Digitale Kollaboration: Architekten und Filmemacher profitieren von Konvergenzeffekten
- In der Filmbranche kommen ähnliche Tools und Arbeitsverfahren zum Einsatz wie im Bereich Architektur und in beiden Bereichen gewinnen Daten zunehmend an Bedeutung
- Aufgrund dieser Gemeinsamkeiten ergeben sich Chancen zur digitalen Kollaboration und zum Austausch von Daten
- Im Zuge der fortschreitenden digitalen Transformation lassen sich durch Branchenkonvergenz erhebliche Effizienzgewinne realisieren
Auf den ersten Blick bestehen zwischen Baustellen und Filmkulissen mehr Unterschiede als Gemeinsamkeiten: Statt Baggern und Kränen fahren auf dem Außenset Kamerawagen; statt Baumaterialien liegen Requisiten herum. Filmprojekten liegen keine Bauzeichnungen, sondern Drehbücher zugrunde. Und anstatt im Bauwagen Butterbrote zu vertilgen, werden der Filmcrew professionell zubereitete Mahlzeiten kredenzt.
Der Anschein trügt jedoch – meint jedenfalls Hilmar Koch, der bei Autodesk Research den Fachbereich Medien und Unterhaltung betreut. Hinter diesen oberflächlichen Gegensätzen verbergen sich nämlich in Wirklichkeit zahlreiche Ähnlichkeiten. „Im Kern handelt es sich bei beiden Berufsfeldern um kreative Tätigkeiten“, ist Koch überzeugt. Im Bereich Architektur, Ingenieur- und Bauwesen werde ebenso wie im Mediensektor etwas Neues geschaffen, das zunächst nur in den Köpfen der Planenden bzw. Filmemachenden existiert. In beiden Fällen „geht es nicht um den Neuigkeitseffekt per se, sondern dahinter steht ein übergeordneter Zweck“.
Konkret verdeutlichen lässt sich das am Vergleich zwischen einem klimaneutralen Gebäude und einem Spielfilm über eine Naturkatastrophe: dem Unisphere-Projekt zum Bau der größten klimaneutralen Gewerbeimmobilie in den USA einerseits und der Netflix-Produktion „Don’t Look Up“ andererseits. Adam Kays schwarze Komödie handelt von zwei Wissenschaftlern, die einen Global Killer entdecken – einen Kometen, der sich auf direktem Kollisionskurs mit der Erde befindet – und im Weißen Haus ebenso wie bei den medialen Meinungsmachern auf gefährliche Ignoranz und Borniertheit stoßen. Bei beiden Projekten stand ein gemeinsames Anliegen Pate: das Engagement für den Klimaschutz.
Auch im Hinblick auf die in der Ausführungsphase eingesetzten Tools, Verfahren und Abläufe bestehen einige Ähnlichkeiten, wie Koch betont: „In Bezug auf die Komplexität ihrer technischen Komponenten stehen Videospiele und Filme Bauprojekten kaum nach. Aus den jeweiligen Anforderungen ergeben sich ähnliche Interdependenzen zwischen Zeitplanung, Arbeitsverfahren und Auftragsvergaben an Subunternehmer.“
Aus Gemeinsamkeiten entstehen Synergien, und Synergien eröffnen Chancen zum Austausch und zur gemeinsamen Nutzung von Ressourcen. Durch Abbau von Datensilos lassen sich in beiden Branchen massive Innovationsschübe, Effizienzgewinne und Produktivitätssteigerungen erzielen. Software-Anbietende können diese Konvergenzen durch Entwicklung entsprechender Plattformen unterstützen.
Innovationsschübe durch digitale Kollaboration
In Fachkreisen setzt man derart große Hoffnungen auf den Austausch von Ressourcen – sowohl zwischen Vertretenden unterschiedlicher Branchen als auch zwischen physischen und digitalen Welten –, dass High-Tech-Unternehmen aktuell massiv in ein Konstrukt investieren, das ihn fördern und vereinfachen soll: das sogenannte Metaverse.
