Digitale (R)evolution in der Baubranche: 3D-Drucker auf Pulverbasis ermöglicht Formfreiheit für Architekten
- Die Progress Group aus Südtirol hat einen der weltweit größten 3D-Drucker gebaut und wird ihn in Kooperation mit der FIT AG für den Einsatz in der Baubranche weiterentwickeln und 2022 auf den Markt bringen.
- Durch das Zusammenspiel von Künstlicher Intelligenz und additiver Fertigung können Bauteile gedruckt werden, die konventionell nicht fertigbar wären.
- Das Druckverfahren der selektiven Zementaktivierung wird der Bauindustrie zusätzliche Möglichkeiten eröffnen, leichtere Elemente und bionische Formen kostengünstig herzustellen direkt aus der Planungssoftware in die Realität per Knopfdruck.
Vier Meter lang, zweieinhalb Meter breit und 40 Zentimeter hoch: das sind die Dimensionen eines Fassadenelements, das mit einem der weltweit größten 3D-Drucker gefertigt wurde. Der 3D-Drucker steht in Südtirol – im Industriegebiet südlich der beschaulichen Brixener Altstadt – bei der Progress Group, die ihn gebaut und seit diesem Jahr im Einsatz hat. Sein „Zwillingsbruder“ – eine verbesserte Betaversion gleicher Größe – steht in Lupburg in der Oberpfalz bei der FIT Additive Manufacturing Group. Beide Firmen wollen gemeinsam die beiden Prototypen weiter entwickeln und verbessern. Laut Andreas Gallmetzer, Abteilungsleiter der Progress Group 3D Innovation, ist der 3D-Drucker schon jetzt unerreicht, was Genauigkeit und Detailtreue angeht: „Mit dem Verfahren, das wir einsetzen, erreichen wir eine höhere Auflösung und bessere Oberflächen als mit anderen 3D-Druckverfahren. Gedruckt wird mit einer Schichtstärke von zwei Millimetern.“ Das Druckverfahren nennt sich „Selektive Zementaktivierung“, das heißt, es wird ein Zement-Sand-Gemisch Schicht für Schicht aufgetragen und durch eine Flüssigkeit aus Bindemittel und Wasser gehärtet.
Selektive Zementaktivierung als zusätzliches „Werkzeug“ für die Bauindustrie
Entstanden ist der 3D-Drucker für die selektive Zementaktivierung in der Forschungs- und Entwicklungsabteilung der Progress Group, deren Hauptgeschäftsfeld der Maschinenanlagenbau ist. Die Firma produziert auch selbst Betonfertigteile und beliefert Baustellen in Südtirol, Trient und Tirol. Der Anlagenbauer hat die additive Fertigung – der Fachbegriff für den 3D-Druck – als neuen und interessanten Geschäftsbereich erkannt.
„Wir sehen den 3D-Druck im Bauwesen als Erweiterung der bestehenden Möglichkeiten beziehungsweise als zusätzliches Werkzeug“, sagt Gallmetzer und erzählt, dass das eingangs beschriebene Fassadenelement bisher der größte Prototyp war, das bei ihnen gedruckt wurde. Ein Bauteil kann bis zu einem Meter hoch sein, damit es in einem Arbeitsgang gedruckt werden kann. Zu den bisher erstellten Elementen zählen Inneneinrichtungen wie eine Bank in ungewöhnlicher Kreisform, ein Regal, das dem Mailänder U-Bahn-Netz nachempfunden wurde, diverse Statuen sowie ein voll funktionsfähiges Grammophon aus Beton namens „Sousa-Phone“, für das der Designer Martin Oberhauser den German Design Award Special 2021 erhielt. Allesamt ungewöhnliche Einzelstücke.
Die kreisrunde Bank wurde mit dem neuen 3D-Drucker der Progress Group additiv gefertigt. Credit: Progress Group.
Das Regal ist dem Mailänder U-Bahnnetz nachempfunden und steht heute im Architektur- und Designstudio Pagliara-Vieider. Credit: Dr. Arch. Gianluca Pagliara.
