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Für eine nachhaltige Stadtentwicklung: Megaprojekt in Stockholm macht digitales Bauen salonfähig

Foster + Partners

In einem schwedischen Infrastruktur-Großprojekt wird eines der zentralen Verkehrsknotenpunkte Stockholms saniert: Slussen. Mit Hilfe neuer Technologien zur Digitalisierung im Bauwesen sollen vor allem Fußgänger und Radfahrer von der Umgestaltung profitieren – denn das Areal soll grüner und nachhaltiger werden, für eine nachhaltige Stadtentwicklung Stockholms.

Slussen ist nicht nur das schwedische Wort für “Schleuse”, sondern auch der Name eines der zentralen Quartiere Stockholms. Wo im Jahre 1643 eine Schleuse gebaut wurde, um den Mälarsee von der Ostsee zu trennen, befindet sich heute einer der meistgenutzten Verkehrsknotenpunkte der schwedischen Hauptstadt. Zwischen geschäftigem Treiben und Großstadtlärm teilen sich Tag für Tag Unmengen an PKWs, Bussen, Fährschiffen, Radfahrenden und Fußgänger den ohnehin schon eng bemessenen Platz zwischen Betonfundamenten und Baustellen.

Und nun entsteht mitten in all dem Trubel ein gewaltiges Bauprojekt, das im Begriff ist, die Erscheinung der Stadt nachhaltig zu verändern: Das Slussen-Quartier soll dem Bedarf Radfahrender und Fußgänger angepasst und durch Digitalisierung umweltbewusst und nachhaltig neugestaltet werden. Mit Hilfe innovativer Technologien werden die komplexen Arbeitsbereiche zahlreicher Entwicklungs-, Ingenieurs-, Architektur- und Bauunternehmen sauber aufeinander abgestimmt, damit das Großbauprojekt nach einer Gesamtlaufzeit von 17 Jahren auch die erhofften Früchte trägt.

Mit dem geplanten Projektabschluss im Jahre 2025 wird Stockholm nicht nur über einen belastbaren Verkehrsknotenpunkt für Pendler verfügen, sondern auch dem künftigen Tourismusaufkommen gewachsen sein. Dabei soll die Digitalisierung während des gesamten Bauvorhabens eine Schlüsselrolle einnehmen.

Rendering Slussen-Projekt Stockholm
Rendering des neuen Slussen-Projekts. Die Topografie der gesamten Umgebung wird sich dabei stark verändern. Beispielsweise muss die in die Jahre gekommene, mehrspurige Straßenbrücke neuen Ideen weichen. Credit: ELU/Tikab

Eine Schleuse im Fokus der Öffentlichkeit

Das Slussen-Projekt ist eines der größten Infrastrukturprojekte einer europäischen Großstadt und schlägt mit rund 15,5 Milliarden Schwedischen Kronen (etwa 1,5 Milliarden Euro) zu Buche. Ziel ist es, die komplexen Beschaffenheiten von Boden und Küstenlinie des Quartiers mit den Schlagadern der großstädtischen Verkehrsinfrastruktur auf einer Fläche von 70.000 m² in Einklang zu bringen.

Seit Errichtung der Schleuse ist es nicht das erste Mal, dass dieses Gebiet renoviert werden soll. In einer umfassenden Neugestaltung im Jahr 1935 wurde das Quartier um einen massiven, zylindrischen Bürokomplex mit einem ausgeklügelten Straßen- und Brückensystem auf Vordermann gebracht. Seit Mitte der 2000er jedoch sanken die Fundamente zunehmend ab, und auch den Betonstrukturen war anzusehen, dass sie über die Jahrzehnte hinweg Wind und Wetter ausgesetzt waren. Nun entschied sich die Stadt Stockholm, das ganze Quartier einzustampfen – und damit den Weg freizumachen für ein völlig neues und zukunftsweisendes Konzept.

Das Megaprojekt steht unter der Schirmherrschaft der Stadt Stockholm, wobei die jeweiligen Zuständigkeiten, die parallel zum laufenden Baufortschritt geplant und umgesetzt werden, unter einer Reihe namhafter Kollaborationspartner aufgeteilt sind. So erarbeitet das britische Architekturbüro Foster + Partners mit anderen Vertragspartnern den Masterplan, während die schwedischen Firmen White Arkitekter für die Landschaftsarchitektur und ELU für die technische Beratung verantwortlich sind.

Nachhaltigkeit in der Stadtplanung

Geplant ist unter anderem ein drastischer Wandel in der Topografie des Quartiers, beispielsweise durch den Abriss der in die Jahre gekommenen mehrspurigen Straßenbrücke und der Kleeblatt-Straßenkreuzung, die in den 1930er-Jahren errichtet worden waren. Stattdessen soll das Hauptaugenmerkt auf ein neu entstehendes kulturelles Zentrum im Herzen der Großstadt Stockholm gelenkt werden: Museen werden Schulter an Schulter mit Einkaufsmöglichkeiten stehen und in neue Fußgängerzonen, Parkanlagen und andere stadtplanerischen Elemente eingebunden werden, die den Zugang und die Bewegung zu Fuß begünstigen sollen.

