Virtuelle Realität erleichtert den Alltag für Patienten und Mediziner
Dieser Artikel wurde in Kooperation mit der re:publica 2018 für den Track Tech for Good publiziert.
Wer geht schon gern zum Arzt oder ins Krankenhaus? Und wer freut sich schon darauf, den letzten Lebensabschnitt möglicherweise in einer Pflegeeinrichtung zu verbringen? Durch Nutzung von Technologien der nächsten Generation im Gesundheitswesen könnte man solche Erfahrungen angenehmer gestalten und dem unverkennbaren Krankenhausgeruch sicher viel von seinem Schrecken nehmen.
Das hoffen jedenfalls mehrere Unternehmen, die den Einsatz von 3D-Technologien, Augmented Reality und virtueller Realität im Gesundheitswesen untersuchen. Jede technologische Neuerung oder Weiterentwicklung im Gesundheitswesen wendet sich primär an zwei Interessengruppen: die Ärzte bzw. das Pflegepersonal und die Patienten. Das gilt auch für 3D-Technologien, AR und VR. Für Mediziner und Pflegekräfte bieten diese Technologien enorme Fortschritte in der Aus- und Weiterbildung. Für Patienten geht es vor allem um mehr Einbindung und verbesserte Heilungsverläufe, schnellere Rehabilitation und größeren Komfort.
Die Ausbildung von Pflegepersonal mit neuen Augmented-Reality-Technologien
Der japanische Chirurg Dr. Maki Sugimoto ist ein Vorreiter auf dem Gebiet der medizinischen Bildgebung. Wie er und weitere Kollegen herausgefunden haben, lassen sich 3D-Bilder in der Ausbildung für Heilberufe außerordentlich effektiv einsetzen. Im Vergleich zu Abbildungen in Lehrbüchern sind 3D-Modelle viel wirkungsvoller: Studierende können sie genauso drehen, wenden und erkunden wie Organe in einem Sezierkurs – praktischerweise ohne all das Blut.
BioDigital aka das „Google Maps des menschlichen Körpers“ zählt zu den Unternehmen, die solche Untersuchungen in 3D ermöglichen. „Ärzte wie Patienten werden von einer Informationsflut überrollt“, findet Frank Sculli, der CEO von BioDigital. „Dank 3D-Technologie können wir Inhalte zugänglicher und ansprechender gestalten. Das fördert nicht nur das Verständnis, sondern auch die Wissensspeicherung.“ Die BioDigital-Plattform mit ihrem cloud-basierten 3D-Modell des menschlichen Körpers umfasst mehr als 5.000 anatomische Objekte, die bereits von über 2.500 Universitäten für die Lehre genutzt werden.
Und noch ein Unternehmen, das Bildung und Pflege im Gesundheitswesen mittels 3D-Technologie demokratisieren möchte: Die Londoner Firma Open Simulation entwickelt aktuell einen erschwinglichen Simulator für die chirurgische Ausbildung in Laparoskopie (Bauchspiegelung). Erklärtes Ziel des Unternehmens ist es, 2,2 Millionen OP-Mitarbeiter zu schulen, damit diese den 5 Milliarden Menschen helfen können, die keinen Zugang zu angemessener chirurgischer Versorgung haben. „Unsere Lösung wird besonders für ihre Erschwinglichkeit, die Interaktion in Echtzeit und die 3D-Visualisierung geschätzt“, erklärt Yeshwanth Pulijala, Leiter des Ressorts Medizinische Visualisierung bei Open Simulation.
Das US-amerikanische Unternehmen Medical Augmented Intelligence bietet interaktive 3D-Modelle des menschlichen Körpers für die Akupunktur-Ausbildung. Dabei tauchen die Studierenden in die virtuelle Realität ein, um einen digitalen menschlichen Körper zu studieren, über den sie ihre Hände bewegen können. Anhand eines Röntgenbildes von Muskeln und Nerven können sie dann bestimmen, an welchen Stellen Akupunkturnadeln gesetzt werden sollen. „Der Schritt vom abstrakten Bild zum konkreten Körper aus Fleisch und Blut fällt den Studierenden oft schwer“, so Sam Jang, CEO und Gründer von Medical Augmented Intelligence. „Für die Heilung verschiedener Krankheitsbilder werden häufig dieselben Akupunkturpunkte genutzt, nur dass sich Einstichwinkel und -tiefe unterscheiden. Für den Akupunkturpunkt ST36 z. B. gibt es drei verschiedene Verfahren, die zur Behandlung von drei verschiedenen Krankheiten dienen. Tiefe und Winkel für den Einstich der Akupunkturnadel sind bei jedem Verfahren unterschiedlich.
Neben der wirkungsvollen Wissensvermittlung ermöglichen die 3D-Technologien zudem eine kooperativere Lernumgebung in der erweiterten Realität. „Dank unserer Plattform können sich Studierende und Lehrer im virtuellen Raum treffen und austauschen – die Anreise zur Ausbildungsstätte fällt weg“, so Jang.
Bahnbrechende Erlebnisse und aktive Einbeziehung von Patienten
3D-Technologien, VR und AR eröffnen nicht nur für die Ausbildung in der Medizin völlig neue Wege. Verschiedene Unternehmen setzen diese Technologien auch ein, um Patienten besser in den Umgang, die Rehabilitation und die Therapie rund um Schmerzen, den Alterungsprozess oder auch Angstzustände einzubinden.