„Beim Metaverse steht der Gedanke im Vordergrund, Sachwerte und Erlebnisse aus der physischen Welt im virtuellen Raum zu replizieren“, erläutert Koch. „Mittlerweile gibt es Plattformen wie Cryptovoxels, wo man digitale Immobilien erwerben und z. B. ein Spielkasino bauen kann – oder auch ein Restaurant oder eine Hochschule. Man kann alles Mögliche bauen und es dann gewerblich verwerten.“ In der Medien- und Unterhaltungsbranche liefen bereits Bemühungen um die Klärung der damit verbundenen urheber- und eigentumsrechtlichen Fragen.
Wer eine physische Immobilie besitzt, kann sie gegen Geld vermieten – gilt das gleiche Recht auch für Eigentümer virtueller Immobilien? Diese und ähnliche Fragen müssen beantwortet werden, damit Architektur, Ingenieur- und Bauwesen sowie die Medien- und Unterhaltungsbranche von Konvergenzeffekten und Datenaustausch in großem Stil profitieren können.
Im Prinzip verhält es sich hier ganz ähnlich wie beim digitalen Musikvertrieb. Wenn Sie bei einem Online-Anbieter Ihres Vertrauens einen Titel erwerben, haben unterschiedliche Rechteinhabende – von der Plattenfirma über den Interpreten, Produzenten und Komponisten bis hin zum Schlagzeuger der Band, deren Song darin gesampelt wird – jeweils Anspruch auf einen bestimmten Prozentsatz des Erlöses.
Die Dokumentation der Eigentumsverhältnisse und der damit verbundenen rechtlichen Ansprüche ist indes nur eine von zahlreichen Herausforderungen. Von grundlegender Bedeutung ist insbesondere die Einigung auf offene Standards für den Datenaustausch.
„Offene Standards ermöglichen den reibungslosen Austausch digitaler Ressourcen zwischen unterschiedlichen Umgebungen“, erläutert Mark Turner, der als Programmdirektor bei MovieLabs für Produktionstechnologie zuständig ist. Mit dem Ziel, technologische Innovation in der Filmbranche zu fördern, unterstützt das gemeinnützige Joint-Venture-Projekt die Zusammenarbeit zwischen den großen Hollywood-Studios. „Von einer freiwilligen Verpflichtung auf die Nutzung eines offenen Standards können beide Branchen nur profitieren“, ist Turner überzeugt. Diese Verpflichtung müsse auch Metadaten einbeziehen. „Wenn wir etwa ein 3D-Modell von einem Baum haben, müssen wir auch wissen, um welche Baumart es sich handelt, wie hoch der Baum ist und wie viele Blätter er hat. In einer Datenbank mit Millionen, vielleicht sogar Milliarden von 3D-Objekten ist die Möglichkeit, das jeweils gesuchte Objekt tatsächlich zu finden, womöglich genauso wertvoll wie die Ressourcen selbst.“
Die Integration von Künstlicher Intelligenz (KI) sowohl im Front-End als auch im Back-End einer Plattform kann zum Aufbau robusterer Datensätze beitragen. Mittels maschineller Lernalgorithmen können KI-Systeme beispielsweise lernen, 3D-Objekte automatisch mit Metadaten zu taggen bzw. 3D-Modelle automatisch mit geeigneten Daten zu füllen. „Wir arbeiten auf das Ziel hin, sämtliche in 3D-Datenbanken gespeicherten Ressourcen automatisch durch unüberwachtes Lernen taggen zu können“, so Koch.
