Vorlesungen waren gestern! Vier neue Trends verändern das Bildungswesen
Unsere Welt wird immer komplexer, deshalb muss das althergebrachte, in der Zeit der industriellen Revolution verwurzelte Hochschulsystem verändert werden. Heutzutage reicht es nicht mehr aus, sich während des Studiums nur auf ein bestimmtes Fach wie Mathematik, eine Sprache oder Naturwissenschaft zu konzentrieren.
Renommierte Universitäten haben eines gemeinsam: Sie können auf eine lange, traditionsreiche Geschichte als Bildungseinrichtung zurückblicken. Doch im Fertigungssektor findet gerade ein grundlegender Wandel statt, der auch den Erwerb der erforderlichen Kenntnisse und Kompetenzen betrifft. Wenn die Hochschulen diesen Trend verschlafen, werden sie (und ihre Studierenden) nicht mit der Entstehung neuer Branchen und neuartiger Arbeitsplätze mithalten können. Weitergedacht bedeutet das auch, dass sie den Anforderungen einer komplexen und globalisierten Gesellschaft nicht mehr gerecht werden können.
Das Hochschulsystem muss in den Bereichen Lernen, Kultur und Ausbildung zukünftiger Führungspersönlichkeiten den Sprung in das 21. Jahrhundert schaffen. Dabei wird sich die Universität der Zukunft stark von der gegenwärtigen Realität unterscheiden.
Zunächst jedoch ein paar Hintergrundinformationen: Gegen Ende des 19. Jahrhunderts galt das deutsche Universitätsmodell als Ideal der modernen Hochschule, an dem sich Universitäten in Europa, den USA und Japan orientierten. Aus den ursprünglichen vier Fakultäten differenzierten sich im 19. Jahrhundert immer mehr einzelne Wissens- und Fachbereiche heraus.
Es ist wichtig, diese Entwicklung vor ihrem historischen Kontext zu betrachten. Das 19. Jahrhundert ist auch das Zeitalter der industriellen Revolution, und so verwundert es nicht, dass damals der Grundstein für eine „industrielle“ Herangehensweise an das Bildungswesen gelegt wurde. Das ergab Sinn, passte zur Kultur und zur damaligen Zeit. Doch obwohl diese Phase längst vorbei ist, blieb dieser Ansatz bis heute in vieler Hinsicht unverändert.
Heute leben wir in einer globalen, interdisziplinären, stark vernetzten und hyperkomplexen Welt. Viele Branchen und einzelne Berufsbilder haben schwer zu kämpfen. Betrachten wir zum Beispiel die Architektur. Das Aufgabenspektrum eines Architekten hat sich in den letzten Jahren dramatisch erweitert: War er früher nur für das Erstellen von Grundrissen verantwortlich, muss ein Architekt sich heute Gedanken über so komplexe Problemfelder wie Nachhaltigkeit und die zukünftige Nutzung und Verwaltung intelligenter Gebäude machen. Wie soll man das dafür erforderliche Wissen im Rahmen eines traditionellen Architekturstudiums vermitteln? Genau das ist der Knackpunkt.
Was also hält die Zukunft für das Bildungswesen und die Entwicklung eines neuen Bildungssystems, das den heutigen Anforderungen gerecht wird, bereit? Die nachfolgenden vier Beispiele veranschaulichen aktuelle Trends und die damit einhergehenden Veränderungen, die im Hochschulwesen bevorstehen.
1. Nie wieder Vorlesungen
Sie haben richtig gelesen: Es wird immer seltener vorkommen, dass man um acht Uhr morgens in der Vorlesung sitzen muss. Es ist an der Zeit, die bewährten Lehrmethoden zu überholen, und ein erster Schritt in diese Richtung ist das neue Konzept des „umgedrehten Unterrichts“ oder auch „flipped classroom“.
Die Studierenden gehen nicht mehr wie früher zur Uni, um den Ausführungen von Dozenten im Hörsaal zu folgen, sondern um individuelle Betreuung sowie Unterstützung zu erhalten und Zusammenfassungen zu entwickeln. Die Informationen, die früher in der Vorlesung vermittelt wurden, erhalten sie mithilfe von Videos und virtuellen Netzwerken. Vor dem Seminar haben sich die Studierenden bereits informiert und können den Stoff mit ihrem Dozenten und ihren Kommilitonen vertiefen. Doch nicht nur der Unterricht, ganze Universitäten sollten zugunsten der Förderung von Gemeinschaftsgefühl und Erfahrungsaustausch „umgedreht“ werden.
Denn neben dem Trend zum umgedrehten Unterricht erlangt auch das praktische Lernen immer größere Bedeutung. Dabei wird den Studierenden Wissen vermittelt, indem sie Dinge herstellen. Dieser Ansatz verbreitet sich sehr schnell. An Universitäten und Bibliotheken entstehen überall sogenannte Makerspaces mit 3D-Druckern, CNC-Maschinen und ähnlichen Geräten und zwar vor allem, weil Studierende Wissen durch das praktische Arbeiten schnell verinnerlichen.
