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Wohnungsbau nach Maß: Nachwuchsarchitekten planen die Zukunft unserer Großstädte

future of urban housing Architecture students use space-age materials and radical designs to imagine tomorrow’s urban housing centers. Courtesy Design Research Laboratory

Die schillernde Londoner Stadtgeschichte begann mit der Gründung einer römischen Siedlung im Jahr 43 u. Z. Während der industriellen Revolution im viktorianischen Zeitalter erreichte die Einwohnerzahl einen historischen Höchststand. Zugleich nahmen auch die mit der hohen Bevölkerungsdichte verbundenen Probleme zu. Die Luft war schwarz vor lauter Ruß und Rauch, die Elendsviertel in der Innenstadt eine Brutstätte für Cholera und andere Seuchen.

Diese menschenunwürdigen Lebensbedingungen wirkten als Auslöser für die Entstehung stadtplanerischer und gesundheitspolitischer Initiativen, wie wir sie heute kennen. Diskutiert wird dabei unter anderem, welche Bevölkerungsdichte in den städtischen Ballungsgebieten zumutbar oder sogar wünschenswert ist, die laut Uno-Prognosen bis 2050 ganze 66 Prozent der Weltbevölkerung beherbergen werden (heute sind es bereits 54 Prozent).

Alicia Nahmad lehrt Architektur in London, wo sie die Folgen der zunehmenden Verstädterung tagtäglich vor Augen hat. Wenn viele Menschen auf engem Raum zusammenleben, habe dies eine Menge Vorteile, sagt sie. Andererseits seien jedoch – früher wie heute – die Probleme der Überbevölkerung unübersehbar. „Städte wie London erbringen eine hohe Wirtschaftsleistung, zugleich herrscht hier aber viel Hektik und Gedränge. Man lebt dicht auf dicht.“

future of urban housing Architectural Association School of Architecture design research laboratory
An der Architekturschule der Architectural Association werden neue Wege zur Lösung der Wohnungsnot in Großstädten erforscht. Mit freundlicher Genehmigung des Design Research Laboratory.

Um die Lebensqualität in dicht bevölkerten Städten zu verbessern, hält Nahmad es für erforderlich, dass die Bewohner ihr Zusammenleben neu und anders gestalten. Hier könne eine innovative Architektur entscheidende Hilfestellung leisten. Im Rahmen ihrer Lehrtätigkeit an der Architekturschule der Architectural Association wollen Nahmad und ihr Kollege Shajay Bhooshan vom Londoner Architekturbüro Zaha Hadid Architects entsprechende Impulse setzen. Das Design Research Laboratory ist ein 16-monatiger Masterstudiengang, der Studierenden die Chance bietet, neue Baustoffe und digitale Fertigungstechniken auszuprobieren. Vier Teams stellen sich der Herausforderung, nach dem Prinzip der individualisierten Massenfertigung neuen Wohnraum für die stetig wachsende Großstadtbevölkerung zu schaffen.

Im Zuge des Projekts entwickelte jedes Team ein eigenes Konzept für ein zukunftsfähiges Zusammenleben. Die theoretische Vorarbeit leisteten die Nachwuchsarchitekten und -architektinnen bei einem Forschungsaufenthalt am „BUILD (Building, Innovation, Learning, and Design) Space“-Workshop von Autodesk in Boston. Ihre Entwürfe zeigen neue Lösungen für das Leben und Arbeiten in Großstädten auf, die – auf begrenztem Raum – uneingeschränktes Potenzial für zufriedene und produktive Gemeinschaften freisetzen.

Abonnieren statt kaufen

Eine der Forschungsgruppen, Team Dwel.t, kam auf die Idee, das erfolgreiche Geschäftsmodell von Firmen wie Netflix, Pandora und Uber auf den städtischen Wohnungsbau zu übertragen. Wir haben uns längst daran gewöhnt, Filme, Musik und Autos nur noch leihweise zu nutzen, statt sie zu kaufen. Warum sollte das nicht auch mit Wohnungen funktionieren?

Entsprechend hat das Team eine Community konzipiert, deren Mitglieder nach dem Motto „Abonnieren statt kaufen“ alles Lebensnotwendige leihweise nutzen. Anstelle eines festen Wohnsitzes oder gar Eigenheims berechtigt sie ein Abo bei einer bestimmten Verwaltungsgesellschaft dazu, deren möblierte Immobilien flexibel zu nutzen und mal hier, mal dort zu wohnen.

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Das Team Dwel.t sieht ein abo-basiertes Modell vor, das Mieter berechtigt, möblierte Immobilien je nach Bedarf flexibel zu nutzen. Mit freundlicher Genehmigung des Design Research Laboratory.

