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Pilze, Holz und Rezyklate – wie nachhaltige Baustoffe die Architektur revolutionieren

Alternative Baustoffe im Bauwesen: Hier am Beispiel der Waldkliniken in Eisenberg, Thüringen

Der Bausektor ist für fast 40 Prozent der globalen CO2-Emissionen verantwortlich, Ressourcen wie Sand für die Herstellung von traditionellen Baustoffen wie Beton sind endlich. Dabei gibt es längst Alternativen und Ideen für nachhaltige Baustoffe sowie eine effiziente Kreislaufwirtschaft.

Es ist Deutschlands höchstes Holzhochhaus: nur 34 Meter streckt es sich in den Himmel. Das „Skaio“ steht in Heilbronn, mit einer Fassade aus Aluminiumplatten. Bodentiefe Fenster durchbrechen die hellgraue Verkleidung wie Waben einen Bienenstock. Lange wird es nicht dauern, bis ein anderer Holzturm die 34 Meter überboten haben wird. Aber es ist auch nicht die Größe, die „Skaio“ und den Berliner Architekten Kaden + Lager 2021 den Deutschen Nachhaltigkeitspreis Architektur eingebracht hat. Das Gebäude ist ein Wegweiser für mehr Nachhaltigkeit im Bausektor, ein Modellprojekt für das Zusammenspiel aus bedarfsgerechter Planung, urbaner Nachverdichtung und klimafreundlicher Umsetzung. Verklebt wurde hier nichts. Alle Materialien können laut Kaden + Lager irgendwann wieder auseinandergeschraubt und verwendet werden.

Ausgezeichnet mit dem Deutschen Nachhaltigkeitspreis Architektur 2021: Das 34 Meter hohe Holzhochhaus „Skaio“ in Heilbronn. Credit: Höfele
 
2020 ging die Auszeichnung an die Alnatura-Zentrale in Darmstadt mit einer Fassade aus dem ökologischen Baustoff Stampflehm, entworfen von haascoozemmrich Studio2050. Credit: Roland Halbe

Ein optischer Sonderling ist „Skaio“ nicht, und nach Holz sucht der Außenstehende auf den ersten Blick vergeblich. Holz darf in Deutschland auf Grund der Brandschutzverordnung bei mehrgeschossigen Gebäuden nicht zur Fassade verbaut werden. Deshalb Aluminium. Gerüst und Treppenhaus sind aus Stahlbeton. Alles andere aber: Holz. Der nachwachsende Rohstoff taucht als alternativer Baustoff im Bauwesen immer häufiger als Heilsbringer klimapositiven Bauens in den Medien auf und tritt als willkommener Gegenspieler des inzwischen in Kritik geratenen Betons in den Ring. Holz reguliert die Luftfeuchtigkeit, absorbiert Schadstoffe und eignet sich für Außen- und Innenbereiche gleichermaßen.

Gegen Abrisskultur und Wegwerfgesellschaft

Ein Projekt wie Skaiozu prämieren, ist ein Bekenntnis der Deutschen Gesellschaft für nachhaltiges Bauen (DGNB) gegen die Abrisskultur und Wegwerfgesellschaft. Der Trend, Architekturbüros mit einem Bewusstsein für Ressourcenschonung zu würdigen, spiegelt sich auch in der Vergabe des diesjährigen Pritzker-Preises wider, der weltweit renommiertesten Auszeichnung für Architekten. Das französische Architektenpaar Lacaton & Vassal baut lieber an als ab, verwandelt Bestand, anstatt Altes zu einem Haufen Schutt zu vernichten, aus dem nichts Neues gewonnen werden kann.

Das drohende Dilemma der Endlichkeit taumelt schon lange wie ein Damoklesschwert über der Baubranche, doch die Abkehr von der Tradition, zu bauen, wie und womit immer gebaut wurde, schien weit entfernt. 38 Prozent der globalen CO2-Emissionen hat der Bausektor zu verantworten. Das geht aus dem neuesten Bericht der Vereinten Nationen hervor. Die Gebäude- und Bauwirtschaft bewege sich damit nicht in die Richtung des im Pariser Klimaabkommen festgelegten Ziels, die globale Durchschnittserwärmung unter zwei Grad Celsius zu halten, heißt es in dem Report. Während die Weltbevölkerung weiter wächst, werden Rohstoffe wie Sand und Kies, elementar für die Herstellung von Beton, rar und teuer. Der politische, ökonomische und ökologische Druck nach alternativen Baustoffen im Bauwesen steigt. Die Branche befindet sich am Scheitelpunkt einer Parabel des Umdenkens.

