Digitale Weichenstellung: Technologien verhelfen der Bahn zu mehr Nachhaltigkeit
- Eine inländische Bahnfahrt verursacht bis zu neunmal weniger CO2- und Feinstaub-Emissionen als eine vergleichbare Auto- oder Busreise
- Die Digitalisierung fördert die Entstehung von effektiveren, einheitlicheren und nachhaltigeren Bahnnetzen – und den Aufbau engerer Geschäftsbeziehungen, die die Mobilitätssysteme von morgen erfordern
- Länder wie Norwegen, die Schweiz und Japan zeigen, welche Effizienzgewinne sich durch den digitalen Bahnbetrieb erschließen lassen
Mehr als drei Viertel des europäischen Güterverkehrs entfallen auf den Straßentransport. Dass eine Verlagerung auf die Schiene enorme ökologische Vorteile mit sich brächte, liegt auf der Hand. Aus diesem Grund gibt es zurzeit kaum eine Regierung, die keine entsprechenden Maßnahmen ergreift, um dem Bahnverkehr einen größeren Stellenwert einzuräumen.
Damit dieses Vorhaben gelingt, braucht es jedoch die nötigen Kapazitäten, um der steigenden Nachfrage gerecht zu werden – will heißen: mehr Gleise, mehr Lokomotiven, mehr Weichen, mehr Bahnhöfe und bessere Angebote. Die Frage lautet: Sind Bahnbetreiber dieser Herausforderung gewachsen?
Herausforderungen und Chancen
Aufgrund ihres Umfangs und ihrer Komplexität sind Projekte zum Ausbau von Verkehrsinfrastruktur ein schwieriges Unterfangen. Für Bahnbetreiber bergen sie jedoch auch erhebliche Chancen.
„Im Vergleich zu Straßeninfrastrukturen gestaltet sich das Sicherheits- und Verkehrsmanagement im Bahnbetrieb komplexer“, erklärt Cristina Vladut, Sprecherin der Europäischen Eisenbahnagentur (ERA). Und nicht nur das: Darüber hinaus gilt es, eine lange Liste von Akteuren zu beschwichtigen, angefangen bei den Bahnbetreibern selbst über die zuständigen Aufsichtsbehörden bis hin zu Anwohnern entlang geplanter neuer Strecken, Politikern und Fahrgästen. Auch die Einhaltung von Budget-, Termin- und Qualitätsvorschriften ist in dem von Kostenüberschreitungen und strukturellen Defiziten in Sachen Planung und Umsetzung gekennzeichneten Sektor keineswegs eine Selbstverständlichkeit.
Erschwerend hinzu kommen Fachkräftemangel, niedrige Gewinnspannen, politische Debatten und die unvorhersehbare Verfügbarkeit von Baumaterialien. Einschlägige Projekte erfordern nicht selten die Beteiligung Hunderter Auftrag- und Unterauftragnehmer, deren Arbeit koordiniert und beaufsichtigt werden muss.
Dann wären da natürlich auch noch die Kunden. Im Zuge der digitalen Transformation stellen sowohl Reisende wie auch Spediteure höhere Erwartungen an den Bahnverkehr. Erstere wünschen sich Bahnhöfe mit ansprechender Architektur, Ladestationen für ihre Geräte, zuverlässige WLAN-Verbindungen, eine einfache Reiseplanung und E-Tickets auf ihren Smartphones. Spediteure legen hingegen Wert auf möglichst unkomplizierte Prozesse, ein größeres Maß an Flexibilität und Komfort sowie die Möglichkeit, ihre Sendungen in Echtzeit zu verfolgen.
Um die Weichen für einen nachhaltigeren Personen- und Gütertransport zu stellen, der der Nachfrage gerecht wird, ist die Modernisierung bestehender Schienennetze von höchster Priorität.
Wie aus einem 2021 veröffentlichten Bericht des Weltwirtschaftsforums hervorgeht, macht der Schienengüterverkehr in Europa einen Marktanteil von weniger als 20 % aus, in den Vereinigten Staaten hingegen von mehr als 30 %. Da der Personenverkehr den europäischen Bahnbetrieb dominiert, sind die Kapazitäten für den Güterverkehr begrenzt – mit entsprechenden Auswirkungen auf die Lieferzeiten. Für viele Spediteure ist dies ein Grund, gänzlich auf diese Option zu verzichten.
Bahnbetreiber schlagen moderne Wege ein
Im Bestreben, diese Herausforderungen anzugehen, arbeitet die Deutsche Bahn – einer der führenden Bahnbetreiber in ganz Europa – zurzeit aktiv an der Entwicklung eines strategischen Investitionsprogramms, das kommerzielle und strategische Ziele miteinander in Einklang zu bringen und diese auf nachhaltige Art und Weise umzusetzen versucht.
Die Initiative mit dem Titel „Grüne Transformation“ soll gewährleisten, dass sämtliche wichtigen Entscheidungen im Zusammenhang mit der künftigen Gestaltung des Schienennetzes der Deutschen Bahn – einschließlich der entsprechenden Konstruktionsarbeiten – unter Berücksichtigung grüner Ziele getroffen werden.
