Geotechnik – was ist das, und warum spielt sie beim Infrastrukturbau eine tragende Rolle?
Als „schiefer Turm von San Francisco“, der jedes Jahr mehrere Zentimeter absackt, ist der Millennium Tower ein besonders anschauliches Beispiel für die im wahrsten Sinne des Wortes tragende Rolle, die geotechnische Daten aus Bodengutachten gerade bei ambitiösen architektonischen Großprojekten spielen.
Das Absinken des 58-stöckigen Luxus-Wohnturms hat Anlass zu allerlei Fragen, Schuldzuweisungen und Spekulationen gegeben: Wie konnte es dazu kommen, dass sich ein derart teures Bauwerk innerhalb von sieben Jahren um 40 cm senkte? Lag es daran, dass am Fundament gepfuscht wurde? Oder doch eher an der auf dem benachbarten Gelände des Transbay Transit Center ausgehobenen Entwässerungsgrube?
Zur Ermittlung der Ursachen hat die betroffene Wohnungseigentümergemeinschaft ein geotechnisches Gutachten in Auftrag gegeben. Damit gerät ein Berufsstand in die Schlagzeilen, der seine wichtige Arbeit sonst eher abseits des medialen Rampenlichts leistet: die Geotechnik. Worum handelt es sich dabei, und worin liegt ihre Bedeutung?
Geotechnik ist ein Oberbegriff, der Aspekte unterschiedlicher bauingenieurwissenschaftlicher Einzeldisziplinen wie Erd- und Grundbau, Bodenmechanik, Fundationstechnik, Grundwasser-Hydraulik, Felsmechanik, Fels- und Tunnelbau, Bergbau, Hohlraumbau und Spezialtiefbau umfasst. Konkret beschäftigt sie sich mit der Ermittlung und Beschreibung der technischen Eigenschaften des Baugrunds sowie der Wechselwirkung zwischen Baugrund und Bauwerken.
„Alles, was nicht von Boden oder Fels gestützt wird, treibt oder fliegt entweder davon oder stürzt ein“, heißt es dazu kurz und bündig auf der Internetseite der International Society for Soil Mechanics and Geotechnical Engineering. Laut einem Bericht der zuständigen US-Behörde National Economic Development Office spielen bei über einem Drittel aller Bauprojekte, die das Budget sprengen, unvorhergesehene Komplikationen aufgrund der Baugrundeigenschaften eine maßgebliche Rolle. Geotechnische Analysen tragen zur Verhinderung größerer bautechnischer Probleme bei, die im schlimmsten Fall katastrophale Auswirkungen haben können.
Fortschritte in der Gebäudedatenmodellierung (BIM) werden hier durch die Berücksichtigung geotechnischer Daten in den Frühphasen der Planung bei Infrastrukturprojekten ebenfalls einen wertvollen Beitrag leisten. „Grundsätzlich geht es uns darum, den Planern die vorhandene Fülle an geotechnischen Daten bereits zu einem früheren Zeitpunkt der Planungsphase zugänglich zu machen“, erläutert Dr. Roger Chandler. Chandler ist Geschäftsführer und – gemeinsam mit dem technischen Leiter Gary Morin – Mitgründer der britischen Beratungsfirma Keynetix, die sich auf die Verwaltung geotechnischer und umweltgeologischer Daten spezialisiert hat.
Chandler und Morin predigen eine so einfache wie kostengünstige Lösung zur Vermeidung geotechnischer Probleme. „Viele Unternehmen im privaten wie im öffentlichen Sektor verfügen bereits über große Datenarchive, die aus Bohrungen und anderen Untersuchungen gewonnen wurden“, so Morin. „Nur sind diese Daten in Formaten gespeichert, die den Zugriff erschweren, etwa als PDF-Dateien oder GIS-Schichten, wodurch es schwierig genug ist, sie überhaupt aufzufinden, geschweige denn sie in einer für Ingenieure und Berater brauchbaren Form zu präsentieren. Und das ist nicht zuletzt auch deshalb suboptimal, weil Bohrungen nun mal teuer sind.“
Im Klartext heißt dies, dass Baugründe erhebliche ungenutzte Potentiale bergen – in Form kostspieliger geotechnischer Daten, die bereits im Vorfeld des jeweiligen Projekts erhoben wurden. Zur Erschließung dieser unterirdischen Schätze sind zuverlässige Karten erforderlich.
Aus verständlichen Gründen konzentrierten sich die Entwickler von 3D-CAD-Programmen zunächst auf Gebäude – das „B“ (für „Building“) in BIM. Gebäude, Brücken, Tunnel, Dämme und andere infrastrukturelle Elemente lassen sich relativ einfach visualisieren und vermessen, und auch ihre Modellierung stellt keine allzu große Herausforderung dar. Sie sind sozusagen der sichtbare Teil des infrastrukturellen Eisbergs. Ähnlich wie bei einem Eisberg liegt jedoch unterhalb der Oberfläche ein massiver Unterbau, der bei Infrastrukturbauten aus Versorgungsleitungen, Fundamenten, Entwässerungsanlagen und Erde besteht.
Inzwischen gibt es bereits BIM-Programme der nächsten Generation, die diese wichtigen Baugrunddaten und Herausforderungen bei der Modellierung und Planung berücksichtigen. So sind beispielsweise präzise Visualisierungen unterirdischer Versorgungsleitungen in der Planungs- oder sogar in der Vorentwurfsphase längst keine Besonderheit mehr.