Jedoch bringt es auch gewisse Probleme mit sich, wenn ein Projekt so sehr im Fokus der Öffentlichkeit steht. Mit der zentralen Lage und seiner langen Geschichte ruft das Gelände immer wieder nicht nur Vertreter der Presse und der Politik auf den Plan, sondern auch Kulturschaffende und Vertreter von Kulturerbeverbänden. Zahlreiche Architekten und Akademiker in ganz Schweden und darüber hinaus haben ihre Meinungen zu dem Projekt kundgetan – und somit wächst der Druck auf die erfolgreiche Umsetzung des öffentlichen Großprojekts zusehends.

Entwurf Slussen Stockholm
Das Slussen-Projekt ist mit 15,5 Milliarden Schwedischen Kronen (etwa 1,5 Milliarden Euro) eines der größten Infrastrukturprojekte Europas. Credit: White Arkitekter.

Ein kolossaler Komplex

Im Gegensatz zu anderen kostspieligen Großprojekten stellt die Topografie des Slussen-Projekts eine ganz besondere Herausforderung dar, denn durch den Umbau des Geländes muss eine Vielzahl infrastruktureller Gegebenheiten auf engstem Raum unter Dach und Fach gebracht werden: Ein komplexes neuronales Geflecht aus Straßen, Bahntrassen, Kanälen, Rad- und Gehwegen sowie Brücken und Unterführungen fügt sich an das Axon der alten, zentralen Schleusenstruktur.

Darüber hinaus muss die neue Schleuse (schwedisch: Nya Slussen) allem standhalten können, was die Natur ihr entgegenwirft. Zwar sehen die städtischen Nachhaltigkeitsziele in Stockholm vor, dass der motorisierte Verkehr in der Region von derzeit rund 60.000 auf nur noch 20.000 Fahrten pro Tag reduziert wird, der Klimawandel macht sich jedoch auch in Schweden bemerkbar: Die zunehmend extremer werdenden Wetterereignisse führen zu immer häufigeren Überflutungen in der Umgebung des Mälarsees, immerhin Schwedens drittgrößter See. Dies stellt wiederum eine Bedrohung für die Kläranlage in Uppsala dar, daher sind weitgreifende Maßnahmen zur Wasserabführung durch die Schleuse ein dringend notwendiger Teil des Plans.

„Vielmehr muss es darum gehen, dass unser neues Slussen-Quartier den Blick auf nachhaltige Stadtentwicklung fördert.” Gustav Jarlöv, White Arkitekter

Zusätzlich muss die Arbeit von Hunderten Vertragspartnern und Subunternehmern koordiniert und kommuniziert werden, die gleichzeitig an den verschiedenen Komponenten der Großbaustelle arbeiten. In der Summe all dieser Faktoren entsteht ein Bauvorhaben von kolossaler Komplexität, das eigentlich keinen Spielraum für Fehler zulässt.

„Stockholm steht heute vor anderen Herausforderungen und dadurch haben sich auch die Zielsetzungen verändert“, bestätigt Gustav Jarlöv, der für White Arkitekter in Stockholm vor Ort ist. „Es ist nicht genug damit getan, die Kapazität für den Pendelverkehr zwischen den nördlichen und südlichen Bezirken der Stadt zu erhöhen. Vielmehr muss es darum gehen, dass unser neues Slussen-Quartier den Blick auf nachhaltige Stadtentwicklung fördert. Deshalb sorgen wir nicht nur für einen effizienteren Verkehrsfluss an diesem Nadelöhr, sondern entwickeln gleichzeitig einen für Besucher attraktiven Ort mit kulturellem Mehrwert.“

Jarlöv räumt ein, dass der große öffentliche Druck auf dieses Projekt der Umsetzung nicht gerade zuträglich ist: „Es ist nicht leicht, alle Beteiligten dazu zu bringen, an demselben Strang zu ziehen. Das ist bei Großprojekten grundsätzlich schwierig, aber zum Glück haben wir technologische Hilfsmittel, die uns bei diesen Herausforderungen unterstützen.“

Mehr verfügbare Daten dank BIM

Vor dem Einsatz digitaler Technologien stellte die Verfügbarkeit und Visualisierung der Datensätze eine massive Herausforderung für alle an einem öffentlichen Großprojekt Arbeitenden dar. Zum Beispiel wurden bei der früheren Renovierung des Slussen-Quartiers in den 1930er-Jahren über 3.000 Planzeichnungen von Hand erstellt. Für den derzeitigen Entwurf hingegen wären mindestens 15.000 Zeichnungen für die Planungskoordination von Nöten.

Stattdessen erstellte das Team um Jarlöv von White Arkitekter gemeinsam mit dem technischen Ingenieurbüro ELU insgesamt 35 3D-Modelle mit extrem hoher Detaildichte und verwendete dafür Softwarelösungen von Autodesk – unter anderem InfraWorks, Revit, Civil 3D und BIM 360 Design.