Für das 3D-gedruckte Sousa-Phone erhielt Designer Martin Oberhauser den German Design Award Special 2021. Credit: Progress Group.
Gallmetzer erläutert, warum man sich dafür entschieden hat, den Bauraum des Druckers mit den Maßen vier Meter x 2,5 Meter x ein Meter einzurichten: „2,5 Meter entspricht der Breite eines Lkw, mit vier Meter Länge ist ein Bauteil noch gut zu handeln, und die ein Meter Höhe ist der Hallenhöhe geschuldet.“ Der Drucker selbst ist acht Meter lang, vier Meter breit und fünf Meter hoch. Gallmetzer schließt aber nicht aus, dass sie die 3D-Drucker zukünftig größer oder mit anderen Maßen fertigen werden – je nachdem, was der Markt verlangt und welche Anforderungen zukünftig an sie herangetragen werden.
Unterstützt wird die Progress Group vom deutschen Unternehmen additive tectonics, das zur FIT Manufacturing Group gehört. Geschäftsführer Bruno Knychalla sagt: „Unser Ziel ist es, einen industriellen Prozess aufzusetzen, der 24/7 perfekt vorgefertigte 3D-gedruckte Fertigteile herstellt.“
Künstliche Intelligenz hilft bei der Anordnung im Bauraum
Zu den wichtigsten Vorarbeiten für den Druck gehört es, den Bauraum möglichst dicht zu packen und die Bauteile so effizient wie möglich anzuordnen. „Denn egal, ob man drei Elemente oder zehn drucken möchte, der Druck dauert immer gleich lang – nämlich sechs Stunden“, erläutert Gallmetzer. Bei dieser Vorarbeit kommt der „Künstlichen Intelligenz“ (KI) eine wesentliche Rolle zu.
Die Konstrukteure bei der Progress Group wie auch bei additive tectonics nutzen die Software Netfabb in Fusion 360 von Autodesk, um die Elemente in der Box anzuordnen. Gallmetzer: „Wir spielen die 3D-Modelle, die wir von den Designern oder Architekten erhalten, in Netfabb ein, das daraus eine 3MF-Datei generiert.“ 3MF ist ein Open-Source-3D-Modellformat. Damit lassen sich 3D-Geometrien zwischen den einzelnen Programmen austauschen. Die 3MF-Datei wird in den Drucker eingespielt und los geht’s.
Schicht für Schicht nach oben
Bei der selektiven Zementaktivierung (SCA) wird ähnlich wie beim selektiven Laser-Sintern (SLS) Pulver aufgetragen. Während beim Laser-Sintering ein Laser das Pulver schmilzt, kommt aus dem Druckkopf beim SCA nur Wasser, welches das Zement-Sand-Gemisch an den vorgesehenen Stellen erhärtet. Ist eine Schicht fertig, wird die Plattform mit dem Pulver nach unten abgesenkt. Während des Druckvorgangs fungiert das lose Pulver als Stützkonstruktion. Nach dem Druckvorgang dauert es circa 24 Stunden bis das Material ausgehärtet ist. Danach kann das restliche Pulver aufgesaugt und wiederverwendet werden.
Die Entwickler der Progress Group verwenden für das Zement-Sand-Gemisch Sorel-Zement und als Zusatzstoff recyceltes Altglas, genauer ein Glasschaumgranulat; die daraus erstellten Statuen und Möbel für die Inneneinrichtung haben den Vorteil, dass sie leichter sind. Bislang wurden mit dem Prototyp hauptsächlich Inneneinrichtungen hergestellt – bei den Projekten von additive tectonics sind es spektakuläre Fassaden, die mit der SCA produziert werden.