2. Studiengänge verschmelzen dank Microcredentialing
Im Berufsleben ist man nicht mehr länger nur für eine bestimmte Aufgabe zuständig. Interdisziplinäre Fähigkeiten und fachübergreifendes Wissen werden deshalb immer wichtiger.
Auch die Aufgaben früher voneinander abgegrenzter Industriezweige verschmelzen. So übernehmen Baufirmen verstärkt die Rolle eines herstellenden Betriebs, indem sie beispielsweise Wohneinheiten, Außenwände und Lüftungsanlagen vorfertigen und zusammenbauen. Gleichzeitig gibt es viele Architekten, die neben Häusern auch Möbel, Boote oder Autos entwerfen.
Die Tendenz, einzelne Studiengänge durchlässiger zu gestalten, setzt sich langsam durch und stellt eine vielversprechende Option auf dem Weg zum interdisziplinären Bildungswesen dar. Die Studierenden sind nicht länger an den Lehrplan eines bestimmten geistes-, natur- oder wirtschaftswissenschaftlichen Studiengangs gebunden, sondern können verschiedene Qualifikationen und einzelne Unterabschlüsse erwerben. Am Ende kann dann die Kombination der verschiedenen Qualifikationen und Unterabschlüsse zu einem universitären Abschluss führen. Aus der Leistungsübersicht der einzelnen Studierenden geht aber eindeutig hervor, welche Studienleistungen erbracht wurden. Denkbar wäre beispielsweise der Erwerb von Fähigkeiten zum praktischen, branchenübergreifenden Problemlösen und kritischen Denken sowie von Kenntnissen im Umgang mit verschiedenen Computerprogrammen usw.
3. Die Erfahrung der Studierenden zählt
Noch nie war es für Studierende so wichtig wie heute, Erfahrungen außerhalb der Universität zu sammeln. Und es geht nicht mehr nur darum, ein Semester im Ausland zu verbringen. Die Hochschulen müssen sich daran gewöhnen, Bildungsmöglichkeiten auch außerhalb ihrer Hörsäle anzubieten, zum Beispiel in ortsansässigen Unternehmen, großen Organisationen, gemeinnützigen Vereinen und anderen Einrichtungen.
Jahrelang mussten Studierende sich bemühen, einen Praktikumsplatz während der Semesterferien zu ergattern. Das muss sich ändern! Praktika müssen sich in das gesamte akademische Jahr integrieren lassen. Oft werden Praktikanten später von den Unternehmen übernommen. Wenn die Zusammenarbeit also auch nach den Semesterferien fortgesetzt werden kann, haben Unternehmen die Gelegenheit, vielversprechende Studierende zusätzlich zu testen und zu schulen. Es wäre sogar denkbar, dass die Praktikanten mehrere Abteilungen durchlaufen, um ihren Horizont zu erweitern und die für sie beste Stelle zu finden.
4. Weg mit den Noten
Hinweise zum ersten Benotungssystem finden sich bereits in der sächsischen Schulordnung von 1530. Das fünfstufige System, wie es heute an deutschen Hochschulen üblich ist, stammt aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Es muss nicht nur überholt, sondern komplett revolutioniert werden. Wie testet man das Wissen einer BWL-Studentin, die im Rahmen des umgedrehten Unterrichts ein Praktikum in einem Unternehmen absolviert, um Praxiserfahrung zu sammeln? Wie lassen sich die den Studierenden zur Verfügung stehenden vielfältigen Möglichkeiten des Wissenserwerbs in einer einzigen Note zusammenfassen? Im Moment ist das unmöglich.
Ein integriertes Bildungswesen ist von entscheidender Bedeutung, weil Wissen überall erworben wird: im Seminarraum, außerhalb der Uni und im Internet. Es geht nicht um die Wissenskanäle, sondern um die Verbindungen zwischen ihnen. Jede Hochschule sollte das Prinzip der Integration umsetzen, um den Bedürfnissen ihrer Studierenden gerecht zu werden.
Einige Hochschulen setzen dabei auf ein relativ neues Konzept, das sogenannte E-Portfolio. Während ihres gesamten Studiums führen die Studierenden dieses E-Portfolio und dokumentieren so ihren Lernprozess in einer zentralen Datenbank, die jedes Jahr von Mitgliedern der Fakultät ausgewertet wird.
Es geht also nicht mehr nur um Noten. Lerngemeinschaften sind wichtig. Und für die Studierenden ist es wichtig, dass sie während ihrer Ausbildung die Fähigkeiten erlernen, die sie später im Berufsleben brauchen werden.
In den nächsten zehn Jahren werden sich die Hochschulen dramatisch verändern: eine notwendige und unvermeidbare Entwicklung. Studierende von heute sind mit dem Internet und sozialen Netzwerken aufgewachsen – sie betreten die ehrwürdigen Hörsäle mit einer ganz anderen Einstellung zum Thema Lernen. Sie gehen davon aus, dass sie virtuell und gemeinsam jederzeit und überall lernen können. Deshalb sind nun die Hochschulen gefordert! Sie müssen ihrer Führungsrolle im Bildungswesen gerecht werden und bei der Wissensvermittlung und der Ausbildung von Führungskräften für das 21. Jahrhundert neue Wege gehen.