„Das Projekt von Dwel.t wird von der Überzeugung getragen, dass der Architektur beim Aufbau von Gemeinschaften und der gerechten Verteilung von Ressourcen eine wichtige Rolle zukommt“, erläutert Bhooshan. Das Konzept sieht eine Modularbauweise vor, die sich an die spezifischen Bedürfnisse der jeweiligen Bewohner anpassen ließe. Zu diesem Zweck testet das Team die Möglichkeiten der digitalen Fertigung eines Rohbaus aus Nutzholz. Die einzelnen Bauteile werden mit digitalen Tools entworfen, mit einer CNC-Maschine angefertigt und schließlich von einem Roboterarm verbaut, der den Rohbau dann mit einer Hülle aus Glas- oder Kohlenstofffasern versieht – und schon stehen die Außenwände.

„Speziell haben sie sich leichtgewichtige austauschbare Platten angeschaut, wie sie beispielsweise durch Verweben von Kohlenstofffasern hergestellt werden“, so Bhooshan. „Kohlenstofffasern sind robust, dabei aber leichtgewichtig, sodass aus diesem Werkstoff hergestellte Wände sich sehr viel einfacher aus- und umbauen lassen.“

Letztlich soll dabei so etwas wie das architektonische Gegenstück des modularen Flugzeugs herauskommen, das Airbus derzeit unter dem Namen Transpose entwickelt. „Airbus ist dabei, Flugzeuge aus ausbaubaren Modulen zu konstruieren, sodass sie sich für jeden Flug den Ansprüchen der jeweiligen Passagiere entsprechend neu anpassen lassen“, erläutert Bhooshan. Je nachdem, welche Strecke geflogen wird bzw. welche Passagiere sich an Bord befinden, könnten beispielsweise Cafés, Coworking-Spaces, Mini-Kitas und Wellness-Bereiche aus Fertigbau-Modulen eingebaut werden. Bhooshan ist überzeugt, dass sich diese frei konfigurierbaren Module auch im Wohnungsbau verwenden ließen.

Wohn-/Arbeitsgemeinschaften

Ein anderer Entwurf – diesmal vom Team Physical.net – sieht in der Förderung von Wohn-/Arbeitsgemeinschaften einen Weg zur Stärkung lokaler Wirtschaftsstrukturen.

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Das Team Physical.net will durch die gemeinsame Nutzung von Ressourcen in Wohn-/Arbeitsgemeinschaften zur Stärkung lokaler Wirtschaftsstrukturen beitragen. Mit freundlicher Genehmigung des Design Research Laboratory.

„Früher war London eine Stadt, in der Kunsthandwerker und Produktionsfachleute in Wohn-/Arbeitsgemeinschaften zusammenlebten. Physical.net möchte ähnliche synergetische Systeme schaffen, indem sich beispielsweise ein Tech-Startup mit einem Prototyping-Team einen gemeinsamen Wohn- und Arbeitsbereich teilt“, erläutert Bhooshan das Konzept.

Derartige Netzwerke, so die Hoffnung, könnten London als Hotspot für Startups etablieren. „Dahinter steht der Gedanke, dass man einer Großstadt durch die Ansiedlung einer Vielzahl kleiner, aber ungemein produktiver Existenzgründer-Gemeinschaften einen globalen Wettbewerbsvorteil verschafft“, so Bhooshan weiter.

Das Team Physical.net hat 3D-gedruckten Lehm als besonders nachhaltigen Werkstoff entdeckt. „Bevor sich die Werkstoffe der neuen Generation durchzusetzen begannen, haben wir in großem Umfang mit Bewehrter Erde und Stein gearbeitet“, erinnert sich Bhooshan. „Heute setzen unsere Nachwuchsarchitekten auf Werkstoffe mit geringer Festigkeit – und entsprechend geringem Energieaufwand in der Herstellung –, die aber in robusten Bauformen verbaut werden.“

Hohe Wohndichte ohne Beengungsgefühl

Prognosen zufolge soll die Einwohnerzahl der Londoner Innenstadt von aktuell 3,2 Millionen bis 2030 wieder auf das Vorkriegsniveau von fünf Millionen anschwellen. Entsprechend stelle sich die Frage: „Wie bewältigt man eine höhere Bevölkerungsdichte, ohne die Menschen wie in einer Sardinenbüchse zusammenzupferchen?“, so Bhooshan. Dieser Herausforderung stellte sich ein drittes Team mit dem programmatischen Namen (Dense.com)munity.