Die Firma Keynetix zählt zu den Innovationsführern auf dem Gebiet der BIM-Softwareentwicklung und hat sich auf die Visualisierung von Daten spezialisiert, die primär aus mitunter sehr tiefen und kostspieligen Bohrungen stammen. Von ihrem Ansatz profitieren auch die Londoner Verkehrsbetriebe bei den Planungen für den Bau des Silvertown-Tunnels.
„Dabei handelt es sich um einen Tunnel, der in einem Industriegebiet unter der Themse verlaufen soll, wobei die Bodenbedingungen aus offensichtlichen Gründen eine kritische Rolle spielen“, erläutert Morin. „Hier war es so, dass der mit dem Vorentwurf beauftragten Beratungsfirma Atkins bewusst war, wie wertvoll die bereits vorhandenen Bohrungsdaten waren, und unsere Software zur Visualisierung dieser Daten in für sie brauchbarer Form nutzte.“
Die Visualisierung zeigte gleich mehrere potentielle Bauhindernisse auf, so zum Beispiel die Fundamente der Seilbahnstützen der „Emirates Air Line“-Gondelbahn an beiden Ufern der Themse, das Hafenbecken des Royal Victoria Dock, dessen westliche Zufahrt heute aufgefüllt ist, die Grundmauern mehrerer abgerissener Lagerhallen und ein ebenfalls abgerissenes Gaswerk mit bekannten Bodenverunreinigungen.
Leider sind neue Bohrungen ausgerechnet unter den Bedingungen, die Bohrungsdaten unverzichtbar machen, mit hohen Kosten und logistischen Herausforderungen verbunden. Für Atkins lohnte sich daher der Aufwand, vorhandene Daten nutzbar zu machen, damit möglichst wenig neue Bohrungen erforderlich würden. Aus diesem Grund entschied man sich für eine zweigleisige Vorgehensweise:
1. Zentrale Erfassung sämtlicher bereits vorliegenden geotechnischen Daten. Dazu zählten firmeneigene Daten aus früheren Projekten, die in relativ unzugänglichen Formaten (etwa in Form von PDF-Berichten) vorlagen, ebenso wie Daten aus historischen bzw. öffentlichen Quellen wie zum Beispiel alte Karten und Pläne. In dieser Phase ging es nicht zuletzt darum, geotechnische Daten in bereits vorhandene Standardformate zu bringen.
„In Großbritannien und verschiedenen anderen Ländern haben wir das Glück, über ausgereifte einschlägige Vereinbarungen zu verfügen“, so Morin. „In Großbritannien leistet die Association of Geotechnical & Geoenvironmental Specialists (AGS) seit langem gute Arbeit, und in den USA setzt sich DIGGS (Data Interchange for Geotechnical and Geoenvironmental Specialists) zunehmend als bevorzugtes Format durch. Beide Formate ermöglichen den Austausch geotechnischer und umweltgeologischer Daten sowohl intern als auch organisationsübergreifend.“
2. Aufbereitung von geotechnischen Daten in einfach verständlichen Visualisierungen. Die entscheidende Innovation bestand hier in der Entwicklung einer leistungsstarken BIM-Software, die in der Lage war, sämtliche bekannten Merkmale des Baugrunds zu erfassen und darzustellen. AutoCAD Civil 3D von Autodesk wurde zur Modellierung und Visualisierung der vorhandenen Seilbahn-Fundamente im Zusammenspiel mit Modelldaten für die Fundamente der verschiedenen abgerissenen Gebäude – Gaswerk, Lagerhallen, Piere sowie eine ehemalige Hafeneinfahrt – verwendet. Diese Daten wurden dann mit dem geplanten Verlauf der Tunneltrasse und der im Zusammenhang mit dem Tunnel vorgesehenen weiteren Bauten korreliert und mit Navisworks von Autodesk den übrigen Projektbeteiligten verfügbar gemacht.
Darüber hinaus verwendete das Atkins-Team Software-Tools von Keynetix zur Integration geotechnischer Daten, die primär aus Bohrungen stammten. „Mit ihrem Ansatz und unserer Software ließen sich Datenverwaltungsaufgaben direkt im Modell durchführen“, erläutert Morin. „So konnten die geotechnischen Daten im 3D-Geländemodell visualisiert werden, sodass Atkins sie schnell im Zusammenhang mit vorhandenen und geplanten Bauten darstellen, koordinieren sowie verwalten und dadurch eine bessere Detailkenntnis der Beschaffenheit des Baugeländes gewinnen konnte.“
Die von Keynetix entwickelte Software zur Verwaltung geotechnischer Daten erwies sich bei der Erstellung des Vorentwurfs für den Silvertown-Tunnel als wertvolles Hilfsmittel. Vor allem ließ sich damit die Anzahl der erforderlichen Probebohrungen von potentiell mehreren Dutzenden auf lediglich drei verringern. Angesichts der hohen Kosten geotechnischer Analysen in dicht bebauten Gebieten bewährte sich das digitale Geländemodell als unverzichtbare Schatzkarte, die dem Bauherrn unangenehme Überraschungen wie in San Francisco ersparen kann.