Die digitalen Simulationen ermöglichen es den federführenden Architektur- und Ingenieurbüros, detailgetreue und tagesaktuelle Datensätze mit den vielen anderen am Projekt arbeitenden Teams zu teilen. Mit Hilfe der 3D-Modelle lässt sich außerdem der Fortschritt am Bau auch für die übrigen Teilhaber der Stadt Stockholm und alle anderen, möglicherweise weniger technikaffinen Interessierten anschaulich visualisieren.

Durch Eingliederung der Autodesk Software können die Rendergrafiken den aktuellen Fortschritt an der Planung sogar immersiv abbilden. Credit: ELU/Tikab
 
Mit Hilfe von 3D-Rendergrafiken können die an der Planung Beteiligten alle relevanten Daten auf den neuesten Stand bringen und an die anderen Planungs- und Bauteams weitergeben. Credit: ELU/Tikab

Der Projektleitung zufolge lieferte die Digitalisierung den entscheidenden Beitrag, um das ganze Vorhaben auf Kurs zu halten. „Wenn ich auf den Verlauf der letzten zehn Jahre zurückblicke, kann ich mir nicht vorstellen, wie wir das Projekt ohne die Hilfe der Digitalisierung im Bauwesen hätten umsetzen sollen“, resümiert Dan Svensson, der als Abteilungsleiter bei ELU für das Slussen-Projekt verantwortlich ist.

Es sei eine glückliche Fügung des Schicksals gewesen, so Svensson, dass durch BIM-Anwendungen und andere Modellierungssoftware die notwendigen technologischen Neuerungen genau zum richtigen Zeitpunkt über das ohnehin komplexe und damals noch in den Kinderschuhen steckende Projekt hereinbrachen.

„Wir renovieren nicht nur einen Verkehrsknotenpunkt“, fährt Svensson fort. „Dies ist ein groß angelegtes Stadtsanierungsprojekt mit allem, was an Infrastruktur dazugehört: Einzelhandel und Gastronomie, ÖPNV-Anbindung, Brücken, Promenaden und Parkanlagen – und das alles auf der geringen uns zur Verfügung stehenden Fläche. Hierbei haben wir keine architektonischen Anknüpfungspunkte wie bei anderen Projekten. Jeder einzelne Quadratmeter ist in jeglicher Hinsicht neu und einzigartig.“

Digitale Infrastruktur

Durch seine ungewöhnlichen Eigenschaften, so Svensson, biete das Slussen-Projekt die idealen Voraussetzungen, um die neuesten technologischen Errungenschaften der Digitalisierung in Planung und Bauwesen am Objekt auszuprobieren. Als Projektleiter sei ihm bewusst, dass ihm die ganze Welt dabei zusieht, und wenn so viel von einem positiven Ergebnis abhänge, dürfe die Einbindung eines papierlosen Projektmanagements ganz einfach nicht scheitern. „Eines Tages“, fasst er zusammen, „werden wir möglicherweise auf unsere heutige Planung zurückblicken und sagen, dass dies der Moment war, an dem sich das industrielle Bauwesen endlich für die Digitalisierung entschied.“

Damit sich die Digitalisierung bei Bauprojekten vollends durchsetzen kann, so glaubt Svensson, müsse sich allerdings die Benutzerfreundlichkeit entscheidend verbessern. Das Bauwesen sei ein großes Zelt, erklärt er, und nicht alle Ebenen und Bereiche seien gleichermaßen offen für die Nutzung digitaler Technologien. Er sei in seinem Berufsleben unzähligen Leuten aus unterschiedlichen Fachbereichen begegnet, die der technologischen Entwicklung nicht trauen oder sich dagegen sträuben. Der einzige Weg, mit dem Fortschritt zu gehen, sei demnach, verstärkt in Benutzererfahrung und in Maßnahmen zur branchenübergreifenden Weiterbildung zu investieren.

Ob das Slussen-Projekt damit gewissermaßen als Schlüsselereignis für die Digitalisierung im Bauwesen gelten kann, müssen die Historiker in der nahen oder ferneren Zukunft entscheiden. Mit Sicherheit aber weist es Klienten, Vertragspartnern und Anbietern von Softwarelösungen bei zukünftigen Großbauprojekten den Weg: Denn wenn es darum geht, mit Hilfe digitaler Technologien die täglichen Arbeitsabläufe am Bau zu koordinieren und zu vereinfachen, sollte man nicht warten, bis sich die Schleusentore direkt vor einem schließen.

Über den Autor

Mark de Wolf ist freier Journalist und preisgekrönter Copywriter, der sich auf Technologie-Themen spezialisiert hat. Er wurde im kanadischen Toronto geboren, beschreibt sich selbst als „Made in London“ und lebt heute in Zürich. Sie erreichen ihn online unter markdewolf.com.

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