Das 13,6 Milliarden Euro schwere Modernisierungsvorhaben soll die Öffentlichkeit zu klimaschonenderem Reisen mit der Bahn anregen. Um die Kapazität des Schienennetzes zu vervielfachen und die bestehende Infrastruktur effizienter zu gestalten, plant der Konzern den Ausbau und die Sanierung von insgesamt 1.800 km Gleisstrecke, 2.000 Weichen, 140 Brücken und 800 Bahnhöfen.
Ein weiterer Schwerpunkt ist die Digitalisierung, allen voran die Umstellung auf das Zugbeeinflussungssystem ETCS (European Train Control System). Das auf gemeinsamen europäischen Standards basierende Rahmenwerk ermöglicht Bahnbetreibern die Überwindung von Problemen im Zusammenhang mit dem grenzüberschreitenden Zugverkehr, indem Signalgebung, Weichenstellung und weitere wichtige Verkehrs- und Sicherheitsmaßnahmen europaweit vollständig digitalisiert werden.
„Eine starke Infrastruktur ist die Grundlage für ein attraktives Angebot für alle Bahnreisenden“, so Ronald Pofalla, Infrastrukturvorstand der Deutschen Bahn, in einer Pressemitteilung des Konzerns. „Wir wollen mehr Menschen vom umweltfreundlichen Verkehrsmittel Bahn überzeugen.“
Die Schweizer Bahngesellschaft SBB hat ihrerseits unter dem Titel SmartRail 4.0 ein netzweites Digitalisierungsprojekt ins Leben gerufen. Das Ziel: eine punktgenaue Echtzeit-Lokalisierung von Zügen, die wiederum eine höhere Zugdichte (sprich: mehr Züge mit jeweils mehr Waggons) zu Spitzenzeiten ermöglichen soll.
Durch die Automatisierung der Planung und Steuerung des Bahnbetriebs sollen sich Probleme in Zukunft schneller beheben lassen. Selbst Fahrpläne werden automatisch generiert und gewinnen somit an Zuverlässigkeit, was der SBB wiederum zu geringeren Energiekosten verhilft.
MaaS: Warum die Zukunft der Bahn digital ist
Im Rahmen ihrer Bemühungen müssen Bahnbetreiber nicht zuletzt auch Makrotrends berücksichtigen. Ein solcher Makrotrend ist Mobility-as-a-Service (MaaS), ein Ansatz, der vielen Zukunftsforschern zufolge die Verkehrswelt von morgen bestimmen wird. Die Idee dahinter ist die Entwicklung eines vereinheitlichten, vollständig vernetzten Mobilitätskonzepts, in dem Züge neben Straßenbahnen, Bussen, Taxis, Bike- bzw. Carsharing-Möglichkeiten und E-Scootern einen von vielen Bestandteilen eines größeren Systems darstellen.
In Helsinki wird genau dieses Konzept bereits in der Praxis erprobt. Über die App „Whim“ können registrierte Nutzer ihr Reiseziel sowie ihr bevorzugtes Verkehrsmittel auswählen. Ist es nicht möglich, allein damit ans Ziel zu gelangen, empfiehlt die App die beste Kombination der zuvor genannten Optionen – von Bus bis E-Bike. Selbst die Bezahlung erfolgt zentral über die App.
Strategien auf der Grundlage des MaaS-Ansatzes gehen häufig über die Optimierung von Bahnstrecken hinaus, etwa indem sie das Augenmerk auf Bahnhofsgebäude, Verkaufseinrichtungen und weitere Aspekte des Kundenalltags erweitern. Ein Beispiel in diesem Zusammenhang ist RingoPass, der neue MaaS-Dienst der East Japan Railway Company (JR East). Dieser führt die weitreichenden Vorteile der digitalen Transformation eindrucksvoll vor Augen.
„Um von A nach B zu kommen, braucht es manchmal auch alternative Transportmittel wie Taxis und Fahrräder“, betont Yukiko Ono, stellvertretende Geschäftsführerin der MaaS & Suica Headquarters von JR East, gegenüber Global Insights. „Unser Ziel war es deshalb, Nutzer möglichst nahtlos und unkompliziert an ihr Ziel zu bringen.“
Ono zufolge stamme die Entscheidung, diesen Schritt in Richtung digitale Transformation zu wagen, von der obersten Führungsebene: „Im Juli 2018 haben wir unsere neue Strategie namens ,Move UP 2027‘ enthüllt. Unser Präsident und CEO hat in diesem Rahmen angekündigt, eine völlig neue Denkweise im Unternehmen anstoßen und Innovation in den Mittelpunkt unserer Bemühungen rücken zu wollen.“
„Unsere Gewohnheiten in puncto Mobilität haben sich über Generationen hinweg entwickelt. Seit 130 Jahren haben wir keine neuen Wege eingeschlagen“, schreibt Prof. Dr. Andreas Herrmann, Professor für Betriebswirtschaftslehre an der Universität St. Gallen in der Schweiz und Direktor des dortigen Instituts für Mobilität (IMO-HSG), in einem von selbigem veröffentlichten Bericht mit dem Titel „Why Only Collaboration Can Push Mobility as a Service to the Next Level“ (Warum Zusammenarbeit der einzige Weg zu neuen Maßstäben in puncto Mobility-as-a-Service ist). Herrmann kommt zu dem Schluss, dass MaaS sich nur dann durchsetzen wird, wenn „sämtliche Akteure der Transportbranche langfristige Bemühungen unternehmen, um die Öffentlichkeit von den Vorteilen des Modells zu überzeugen“.
