Industrie 4.0 in der Fertigung: 3 Trends für 2020 und darüber hinaus
Es steckt viel Bewegung in Industrie 4.0. Die größten Trends der digitalen Fertigung stellen wir hier vor.
„Die drei wichtigsten Technologietrends sind noch immer Additive Fertigung, Automatisierung und Smart Factory“, sagt Russel Waddell, Geschäftsführer des MTConnect Institute und Absolvent des Residenzprogramms am Autodesk Technology Center in San Francisco. Zu den Technologiezweigen, die Industrie 4.0 seit Jahren bestimmen, zählen die Künstliche Intelligenz (KI), Drohnen, Augmented bzw. Virtual Reality (AR/VR) sowie das Internet der Dinge (IoT).
2020 wird es vor allem darauf ankommen, die komponentenbasierten Technologien und die von ihnen produzierten Daten in funktionale und sichere smarte Systeme einzubinden. Auch die Fachkräfteausbildung wird eine entscheidende Rolle für die Entwicklung von Industrie 4.0 spielen.
Der Digital Thread: Funktionale Vernetzung in der Fertigung
Carroll Thomas ist Leiterin der Manufacturing Extension Partnership (MEP) am National Institute of Standards and Technology (NIST) und betreibt ein nationales Netzwerk von Zentren zur Unterstützung von US-Fertigungsunternehmen bei der Anwendung zukunftsweisender Technologien. Laut US Census Bureau haben 75 % der kleinen Fertigungsbetriebe weniger als 20 Mitarbeiter. (In Deutschland sieht es ähnlich aus: Laut dem Institut für Mittelstandsforschung ifM Bonn betrug der Anteil der KMU aller Unternehmen 2017 in Deutschland 99,4 %, wobei in diesen Unternehmen 52,3 % aller sozialversicherungspflichtig Beschäftigten tätig waren.) Wie Thomas sagt, vollziehen derzeit unzählige kleine und mittlere Fertigungsunternehmen (solche mit weniger als 500 Mitarbeitern) den Schritt in Richtung Automatisierung ihrer Prozesse und Lieferketten. Große Fertigungsbetriebe machen es ihnen schon seit einigen Jahren vor.
„Cobots – Collaborative Robots – sind gerade ein großes Thema,” sagt Thomas. „Viele Zulieferer auf Ebene von Tier 1 und Tier 3 der Lieferkette gehen bei der Einführung der Automatisierung behutsam und eher strategisch vor. Dafür setzen sie Sensoren und KI mit Anbindung an das IoT ein. So digitalisieren sie alle betrieblichen Abläufe. Die breite Masse nutzt inzwischen diese Integration.“
Dr. Thomas Hedberg ist Maschinenbauingenieur und Co-Leiter des Smart Manufacturing Systems Test Bed des NIST. Er glaubt, dass Industrie 4.0 einen Reifegrad erreicht hat, an dem Einigkeit hinsichtlich des anzugehenden Problems herrschen dürfte: Es muss gelingen, alle Daten und Systeme miteinander zu verbinden, sodass alle Phasen von der Entwicklung über die Fertigung bis zur Inspektion eines Produkts fließend ineinandergreifen – einschließlich automatischer Rückkopplungen in den Produktionsprozess.
So kann ein Unternehmen in der Additiven Fertigung beispielsweise hunderte oder tausende Fotos vom Schmelzbad machen, während der Laser das Pulver aufschmilzt. „Sie versuchen diese Daten wieder in die Prozessparameter dieser Maschine zurückfließen zu lassen“, erklärt Hedberg.
