5 Beispiele für den globalen Vormarsch digitaler Zwillinge
- Die Nachfrage nach digitalen Zwillingen hat während der Pandemie sprunghaft zugenommen
- Die Einbettung von Echtzeitdaten in virtuelle Modelle eröffnet neuartige Möglichkeiten zur Früherkennung von Problemen und Unterstützung einer iterativen Planung
- Bis 2030 ist mit einem Anstieg der globalen Investitionen in digitale Zwillinge auf rund 156 Milliarden USD zu rechnen – das entspricht einer jährlichen Wachstumsrate von 39,1 %
Wie verwaltet, wartet oder repariert man Systeme, die sich nicht in physischer Reichweite befinden? Mit diesem Problem schlagen sich Ingenieure seit einem knappen Jahrhundert herum. Nun hat die Technologie endlich eine Lösung parat: den digitalen Zwilling.
Bei digitalen Zwillingen handelt es sich um virtuelle Nachbildungen physischer Objekte, die den gesamten Lebenszyklus komplexer Systeme, Produkte oder Bauten mit durchlaufen. Geschaffen werden sie durch Integration der im Zuge der Planung erstellten Modelle mit Daten, die von in das physische Objekt eingebetteten Sensoren und Systemen geliefert werden. Ein digitaler Zwilling ist also kein bloßes Modell – vielmehr bildet er Kennzahlen zur Leistung des Objekts in Echtzeit ab.
Digitale Zwillinge überbrücken die Kluft zwischen physischer und digitaler Lebenswelt und visualisieren die Funktionstauglichkeit eines Bauteils, Areals oder ganzen Immobilienportfolios. Wenn z. B. in einem Gebäude ein Aufzug ausfällt, liefert der digitale Zwilling eine Vielzahl relevanter Informationen: Welche defekten Bauteile müssen ersetzt werden? Welche Alternativen stehen den Gebäudenutzenden offen, um möglichst schnell von A nach B zu gelangen? Müssen die Gebäudeplanenden womöglich noch einmal ans Reißbrett zurück, um künftige Ausfälle zu vermeiden? Digitale Zwillinge ermöglichen Einblicke sowohl auf der Detailebene – etwa zum Verhalten eines bestimmten Produkts unter unterschiedlichen Belastungen – als auch im großen Gesamtzusammenhang, beispielsweise zur Interoperabilität verteilter Systeme.
5 zukunftsweisende Beispiele für digitale Zwillinge
Angesichts Corona-bedingter Gebäudeschließungen, Abstandsregeln und Umstellungen auf dezentrale Arbeitskonzepte erwies sich die Möglichkeit, Systeme aus der Ferne zu überwachen und zu verwalten, als wahre Wunderwaffe – zumal die einschlägige Technologie immer benutzerfreundlicher und erschwinglicher wurde. Entsprechend ist laut den Ergebnissen einer Studie des Marktforschungsinstituts Grand View Research davon auszugehen, dass die Investitionen in digitale Zwillinge bis 2030 ein globales Volumen von rund 156 Milliarden USD (ca. 155 Milliarden Euro) erreichen. Das entspricht einer jährlichen Wachstumsrate von durchschnittlich 39,1 %.
Ob die 2020er Jahre als Dekade des digitalen Zwillings in die Technikgeschichte eingehen? Durchaus möglich, wie die im Folgenden vorgestellten Beispiele belegen.
1. Kommunaler Hochwasserschutz
Wenn vermeintliche Jahrhundertkatastrophen zur neuen Normalität gehören, sind herkömmliche Risikomanagement-Techniken den aktuellen und zukünftigen Problemen nicht mehr gewachsen. Welche Maßnahmen können Kommunen zum Schutz gegen extreme Wetterbedingungen ergreifen, für deren Bewältigung die vorhandenen Infrastrukturen einfach nicht ausgelegt sind? Die Modernisierung von Kläranlagen, künstlichen und natürlichen Wasserspeichern und Rohrleitungen kann Jahre, wenn nicht gar Jahrzehnte in Anspruch nehmen.
Bei Veolia Water Technologies, der für Anlagenbau und Rohrverlegung zuständigen Tochter des globalen Wasser- und Energiekonzerns Veolia, setzt man zur Entwicklung resilienter Trink- und Abwassersysteme auf digitale Zwillinge sowie prädiktive Analytik zur Unterstützung technischer Maßnahmen von der Hochwassermodellierung über die Planung nachhaltiger Kanalisationssysteme bis hin zu Ressourcenabgleichen und Notfallplänen für die Versorgung mit sauberem Trink- und Nutzwasser. Kommunalen Versorgungsbetrieben wird dadurch eine effizientere Verwaltung ihrer Wasserbestände ermöglicht. Zugleich kann bei der Planung neuer Anlagen gezielt auf mehr Resilienz hingearbeitet werden, etwa durch bessere Abwasseraufbereitung und Stärkung von Hochwasserschutzmaßnahmen. Zum Beitrag
2. Störungsfreier Umbau eines Großflughafens
Ein massives Modernisierungsprojekt soll den Flughafen von Hongkong fit für die Zukunft als globales Luftverkehrsdrehkreuz machen. Indes ist der Ausbau eines Großflughafens mit beträchtlichen logistischen Herausforderungen verbunden, gilt es doch, trotz laufender Planungs- und Bauarbeiten einen möglichst störungsfreien Betrieb zu gewährleisten. Zur Bewältigung dieser Schwierigkeiten und termintreuen Abwicklung des Projekts machten sich die Ingenieure von Leighton Asia die Vorteile der Gebäudedatenmodellierung zunutze.