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Mithilfe komplexer gekrümmter Geometrien will das Team (Dense.com)munity erreichen, dass die Großstadtbewohner sich trotz hoher Wohndichte nicht eingeengt fühlen. Mit freundlicher Genehmigung des Design Research Laboratory.Das Team hat sich das ehrgeizige Ziel gesetzt, Wohnraum für bis zu 4.000 Menschen pro Hektar in Stadtgegenden zu schaffen, in denen die Bevölkerungsdichte derzeit nur bei 1.500 Menschen pro Hektar liegt. Entscheidend sei dabei, dass die Betroffenen sich nicht eingepfercht fühlen. Unter Nutzung von biegsamen Straklatten und textilen Membranen – gespannten Bambusknoten, die in Stoff gehüllt und anschließend in Beton gegossen werden – sollen Wohnanlagen entstehen, die nicht mehr Raum beanspruchen als ein herkömmliches Einfamilienhaus. Hier kommt ein ähnliches Raumnutzungskonzept zum Zuge wie bei einem sogenannten „Tête-à-tête“-Sofa, das großzügige Sitzgelegenheiten für zwei Personen auf einer kompakten Stellfläche unterbringt. „Mithilfe solcher komplexen, doppelt gekrümmten Strukturen lässt sich eine hohe Wohndichte erreichen, die aber nicht als solche empfunden wird“, erläutert Bhooshan. „Textile Membranen eignen sich dafür ideal.“

Maßgefertigte Nachbarschaften

Früher war es üblich, dass Mitglieder der Londoner Oberschicht zwei Häuser hatten: ein großes auf dem Land und ein kleineres, von dem aus sie geschäftliche Termine oder gesellschaftliche Verpflichtungen in der Stadt wahrnahmen. In Abwandlung dieser Tradition möchte das Team Townhouse 2.0 nun eine neue Generation von Stadthäusern bauen, die als Erstwohnsitze für Familien ausgelegt sind und gleichzeitig ein aktives Nachbarschaftsleben fördern.

Konkret sollen diese Nachbarschaften nach dem Prinzip der Maßanfertigung entstehen. „Das Team entwickelt eine App, die so ähnlich funktioniert wie [die Mobile-Dating-App] Tinder, nur halt für das soziale Wohnumfeld“, so Bhooshan. „Man kann sich aussuchen, mit welchen Nachbarn man zusammenleben möchte, und bestellt dann ein entsprechendes Fertighaus.“

future of urban housing Townhouse 2.0
Das Team Townhouse 2.0 will mit maßgeschneiderten Wohnkonzepten den Aufbau nachbarschaftlicher Gemeinschaften fördern. Mit freundlicher Genehmigung des Design Research Laboratory.

In der Praxis soll das so aussehen, dass sich beispielsweise Familien, die Unterstützung bei der Kinderbetreuung benötigen, mit Haushalten zusammentun, die ihrerseits auf Hilfe bei der Zubereitung von Mahlzeiten angewiesen sind. „Wohnungsbau beinhaltet zugleich den Aufbau von Gemeinschaft“, kommentiert Bhooshan das Motto dieses Projekts.

Auch dieses Team macht sich innovative Baustoffe und Leichtbautechniken zunutze: Nach dem Origami-Prinzip entstehen im Faltverfahren dreidimensionale Blechstrukturen. „So lassen sich im Leichtbauverfahren jene komplexen Formen herstellen, die aufgrund der in Großstädten vorliegenden asymmetrischen Bedingungen erforderlich sind“, so Bhooshan. „Im Vergleich zu rechteckigen Formen sind die Strukturen, die im Origami-Verfahren entstehen, weitaus platzsparender und ermöglichen dadurch eine optimale Nutzung des vorhandenen Raums.“

Inwieweit die von den vier Teams entwickelten Ideen je verwirklicht werden, ist fraglich. Fest steht, dass ihre theoretische Vorarbeit innovative Lösungsansätze für aktuelle Probleme aufzeigt. „Aus der abgewandelten Nutzung neuer Technologien im Bauwesen ergeben sich neue Chancen, die sich zukünftig als Kernkonzepte zur Lösung der Herausforderungen im Wohnungsbau bewähren könnten“, ist Nahmad überzeugt. Wenn sie Recht behält, könnten die Zukunftsvisionen der Londoner Nachwuchsarchitekten ein nachhaltiges Umdenken im städtischen Wohnungsbau bewirken.

Herzlichen Dank an das Design Research Lab der Architectural Association (AADRL), Studio Nahmad-Bhooshan und die studentischen Planungsteams: Dwel.t – Leo Claudius Bieling, Ariadna Lopez und Basant Ali Elshimy; Physical.net – Taole Chen, Suchart Ouypornchaisakul und Jeff Widjaja; Townhouse 2.0 – Genci Sulo, Ripple Patel und Neha Kalokhe; (Dense.com)munity – Rohit Ahuja, Sooraj Poojari und Yuki Matsuda.

Über den Autor

Matt Alderton lebt und arbeitet in Chicago als freischaffender Publizist. Er hat sich auf Wirtschaftsthemen, Design, Ernährung, Reisen und Technologie spezialisiert. Unter anderem hat der Absolvent der Medill School of Journalism an der Northwestern University in Illinois bereits über Beanies, Mega-Brücken, Roboter und Hähnchen-Sandwiches berichtet. Er ist über seine Website MattAlderton.com zu erreichen.

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