„Beim Weltenbau lassen sich hier beträchtliche Effizienzgewinne erzielen“, meint Turner. „Einmal angenommen, Sie wollten einen Film drehen, der im Los Angeles des Jahres 1985 spielt. Statt dass Location-Scouts sich auf die Suche nach geeigneten Drehorten machen bzw. die Szenenbildner eine ganze Kulisse aus dem Boden stampfen, können Sie mittels Sprachbefehlen und KI einen virtuellen Hintergrund automatisch mit Autos und Gebäuden aus dem gewünschten Jahrzehnt füllen.“
Branchenübergreifende Konvergenz
Eine attraktive Vorstellung – und keineswegs unrealistisch. „Die Technologien sind bereits vorhanden“, beteuert Turner. „Was uns aktuell noch fehlt, ist eine gemeinsame Sprache, mit der wir die digitalen Objekte sowie ihre jeweilige Anwendung im jeweiligen Szenario definieren können.“
Eben dabei will MovieLabs die Medien- und Unterhaltungsbranche unterstützen – z. B. durch die 2021 veröffentlichte Ontology for Media Creation (OMC). Dabei handelt es sich um ein semantisches Datenmodell mitsamt entsprechendem Wörterbuch, das mehr Interoperabilität gewährleisten und Menschen und Software-Programmen eine effektivere Kommunikation ermöglichen soll.
„Zunächst muss man sich auf eine gemeinsame Sprache und ein paar Standards für den gegenseitigen Datenaustausch einigen. Zumindest für die Filmbranche ist uns das inzwischen gelungen“, so Turner. Er ist überzeugt, dass andere Branchen ebenfalls von digitaler Kollaboration profitieren könnten.
Anbietenden, die Lösungen für unterschiedliche Branchen entwickeln, kommt bei der Überbrückung der Kluft zwischen traditionellen Datensilos eine Schlüsselrolle zu. Autodesk hat mit Forge bereits eine entsprechende Plattform entwickelt. Die Cloud-basierte Entwicklungsplattform stellt Anwendenden Funktionen zum Durchsuchen, Anzeigen und Austauschen von 3D-Modellen in unterschiedlichen Tools, Anwendungen und Workflows bereit. Die Plattform wird u. a. bei Disney zur Planung von Freizeitparks, Fahrgeschäften und Animationsfilmen eingesetzt.
Unternehmen, die wie Autodesk mit Kunden und Geschäftspartnern aus ganz unterschiedlichen Bereichen zusammenarbeiten, kennen deren Anforderungen und Bedürfnisse und sind entsprechend in der Lage, Software zu entwickeln, die als Brücke zwischen verschiedenen Branchen fungieren kann.
So selbstverständlich uns dieser Gedanke der Überbrückung inzwischen erscheinen mag, ist es gerade erst 15 Jahre her, dass Apple mit der Einführung des iPhone erstmals einen – damals zu Recht als Paradigmenwechsel wahrgenommenen – derartigen Brückenschlag zwischen Telekommunikation, Rechenkapazität und Software vollzog.
„Das Smartphone ist das Paradebeispiel für eine erfolgreiche Konvergenz“, argumentiert Koch. „Dadurch sind viele andere Neuerungen überhaupt erst möglich geworden.“ Er nennt in diesem Zusammenhang insbesondere die Online-Vermittlung von Taxidiensten. „Ich bin noch mit der Warnung aufgewachsen, niemals zu einem Fremden ins Auto zu steigen. Heute habe ich einen tragbaren Computer in der Hosentasche, der mir sagt, dass ich dieser Person trauen und mich in ihr Auto setzen kann. Hier hat sich ein grundlegender Mentalitätswandel vollzogen – und zwar nicht nur in Bezug auf unser Sicherheitsbewusstsein, sondern auch auf unsere Konsumgewohnheiten.“
Effizienzgewinne durch digitale Kollaboration
Wie Koch richtig feststellt, sind Architektur und Filmbranche kreative Berufsfelder, in denen Ideen und Ideale eine wichtige Rolle spielen. Genauso richtig ist jedoch, dass die wirtschaftlichen Interessen der jeweiligen Auftrag- und Kapitalgeber ebenfalls einen hohen Stellenwert haben.
„Als Architekt oder eben als Filmemacher hat man immer einen Auftraggeber, dessen Zustimmung man erst einholen muss, bevor man ein Projekt verwirklichen kann“, meint Turner. „Das gelingt am ehesten, wenn man ihm von Anfang an eine möglichst klare Vorstellung davon vermittelt, was man vorhat.“
Eine unzureichende Kommunikation in den Frühphasen eines Projekts rächt sich oft im Nachhinein, etwa wenn ein bereits eingebautes Fenster versetzt oder eine Szene neu gedreht werden muss.