Aus dem dabei erstellten BIM-Modell soll nach Projektabschluss ein digitaler Zwilling entstehen, der laufend Echtzeitdaten zur Leistung des Flughafens erfasst. Bei den Projektbeteiligten hat dieses innovative Vorhaben einen Motivationsschub und Mentalitätswandel ausgelöst, fördert er doch eine sowohl ganzheitliche als auch langfristige Sichtweise, die die auf der Baustelle erfassten Daten und Messwerte sowie die im Büro erstellten Baupläne als sich gegenseitig ergänzende Bestandteile eines Kontinuums begreift. Zum Beitrag
3. Baustoffrecycling
Die Wiederaufbereitung von Baustoffen ist oftmals mit einem hohen Kosten- und Zeitaufwand verbunden. Trotz beachtenswerter Fortschritte bei der Kreislaufverwertung bestimmter Materialien – allen voran Stahl – tut sich die Baubranche nach wie vor schwer damit, den Großteil ihrer Altstoffe sinnvoll wiederzuverwerten. Bereits kleinere Gebäude bestehen aus unzähligen Bauteilen und -stoffen, für die jeweils einzeln entschieden werden muss, inwieweit sie erhaltungs- und wiederverwertungswürdig sind oder (etwa aufgrund ihrer Toxizität bzw. problematischen CO2-Bilanz) doch der Entsorgung zugeführt werden müssen.
Die praktische Umsetzung hehrer Nachhaltigkeitsziele in der Architektur- und Baubranche wird dadurch beträchtlich erschwert. Hier will die schwedische Firma White Arkitekter Abhilfe schaffen und stellt unter dem Label White ReCapture datengestützte Lösungen für die umfassende Erfassung und Katalogisierung sämtlicher Bauteile eines Gebäudes bereit. Zur Bewertung des Wiederverwertungspotenzials von Bestandsgebäuden kommen Drohnen und Laserscanner zum Einsatz. Die dabei erfassten Datenmengen werden mithilfe von BIM-Werkzeugen verwaltet und ausgewertet; das Ergebnis ist ein 3D-Modell, das wiederum zum digitalen Zwilling weiterentwickelt werden kann. Zum Beitrag
4. Ressourcenschonende Papierherstellung
Wie wichtig Papier im Alltag ist, wurde uns spätestens während der Corona-Pandemie bewusst. Die Bilder der Menschen, die im Supermarkt um die letzte Rolle Klopapier kämpften, sind noch hinlänglich im Bewusstsein. Weniger bekannt – auf den ersten Blick vielleicht sogar etwas unlogisch anmutend – ist, dass hinter dieser Rolle hochmoderne Digitaltechnologie steckt. Für Papierhersteller und die einschlägigen Maschinenbauer sind digitale Zwillinge inzwischen ein unverzichtbares Hilfsmittel, ohne das sie kaum in der Lage wären, die drastisch gestiegene Nachfrage zu bewältigen.
Exemplarisch vorexerziert wird dies beim österreichischen Maschinenbauspezialisten ANDRITZ, der seine Anlagen und Produktionslinien über ein digitalisiertes Performance Center aus der Entfernung konzipieren, in Betrieb nehmen und bei Bedarf auch steuern kann. Glichen die Planungs- und Konstruktionsprozesse früher ihrerseits einer Papierschlacht, profitiert ANDRITZ heute entlang der gesamten Wertschöpfungskette von den Vorteilen digitalisierter Planungs- und Steuerungstechniken zur Unterstützung ressourcenschonender Fertigungsverfahren und Früherkennung potenzieller Risiken im gesamten Produktions- und Lieferkettenzyklus. Zum Beitrag
5. Effiziente Gebäudeverwaltung
Wer in der Altstadt von Basel auf der Mittleren Brücke steht oder über die Wettsteinbrücke über den Rhein schlendert, sieht sie in der Ferne aufragen: die Zwillingstürme der Roche-Konzernzentrale mit ihrer markanten Dreiecksform. Bau 1 wurde 2015 fertiggestellt und bleibt bis zur Eröffnung des zweiten Turms mit 178 Metern offiziell das höchste Gebäude der Schweiz, auch wenn ihn sein Bruder mit 205 Metern Gesamthöhe bereits überragt. Schon in der Planungs- und Bauphase erwiesen sich digitale Modelle als unverzichtbares Hilfsmittel zur Unterstützung einer effizienten Zusammenarbeit zwischen den unterschiedlichen Stakeholdern, denen damit eine zuverlässige, jederzeit aktuelle zentrale Datenquelle zur gemeinsamen Nutzung bereitstand.
Im Zuge der Planung und Bauausführung profitierten die Architekten und Ingenieure der Schweizer Firma Herzog & de Meuron insbesondere von der Möglichkeit, neue Ideen und Vorschläge bei virtuellen Rundgängen durch das digitale Modell zu präsentieren. Nach Abschluss der Bauarbeiten soll der digitale Zwilling des Gebäudes weiterhin beispielsweise zur Unterstützung der vorausschauenden Instandhaltung zum Einsatz kommen. Die Aufzüge sind mit Sensoren ausgestattet, sodass bei Auffälligkeiten umgehend Test- und Problembehebungsmaßnahmen eingeleitet werden können. Anhand der Echtzeitdaten im virtuellen Modell kann ebenfalls der Energie- und Trinkwasserverbrauch überwacht werden. Zum Beitrag