„Als all diese Prozesssilos in der Fertigung entwickelt wurden, hat man nicht darüber nachgedacht, sie zu verbinden“, sagt Hedberg. „Innerhalb dieser Silos haben sich jedoch spezialisierte Systeme entwickelt. Warum aber diese Silos aufbrechen, wenn wir sie anzapfen und eine Verbindungsleitung zwischen ihnen installieren können? Diese Verbindung ist der ‚Digital Thread‘. Dabei handelt es sich um eine Problemstellung aus dem Systems Engineering, deren Lösung ein interdisziplinäres Team voraussetzt. An diesem Punkt kommen die Standards ins Spiel, wobei einige dieser Standards zunehmend danach ausgerichtet werden.“
In den lizenzfreien Maschinentechnologie-Standard MTConnect, für den Waddell verantwortlich ist, fließt die Expertise von mehr als 400 Systemintegratoren, Anlagenbauern, Softwareentwicklern und Endnutzern aus sämtlichen Industriezweigen ein. Aus seiner „Top-Down“-Perspektive erkennt Waddell, dass die Vordenker in Sachen vernetzte Fertigungsprozesse inzwischen alle Phasen des Produktlebenszyklus – neben der Planung, Konstruktion, Fertigung und Inspektion auch die spätere Wartung im Rahmen des Kundendienstes – im Blick haben.
Man stelle sich zum Beispiel vor, die US Navy gibt in der Werft von Newport News Shipbuilding oder General Dynamics Electric Boat – beides modern ausgerichtete Zulieferer auf dem US-amerikanischen Markt – ein Boot in Auftrag. Im Rahmen der Abwicklung ist wahrscheinlich die Lieferung sogenannter „As-Designed“, „As-Built“ und „As-Maintained“-Modelle gefordert. „Im Wartungsvertrag könnte vereinbart werden, dass zu gegebener Zeit eine erneute Inspektion, wie zur As-Built-Phase, zu wiederholen ist“, erklärt Waddell. „Mit einem 3D-Scan des Schiffsinnenraums könnten Änderungen gegenüber dem vorherigen Modell erfasst werden.“
Edge Computing und IT-Sicherheit
Hedberg ist überzeugt, dass das Problem der vernetzten Daten in der Fertigung nur mithilfe von Edge Computing zu lösen ist. Im Unterschied zum Cloud Computing werden bei diesem Konzept mehr oder sogar alle Daten für Prozesse wie Verschlüsselungen und Maschinelles Lernen in den jeweiligen Geräten selbst verarbeitet, statt in der Cloud. Vom Personal Computing unterscheidet sich das Edge Computing wiederum durch automatische Softwareaktualisierungen und eine zentrale Verwaltung der Sicherheit.
„Die Geräte, die wir heute nutzen, können sich schon sehen lassen. Ihre Leistungsfähigkeit reicht jedoch nicht aus, um die ambitionierten Optimierungsprozesse mittels Datenverarbeitung zu verwirklichen“, sagt Hedberg. „Bestimmte Daten müssen unmittelbar in der Peripherie verarbeitet werden. Dann kommt es darauf an, die übrigen Daten schnell zu verteilen und eine möglichst schnelle Rückantwort an das Werk oder die Maschine zu erreichen.“
Mit Edge Computing wird die Latenz bei der Datenverarbeitung reduziert. Gleichzeitig wird weniger Bandbreite beansprucht. Das Konzept bietet außerdem potenziell eine stark erhöhte IT-Sicherheit. Zum einen gelangen private Daten teils gar nicht erst in die Cloud, zum anderen sorgen die vom Anbieter durchgeführten Sicherheitsupdates für mehr Schutz.
Cybersicherheit ist schon jetzt ein wichtiges Thema für vernetzte Smart Factories. Mit dem Ausbau der 5G-Technologie werden die Herausforderungen nochmal größer. Mit 5G werden die Netze von einer hardware- auf eine softwaredominierte Architektur umgestellt. Zwar bietet 5G neben einer größeren Bandbreite viele weitere Vorteile, gleichzeitig ist die Technologie aber auch anfälliger für Cyberangriffe.
„Uns kommt es sehr darauf an, dass KMU beim Umstieg auf Automatisierung und Sensoren nicht die IT-Sicherheit vernachlässigen“, sagt Thomas.