Das in Washington D.C. ansässige Unternehmen Floreo hat ein kollaboratives System entwickelt, das Kinder mit Autismus bei der Entwicklung bestimmter Fähigkeiten unterstützt, um ihre Unabhängigkeit zu fördern. Bei dieser innovativen Therapieform verwendet das Kind ein mobiltelefon-basiertes VR-System wie z. B. Google Cardboard, und eine erwachsene Betreuungsperson führt per Apple iPad durch die Unterrichtseinheit. „Kinder mit ADS und ihre Familien waren von diesem VR-Erlebnis durchweg begeistert“, so Vijay Ravindran, Mitbegründer und CEO von Floreo. „Der entscheidende Vorteil der VR-basierten Therapie beruht unserer Meinung nach darauf, dass sich die Lernumgebung ganz individuell auf den jeweiligen Anwender abstimmen und steuern lässt.“
Unternehmen wie Rendever und BuildVR zeigen anschaulich, dass der Einsatz von virtueller Realität im Gesundheitswesen nicht nur für Kinder und Jugendliche geeignet ist. Diese Firmen entwickeln und erstellen Tools, mit denen ältere Menschen ihr Wohlbefinden verbessern können. Dies geschieht durch kognitive Stimulation, neue Erfahrungen und die Chance, die räumlichen Einschränkungen zu überwinden, die durch körperliche Gebrechen oder die in der jeweiligen Pflegeeinrichtung vorhandenen Möglichkeiten bedingt sind. Marc Pascal ist Mitbegründer von BuildVR. Er erinnert sich an ein besonders bewegendes Erlebnis mit einem älteren Herrn aus Italien, der vor Rührung weinte, als er die SolisVR -Brille abnahm: „Er hatte die Hoffnung auf einen letzten Besuch in Venedig längst aufgegeben, und plötzlich fühlte er sich doch wieder wie in einer Gondel auf den Kanälen der Lagunenstadt. Und er wollte gern wissen, wann er das denn wiederholen könnte.“
Das VR-Gerät von Solis ist leicht, anwenderfreundlich und bequem für die Patienten zu tragen – sogar für solche, die sich der Erfahrung erst einmal verweigern. „Manche der Bewohner lehnten es rundheraus ab. Aber sie änderten ihre Meinung, als sie sahen, wie begeistert andere Bewohner davon waren“, erzählt Marc Pascal. Und weist darauf hin, dass die Inhalte im Zusammenhang mit VR für ältere Menschen die größere Herausforderung darstellen. „Sie müssen relevant, gut gefilmt oder gestaltet, visuell interessant und benutzerfreundlich sein. Jedes einzelne dieser Merkmale ist wesentlich!“
„Die Entwicklung von VR für ältere Erwachsene ist nicht nur im Hinblick auf die Inhalte mit besonderen Herausforderungen verbunden, sondern auch bezüglich der Software“, erklärt Dennis Lally, Mitbegründer und CEO von Rendever. „Virtuelle Realität kann isolierend wirken, aber mit unserer Software wird sie zu einer geselligen Erfahrung, über die sich Menschen austauschen können. Wir arbeiteten mit einem Demenzpatienten, dem das Sprechen normalerweise Probleme bereitet. Nachdem wir ihn mittels VR an einige Orte aus seiner Vergangenheit gebracht hatten, fing er an, uns dazu ganz detaillierte Geschichten zu erzählen.“
Solis: Eine Weltneuheit in der virtuellen Realität für die Altenpflege
Verstärkte Akzeptanz durch Forschung zum Einsatz virtueller Realität in der Medizin
Bei aller anfänglichen Begeisterung für diese Technologien ist zur virtuellen Realität im Gesundheitswesen noch jede Menge dokumentierte Forschungsarbeit erforderlich, bis sie großflächig eingeführt werden kann. „Theoretisch hat die VR großen Wert. Aber für eine breite Einführung dieser Lösungen brauchen wir klinische Studien, die den klinischen und den ökonomischen Wert für Gesundheitsdienstleister belegen“, so Josh Sackman, President von AppliedVR, einem Anbieter klinischer VR-Inhalte. „Für viele Menschen ist VR etwas völlig Neues, aber die Ergebnisse aus mehr als 20 Jahren wissenschaftlicher Forschung geben Hinweise darauf, wie Patienten und Medizinern durch VR geholfen werden kann. Um die Akzeptanz zu stärken, ist neben der ständigen Weiterentwicklung durch Wissenschaft und Forschung viel Bildung, Information und Öffentlichkeitsarbeit nötig.“
Das Unternehmen AppliedVR mit Hauptsitz in Los Angeles forscht zur Einsatzfähigkeit und Effektivität von VR; es veröffentlicht Fallstudien und White Paper zu einer großen Bandbreite von Themen, z. B. Angstzuständen und Depression. DeepStream VR ist ein Forschungsprojekt des US-amerikanischen Hightech-Unternehmens Firsthand Technology, das VR für den Einsatz in Schmerztherapie, Physiotherapie und Rehabilitation erforscht. Einige seiner Forschungsergebnisse zeigen, dass VR die körpereigenen Opioide im menschlichen Gehirn verändern kann und so eine verbesserte Schmerzlinderung ermöglicht, ohne dass Narkotika wie z. B. Morphin eingesetzt werden, die suchterzeugend wirken und deren Wirksamkeit im Verlauf einer Behandlung nachlässt.
Je weiter die Forschung auf diesem Gebiet voranschreitet, desto mehr werden sich VR und andere Technologien in allen Bereichen der Medizin und der Patientenversorgung durchsetzen. Ob in der Ausbildung der Behandler oder bei der Einbindung von Patienten: Das Gesundheitswesen ist reif für eine Revolution.