Darüber hinaus bedürfe es mehr Flexibilität und „strategischer Impulse“ seitens der wichtigsten Branchenakteure – einschließlich Bahnbetreibern. So gelte es unter anderem, höhere Summen in entsprechende Technologien zu investieren. Wie das Institut hervorhebt, würden viele Bahnunternehmen nach wie vor auf überholte Software und Hardware vertrauen, die einer Integration in MaaS-Plattformen im Wege stünden.
Kurz gesagt: Um sich ihren Platz in der vernetzten Verkehrswelt von morgen zu sichern, müssen Bahnsysteme digitalisiert werden. Nur so lassen sich bei Reisen, die mehrere Transportmittel umfassen, nahtlose Übergänge gewährleisten. Gleichzeitig kann die Digitalisierung den Entwurfs- und Planungsprozess für die Modernisierung und den Ausbau der Schienennetze mit Blick auf die zukünftige Nachfrage erleichtern.
Die Vorteile digitaler Technologien in Aktion
Ähnlich wie im Architektur, Ingenieur- und Bauwesen kommen auch im Schienenverkehr zunehmend digitale Tools zum Einsatz, die Projektmanagement und -umsetzung erleichtern sollen. Rund um den Globus ermöglichen digitalisierte Arbeitsabläufe und Building Information Modeling (BIM) eine effektivere Zusammenarbeit über den gesamten Lebenszyklus umfangreicher Infrastrukturprojekte hinweg – angefangen bei der Planung und dem Entwurf über die Konstruktion bis hin zum Betrieb.
Ein Beispiel, das die Vorteile der digitalen Planung verdeutlicht, ist das Projekt Hensetting–Østfoldbanen der staatlichen norwegischen Eisenbahngesellschaft Bane NOR. Der millionenschwere, 2,2 km lange Ausbau der Osloer Bahnstrecke wird mithilfe detaillierter 3D-Karten des entsprechenden Gebiets geplant.
Die Karten, die eine Genauigkeit von bis zu 20 cm aufweisen, enthalten unter anderem Informationen zu etwa 35.000 Bäumen, auf welche die Bürger keineswegs verzichten wollten. Darüber hinaus erleichtern sie die Planung der Bauarbeiten in verschiedenen Etappen. Dies ist angesichts der Tatsache von Vorteil, dass die Strecke durch das am dichtesten besiedelte Gebiet in ganz Norwegen verlaufen soll.
Dem renommierten Ingenieurbüro Ramboll zufolge seien die digitalen Karten, die auf BIM- und Geoinformationssystem-Daten basieren, der Schlüssel für eine effektivere Kommunikation mit Kunden und Partnern gewesen, da sie es sämtlichen Akteuren ermöglicht hätten, Entscheidungen auf der Grundlage einer gemeinsamen Informationsquelle zu treffen.
Ein wichtiger Akteur, den es von Modernisierungsarbeiten an Schienennetzen zu überzeugen gilt, ist die Öffentlichkeit – insbesondere die Menschen, für die eine erweitere Bahnstrecke Veränderungen mit sich bringt. Im Rahmen eines weiteren Ausbauprojekts setzt Bane NOR immersives Design und virtuelle Realität ein, um die Öffentlichkeit von ihrem Vorhaben zu überzeugen und die Bedenken der Anwohner in der betroffenen Gegend zu beschwichtigen.
„Wir haben in der Stadt einen Showroom eingerichtet, in dem sich die Bürgerinnen und Bürger das Projekt wie in einem Kino anschauen können. Dieses Konzept kommt richtig gut an“, erzählt Hans Petter Sjøen, Koordinator für Facility Management bei Bane NOR. „Die Leute haben das neue Konzept gut aufgenommen. Sie erzählen uns zum Beispiel, dass sie auf der großen Leinwand Aspekte des Projekts wahrgenommen haben, die ihnen sonst entgangen wären.“
Könnten Projekte dieser Art in Zukunft gang und gäbe sein? Ob BIM, Smartphones oder 5G-Netzwerke: Die für eine umweltfreundliche digitale Infrastruktur erforderlichen Technologien sind bereits vorhanden. Die Welt ist bereit für zukunftsträchtigere Züge und Verkehrskonzepte. Nun liegt es an der Branche, eine gemeinsame Strategie für deren Umsetzung zu entwickeln.