Alternative Baustoffe im Bauwesen

Einer, dem die Ressourcenknappheit schon in den 1990er-Jahren klar war, ist Werner Sobek. Der in Aalen geborene Bauingenieur, Architekt und Mitinitiator der DGNB blickt heute auf ein Imperium aus Büros zwischen New York, Dubai und Buenos Aires. Das Portfolio reicht von der Fassadenplanung und Nachhaltigkeitsberatung des ADNOC Tower in Abu Dhabi bis zur Entwicklung eines Energiekonzepts für die Waldkliniken in Eisenberg, Thüringen. Sobek fordert, mit weniger Material für mehr Menschen zu bauen.

Am besten lässt sich das erklären, wenn man sich Sobeks Privathaus in Stuttgart ansieht. Sobek, der das schwäbische Näseln bei aller Weltgewandtheit nie ganz verloren hat, nennt sein Privathaus R128, was erst mal wie ein Star Wars-Roboter klingt und glauben lässt, es müsse das wundersamste Smart Home am Rande des Stuttgarter Kessels sein mit allerlei intelligent vernetzter Schmankerl.

Tatsächlich ist es nur die etwas hippere Abkürzung für „Römerstraße 128“. Das Haus liegt in bescheidener Größe an einem Hang, umgeben von Natur, komplett verglast, mit einem so minimalistischen Interieur, dass man denken könnte, hier lebe niemand. Sobeks Haus ist ein Manifest seiner eigenen Gedanken, eines, das möglichst wenig Energie verbraucht und aus rezyklierbarem, also wiederverwertbarem Material besteht. Das können Kupferplatten, Glas oder Stahlgerüste sein, die zuvor an anderen Gebäuden angebracht waren. „Mein Jugendtraum war, auf einer grünen Wiese in einer Seifenblase zu leben. Heute ist es eine kubische Seifenblase“, sagt Sobek in einem Video des Youtube-Kanals seiner Unternehmensgruppe.

R128, das Stuttgarter Privathaus des Bauingenieurs und Architekten Werner Sobek – hergestellt aus ökologischen Baustoffen.
R128, das Stuttgarter Privathaus des Bauingenieurs und Architekten Werner Sobek. Credit: Zooey Braun

Giulia Peretti, Teamleiterin Bauphysik und Nachhaltigkeit bei der Werner Sobek Green Technology GmbH, betont, wie wichtig es sei, auf Konzepte und Maßnahmen zurückzugreifen, die kompensieren, was in der Vergangenheit beschädigt wurde. Sie meint damit zum Beispiel die Wiederverwendung und -verwertung von Materialien, die bereits verbaut wurden. Die gebaute Umwelt soll als Materiallager verstanden, Baumaterial in den Stoffkreislauf zurückgeführt werden.

Baumeister des Paradigmenwechsels

Vorbildlich für dieses Ideal ist dasNEST, ein modular aufgebautes Forschungsgebäude auf dem Campus der Eidgenössischen Materialprüfungs- und Forschungsanstalt (EMPA) in der Nähe von Zürich. Für eines der im Stecksystem verbundenen Module, dem Urban Mining And Recycling-Modul oder kurz UMAR, ist Werner Sobek verantwortlich, zusammen mit Dirk. E. Hebel, Professor für Nachhaltiges Bauen am Karlsruher Institut für Technologie (KIT), und Felix Heisel. Die Kupferbleche rund um die Verglasung des Moduls waren mal ein Kirchturmdach und eine Kreissparkassenverkleidung.

Dirk Hebel gehört wie Sobek zu den Baumeistern des Paradigmenwechsels. An der KIT-Fakultät für Architektur in Karlsruhe forscht er mit seinen Studierenden seit Jahren an alternativen Lösungen. Ähnlich dem NEST in der Schweiz, entwarf er 2019 für die Bundesgartenschau in Heilbronn den Mehr.Wert.Pavillon aus Recycling-Materialien. Der Stahl für die baumartige Struktur und Konstruktion stammt zum großen Teil aus dem Rückbau eines Kohlekraftwerks in Nordrhein-Westfalen.