Die von den Architekten Berschneider + Berschneider und additive tectonics entworfene Fassade im Auftrag der V.I.S. Vermögensverwaltung bei einem aktuell entstehenden Bürogebäude in Regensburg, das bis 2023 fertig gestellt werden soll, wären konventionell nicht fertigbar. Eine solche Struktur ließe sich weder spritzgießen noch fräsen, und dafür eine Schalung zu entwickeln wäre nahezu unmöglich beziehungsweise unbezahlbar. Über die 3.000 Quadratmeter große Fassadenfläche sagt Bruno Knychalla nicht ohne Stolz: „Weltweit wurde noch nie so ein großes Architektur-Projekt durch 3D-Druck realisiert.“
Die Fassadenelemente bestehen zu 70 % aus recyceltem Glas und erhielten eine Beschichtung in einem besonderen orangefarbenen Ton: „Orange Vif“ des berühmten Architekten „Le Corbusier“. Credit: additive tectonics
Jedes Teil hat eine andere Geometrie und wurde materialoptimiert erstellt, so dass sie extrem stabil sind. Würde man ein solches Element fräsen, würde sehr viel Abfall entstehen. Credit: additive tectonics
3D-Druck ermöglicht neue Freiheiten im Design
Der 3D-Druck ermöglicht eine Formfreiheit, die es bisher so nicht gab. Ob verschlungen, ineinander verwoben, vernetzt oder verdreht: Bauformen mit beliebiger Geometrie und mit optimierten Strukturen können nun gedruckt werden: ohne Werkzeug, ohne Formen im Vorfeld herzustellen, ohne Schalung! Der 3D-Druck als Fertigungsmethode und die selektive Zementaktivierung im Besonderen schafft bisher ungeahnte Möglichkeiten, komplexe und ästhetisch ungewöhnliche Formen kostengünstig herzustellen. Mit dem 3D-Druckverfahren gewinnen Designer und Architekten eine neue Art der Designfreiheit. Die Projekte und Aufträge, an denen die additive tectonics arbeitet, beweisen das. Knychalla sieht in der selektiven Zementaktivierung eine der wichtigsten Technologien, um ungewöhnliche Architekturprojekte zu realisieren.
Dass die Konstruktionsfreiheit keine Grenzen mehr kennt, liegt auch an den Software-Anwendungen, die u. a. von Autodesk entwickelt wurden. Generatives Design ist hier das Stichwort. Diese Funktion innerhalb der Softwaresuite Fusion 360 unterstützt die Designer und Konstrukteure bei ihrer kreativen Arbeit. Mit Hilfe der KI wird aus unendlich vielen Möglichkeiten ein ausgeklügeltes 3D-Modell kreiert, das den Anforderungen an das Bauteil am besten entspricht. Der Architekt oder Ingenieur gibt die Randbedingungen vor und über iterative Prozesse wird ein Bauteil erzeugt. Der Leiter Progress Group 3D Innovation beschreibt den Vorteil so: „Das Generative Design eröffnet uns neue Möglichkeiten, Objekte ganz neu zu denken beziehungsweise zu konstruieren.”
Karl Osti, Industry Manager Industrial Machinery bei Autodesk, erläutert den Prozess im Detail folgendermaßen: „Es ist keine Ausgangsgeometrie erforderlich. Die Benutzer geben die Bereiche ein, die das Teil behalten muss, die Bereiche, in die das Material nicht eindringen darf (die Sperrflächen) und dann die Leistungsanforderungen (eingeschränkte Bereiche, Kräfte und Belastungen auf das Bauteil). Von dort aus können Sie mehrere Materialien, auf die Sie Zugriff haben, und Fertigungskriterien (wie z. B. Mindestwandstärke und Stützwinkelkriterien für die Additive, Bohrergröße für CNC usw.) eingeben. So entstehen validierte, kostengeschätzte, herstellbare Geometrielösungen für das definierte Entwurfsproblem.“
3D-Druck hilft, Material zu reduzieren und CO2 einzusparen
Mit der selektiven Zementaktivierung können sehr komplexe und maßgeschneiderte Elemente gestaltet und erstellt werden, ohne eine spezielle Stützkonstruktion anzufertigen. Andreas Gallmetzer: „Wollte man den runden Tisch, den die Progress Group intern angefertigt hat, konventionell herstellen, müsste man eine Holzschalung fräsen oder eine Schalung aus Styropor herstellen und dann mit Beton ausgießen. Dabei würde viel Müll entstehen und es wäre ein sehr hoher Aufwand, der das Einzelstück sehr teuer macht.“ Zudem können die Pulverreste nach dem Druckvorgang abgesaugt und wiederverwendet werden. Das ist ebenfalls ressourcenschonend.