„Letztlich geht es immer darum, Zeit und Geld zu sparen“, fügt Turner hinzu. Die 3D-Technologie habe die Voraussetzungen dafür geschaffen, indem sie Architekten und Filmemachenden neuartige Möglichkeiten zur Gestaltung und Bearbeitung realistischer Umgebungen bereitstelle. „Heute brauchen wir die dreidimensionale Realität nicht mehr in eine 2D-Grafikoberfläche zu zwängen. Stattdessen setzt man sich einfach ein VR-Headset auf und kann gemeinsam in einer virtuellen Umgebung an originalgetreuen Modellen arbeiten.“
Der Pferdefuß daran: Die Erstellung originalgetreuer 3D-Modelle setzt voraus, dass zunächst unzählige Einzelkomponenten erstellt werden – was natürlich wiederum Zeit und Geld kostet.
An dieser Stelle lassen sich durch Konvergenzeffekte handfeste Effizienzgewinne erzielen, glaubt Turner. Als Beispiel nennt er die „Spider-Man“-Filme. „Für den ersten Film schuf ein Team von Sony Pictures damals eine digitale Version der New Yorker Skyline mit den ganzen Wolkenkratzern. Auf dieser Grundlage entstand anschließend eine Computeranimation, in der Spider-Man zwischen den Gebäuden hin und her schwingt und springt.“
Durch die Möglichkeit, digitale Objekte über eine gemeinsame Plattform auszutauschen, ließe sich dieser Aufwand erheblich reduzieren. „Vorstellbar wäre zum Beispiel, dass gerade ein neues Gebäude an der Fifth Avenue errichtet wurde und die 3D-Zeichnungen dann zur Erstellung virtueller Filmkulissen verwendet werden könnten“, erläutert Turner. „Man könnte die Kulissen sogar nachträglich aktualisieren und eine neue Fassung des Films veröffentlichen, in der Spider-Man nicht mehr im New York der Jahrtausendwende, sondern eben im heutigen New York durch die Straßenschluchten turnt.“
Auch bei der Suche nach geeigneten Drehorten könnten digitale Zwillinge Filmproduzenten wertvolle Hilfe leisten – und hohe Kosten ersparen. „Heute schickt man Location-Scouts um die halbe Welt, damit sie sich einen Park oder ein Gebäude anschauen und dann vor Ort feststellen: ,Das passt nicht, da ist eine Ampel im Weg oder eine Straße mit zu viel Verkehrslärm.‘ Wenn man realistische digitale Modelle der betreffenden Städte hätte, könnte man zum Scouting einfach eine virtuelle Umgebung verwenden.“
Umgekehrt könnten sich Architekten ihrerseits aus der digitalen Requisitenkammer der Filmstudios bedienen. „Für komplexe Animationen wie etwa beim ‚Dschungelbuch‘ müssen allein Hunderte verschiedene Baumarten generiert werden, dann noch Wasser, Felsen, Moos usw. Ist der Film einmal im Kasten, werden diese Objekte alle im Archiv abgelegt und im Zweifelsfall nie wieder verwendet. Das heißt, es gibt da eine ganze Datenbank voller ungenutzter 3D-Objekte, die für einen Landschaftsarchitekten oder einen Stadtplaner total wertvoll wären.“
Erfolgreiche digitale Kollaboration und Konvergenzen zwischen Architektur- und Medienbranche könnten bislang noch völlig ungeahnte Möglichkeiten zur Interaktion mit physischen und virtuellen Lebenswelten erschließen. Die weitere Entwicklung bleibt auf jeden Fall spannend – und auch hier drängt sich eine weitere Analogie auf: Ähnlich wie der Grundstein wenig Aufschluss darüber gibt, wie das fertige Gebäude aussehen wird, ist bei einem guten Film nicht nach ein paar wenigen Szenen abzusehen, wie die Geschichte ausgeht.