Der Mehr.Wert.Pavillon der Bundesgartenshow in Heilbronn, 2019. Er besteht aus wiederverwertetem Glas, dem Stahl eines rückgebauten Kohlekraftwerks, Beton- und Porzellanbruch. Credit: Felix Heisel
 
Das Stahlgerüst des Pavillons erinnert an einen Baum mit Ästen und Zweigen. Credit: Zooey Braun

Klebstoffe, Schäume, Anstriche oder Imprägnierungen kommen nicht vor. Denn solange damit gearbeitet würde, seien selbst vermeintlich ökologische Baustoffe nicht sortenrein und kreislaufgerecht, sagt Hebel. „Wir müssen ab jetzt so planen und bauen, dass wir in Zukunft die Materialien nach der Nutzung des Gebäudes nicht deponieren und wegschmeißen müssen, sondern einen Mehrwert daraus generieren.“

Doch der Bedarf an Gebäuden sei immer noch höher als das, was in den Stoffkreislauf zurückfließen könne, räumt Hebel ein. Biobasierte, regenerativ mit Sonnenlicht erzeugte, aufgezüchtete und kultivierte Materialien könnten diese Ressourcenlücke jedoch schließen. Experimentiert wurde in der Baubranche in den vergangenen Jahren mit alternativen Baustoffen wie Hanf, Bambus oder Wurzelwerk von Pilzorganismen, sogenannten Myzelien. Beispielhaft sind Projekte wie Hebels MycoTree, entstanden für die Architekturbiennale 2017 in Seoul, oder der kompostierbare Hy-Fi Turm mit Ziegelsteinen auf Pilzbasis des amerikanischen Architekten David Benjamin für das Museum of Modern Art in New York.

Allein eine abwägende Materialauswahl macht ein Gebäude allerdings nicht automatisch nachhaltig. Als Architekt müsste man sich fragen, so Hebel, wie die Materialien zusammengefügt werden, wie reparaturfreundlich und damit langlebig das Gebäude sein wird und wie es mit Strom und Wärme zu versorgen sei. Auch die Rückbaubarkeit und damit die Kreislaufwirtschaft müsse bereits von Beginn an in der Planung berücksichtigt werden.

Reisepass für ökologische Baustoffe

Dirk Hebel sieht das Potential der Digitalisierung vielmehr in der Verwaltung von Materialinformationen. „Wir brauchen ein Materialkataster, und jedes Material braucht einen Reisepass“, sagt er. Vermerkt sollte darin sein, wie das Material zusammengesetzt und produziert wurde, welche mechanischen Eigenschaften es besitzt, und wie viel davon auf welche Art und Weise in welchem Gebäude gebunden ist. „So wüssten wir, wo unsere Schätze und Werte stecken und wie wir sie wieder in den Kreislauf einfließen lassen können.“

Die Software für Gebäudeeffizienzanalysen Autodesk Insight kann auf diesem Weg für mehr Nachhaltigkeit im Bau helfen. Auch das neue Tool ReCapture des schwedischen Architekturbüros White, das Gebäude im Bestand scannt, um wiederverwertbare Materialien für den Umbau zu identifizieren, ist eine Lösung für mehr Kreislaufwirtschaft in der Architektur.

Eines sollte aber bei aller Forderung nach Nachhaltigkeit nicht vergessen werden, so Hebel. Was er gleich sagen wird, erinnert an einen Satz, den Werner Sobek schon einmal bei einem Vortrag der Veranstaltung ZEITWissen ausplauderte. Nur noch Jute, flach atmen und nie mehr lachen sei nicht sehr befriedigend, sagte Sobek, weswegen Nachhaltigkeit nicht zu einer Entsagungsästhetik führen dürfe. „Architektur muss schön sein“, fordert auch Dirk Hebel. „Denn nur was schön ist, kann geliebt und gepflegt werden.“

Über den Autor

Carolin Werthmann hat Literatur-, Kunst- und Medienwissenschaften an der Universität Konstanz studiert, absolvierte ein Volontariat beim Callwey Verlag für Magazinjournalismus mit den Schwerpunkten Architektur und Restaurierung und spezialisierte sich an der Hochschule für Fernsehen und Film München und der Bayerischen Theaterakademie auf Kulturjournalismus. Sie schreibt u. a. für die Süddeutsche Zeitung.

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