Fachkräftemangel
Thomas besucht regelmäßig zahlreiche Fertigungsunternehmen überall in den USA, darunter besonders viele kleine und mittlere Unternehmen (KMU). Dabei ist ihr ein chronisches Problem aufgefallen: der Mangel an qualifiziertem Personal zur Besetzung offener Stellen.
Der Fachkräftemangel habe viele mittlere Fertigungsbetriebe auf den Weg in die Automatisierung und andere Industrie-4.0-Technologien gebracht. „Auf diesem Weg bauen sie aber keine Stellen ab“, sagt Thomas.
„Unternehmen setzen ja nicht auf die Technologie, um Mitarbeiter loszuwerden“, erklärt sie weiter. Vielmehr gehe es darum, die erforderlichen Kapazitäten aufzubauen.
Noch sind Cobots und Automatisierung teuer. KMU investieren in die Technologien, weil es nötig ist – und nicht, weil sie hoffen, so Arbeitsplätze abbauen zu können. Thomas hat beobachtet, dass die Automatisierung im Rahmen von Industrie 4.0 in der Praxis eher hochbezahlte Jobs für Wartungstechniker schafft. Andere Werkarbeiterlöhne seien nicht so stark gestiegen, wie der Fachkräftemangel vermuten lassen könnte.
„Die Werke setzen auf neue Technologien, um die Produktivität der Arbeit zu steigern. Dennoch sind nach wie vor Fachkräfte nötig, um die Maschinen zu bedienen und zu warten. Genau diese Techniker sind es, die sich die Unternehmen gegenseitig wegschnappen“, sagt sie.
Um den Fachkräftemangel in der Fertigung abzubauen, schlägt Thomas ein Umdenken bei der Ausbildung vor. Auch Initiativen gegen den Fachkräftemangel, wie die der Metall- und Elektro-Industrie (M+E) in Deutschland, die sich für die Förderung des MINT-Nachwuchses, aber auch für mehr Diversität und Inklusion in der Branche einsetzen, seien eine wichtige Entwicklung. „Sprechen Sie alle an, die normalerweise nicht in einem Werk arbeiten würden“, sagt sie und wird konkret: „Menschen kurz vor dem Rentenalter, Frauen, Menschen mit Behinderungen, oder Menschen, die darüber nachdenken, ob sie ein Studium anfangen sollen.“
Thomas plädiert außerdem für eine stärkere Verbindung zwischen kleinen Fertigungsbetrieben und Ausbildungseinrichtungen. Durch Veranstaltungen wie das OECD Local Development Forum in Belgien und das Webevent „Women, Let’s Catch the Shift”, die beide 2019 stattfanden, ließen sich neue Arbeitskräfte gewinnen und schulen.
Um die Auszubildenden optimal auf branchenspezifische Aufgaben vorzubereiten, stehen inzwischen neue Technologien zur Verfügung. Mit dem VRTEX 360 VR-Schulungssystem für Schweißarbeiten von Lincoln Electric lassen sich wichtige Fähigkeiten schneller und kostengünstiger trainieren als mit echtem Schweißwerkzeug. Dieses System kommt etwa am El Camino College im kalifornischen Torrance zum Einsatz, das laut Thomas trotzdem nicht genügend Absolventen hervorbringe, um die Nachfrage zu bedienen. Zu den AR-Anwendungen für Schulungszwecke in der Fertigung zählen spezifische Produkte wie das Miller AugmentedArc AR Schweißsystem und allgemeine Apps wie MeasureKit und SketchAR.
„Ich denke, das gesamte Ausbildungssystem sollte überdacht werden“, sagt sie. „Man sollte sein ganzes Leben lang lernen und sich eine gewisse tägliche Neugier auf Innovationen bewahren. Wenn Arbeitgeber etwas zu schätzen wissen, dann ist es jemand mit einer gesunden Einstellung zum stetigen Lernen. Jemand der anpassungsfähig ist und Dinge schnell begreift“.