Mit Hilfe von Fusion 360 können auch Formen generiert werden, die der Natur nachempfunden werden, so genannte bionische Strukturen. Dadurch lässt sich Material einsparen und es lassen sich beispielsweise Trennwände aus Beton herstellen, die 45 % leichter sind als solche, die mit konventionellen Methoden gefertigt wurden. Die Luftfahrt- und Automobilindustrie machen es schon lange vor.
Evolution statt Revolution
Stand heute lohnt sich der 3D-Druck vor allem bei kleinen Losgrößen und Einzelstücken. Laut Gallmetzer ist es nicht das Ziel, mit der SCA die Betonherstellung zu revolutionieren. Es gehe nicht darum, auf der Baustelle glatte und gerade Wände en masse zu „drucken“. Der 3D-Druck macht dort Sinn, wo komplexe Formen oder kleine Losgrößen benötigt werden, die sonst nur mit hohem Aufwand erstellt werden könnten.
Wo traditionelle Herstellungsmethoden an ihre Grenzen stoßen, spielt der 3D-Druck seine Vorteile aus. Hier entsteht die Fassade für das Projekt der additive techtonics in Regensburg. Credit: Progress Group.
Der 3D-Druck ermöglicht Designern und Konstrukteuren eine nie da gewesene Formfreiheit. Verwobene, bionische Strukturen lassen sich nun mittels 3D-Druck erstellen. Credit: Progress Group.
Die Progress Group will Möglichkeiten ausloten, inwiefern sich mit der additiven Fertigungstechnologie traditionelle Betonherstellungsverfahren ergänzen lassen. Bislang wurden hauptsächlich Inneneinrichtungen gedruckt. Möglich seien auch Wendeltreppen oder so genannte verlorene Schalungen, die im Bauwerk unsichtbar verbleiben, sagt Gallmetzer.
Der Geschäftsführer der additive tectonics äußert sich etwas weniger zurückhaltend: „Wir arbeiten auf Hochtouren daran, mit diesen 3D-Druck-Technologien eine Revolution in der Architektur auszulösen.“ Das Tochterunternehmen der FIT AG hat den Drucker nun seit einem Jahr im Einsatz und konzentriert sich darauf, den Prozess der industriellen Fertigung zu perfektionieren, sodass er skalierbar ist und schnell und effizient funktioniert.
Geplanter Markteintritt für den 3D-Drucker, der den Namen SCA 10 trägt, ist Anfang 2022. Eines aber macht der Abteilungsleiter der Progress Group klar: „Unser 3D-Drucker wird voraussichtlich nie auf einer Baustelle stehen!“
Selektive Zementaktivierung: Keine Konkurrenz zum 3D-Betondruck auf der Baustelle
Der 3D-Druck von ganzen Häusern sorgt immer wieder für ein großes Medienecho. Im normalen Sprachgebrauch wird für die additive Fertigung direkt auf der Baustelle der Begriff „3D-Betondruck“ verwendet, im Englischen lautet der Fachbegriff „Contour Crafting“. Dabei wird mit einem 3-Achsen Kran oder Roboter direkt auf der Baustelle mittels Düse der Beton, eigentlich Mörtel, schichtweise aufgebracht.
Der von der Progress Group entwickelte 3D-Drucker ist jedoch nicht für den Einsatz auf der Baustelle konzipiert. Beim Südtiroler Maschinenanlagenbauer herrscht die Philosophie der Off-site-Fertigung, heißt, Betonfertigteile werden immer in der Halle produziert und erst dann auf die Baustelle gebracht. Andreas Gallmetzer fasst die Vorteile zusammen: „In der Halle sind wir witterungsunabhängig, die Qualität lässt sich einfacher überwachen, die Arbeitsbedingungen für den Mitarbeiter sind besser und ich kann den Prozess besser planen.“ Gallmetzer spricht für die Progress Group, wenn er sagt: „Wir werden keine Häuser drucken, sondern bieten mit dem 3D-Druck ein zusätzliches Werkzeug für die Fertigteilindustrie.“