahinraffen würden. Bei Marsexpeditionen zum Beispiel, wie das vierbeinige Modell eines Raumfahrt-Lander der NASA zeigt. Der Lander wurde mit Generativem Design entworfen, einer Methode mithilfe Künstlicher Intelligenz und Cloud Computing. Dabei entstehen Formen mit teils an die Natur angelehnten organischen Strukturen, ressourcenschonend modelliert mit möglichst minimal notwendigem Material.
Es gibt libellenähnliche Drohnen, teilautonome Flughunde, hydraulisch angetriebene Vierbeiner mit Reflexalgorithmen, Tentakelgreifarme aus Silikon, polymerbasierte Tausendfüßler, gelenkige Radlerspinnen. Tom Weihmann interessieren vor allem kleine Krabbler. Der Zoologe spezialisiert sich auf die Lokomotion und Bewegungsdynamik von Gliederfüßern, auch Arthropoden genannt. Vor zwei Jahren hat er eine Studie publiziert, deren Ergebnisse unter anderem die Entwicklung energiesparender Fortbewegungsmechanismen von laufenden Robotern vorantreiben sollen. Darin hat er nachgewiesen, dass die Anzahl der Beinpaare einen erheblichen Einfluss auf mögliche Laufdynamiken und damit den Energiehaushalt hat.
Seine Versuchstiere waren Schaben. Anders als bei langsamer Fortbewegung desynchronisieren sie die Aktivität ihrer sechs Beine. „Bei hoher Laufgeschwindigkeit erzeugt jedes davon seine Kraft zeitlich versetzt zu den anderen“, erklärt Weihmann. Das wiederum begünstigt eine energieeffiziente Stabilität und Koordination bei schneller Fortbewegung. „Im Energieverbrauch sind die vierbeinigen und zweibeinigen Roboter immer noch schlechter als ihre biologischen Vorbilder“, sagt Weihmann. „Das, was die Biologie beitragen kann, sind genau diese Mechanismen, die Tiere über hunderte von Millionen von Jahren evolviert haben.“
Die künstliche Adaption überholt das Original zwangsläufig, muss das vermutlich sogar, um Orte zu erschließen und Dienste zu leisten, die hybride Fähigkeiten erfordern. Thomas Speck sagt, man tendiere dazu, die Grenze zwischen toten und lebendigen Systemen aufzulösen. Die Frage, die ihn, den Bioniker, dabei beschäftigt, ist: Wie weit können wir, wie weit sollten wir gehen?