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Kreatives Gestalten direkt in der virtuellen Realität – die nächste Generation macht es möglich

create virtual reality people using VR headsets

Die Arbeitsabläufe von Städteplanern, Architekten und produzierendem Gewerbe befinden sich im radikalen Wandel. Bald werden Konstrukteure und Ingenieure in Echtzeit Produkte, Bauten und Städte in der virtuellen Realität (VR) gestalten.

Zur Vorhersage der rapiden Fortentwicklung der VR bietet sich die Frühgeschichte des Films als passende Analogie an. Als die ersten Filmkameras aufkamen, filmte man Darsteller vor einem Hintergrund aus Baumattrappen. Bis jemand den einfachen und zugleich revolutionären Einfall hatte, die Kamera im Wald selbst aufzustellen. Die VR-Technologie ist verfügbar, und es ist nur eine Frage der Zeit, bis ihr Potential vollends ausgeschöpft wird.

Was wir heute kennen: Räumliches Visualisieren

In einer maßgeschneiderten VR-Station im Büro der Firma John A. Martin & Associates in Los Angeles, wo ich die Gebäudedatenmodellierung (BIM) leite, schnallen sich die Kollegen Eye-Tracking-Headsets um und navigieren mit Handsteuergeräten durch mit BIM-Software gestaltete 3D-Modelle. Dank der Visualisierungsmöglichkeiten in diesem Umfeld sind strukturelle Unregelmäßigkeiten, die sonst leicht übersehen werden, für die Nutzer klar zu erkennen.

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So springen z. B. Balken, die nicht optimal mit ihrem Träger verbunden sind, in der VR unmittelbar ins Auge. Natürlich geht das auch ohne VR-Headset, aber voll in eine 3D-Umgebung einzutauchen, gibt einem das Gefühl, tatsächlich physisch vor Ort zu sein. Dadurch wird es einfacher, fehlerhaft platzierte Bauteile frühzeitig aufzuspüren.

In der Entwicklung der VR als Visualisierungstool — ihrem vornehmlichen Einsatzbereich in Architektur, Ingenieurwesen und Baugewerbe — gab es erhebliche Fortschritte, und zwar sowohl unternehmensintern als auch in der Kommunikation mit Auftraggebern. Dank der Verwendung mobiler „Point and Click“-Lasersteuerungen bewegen sich Ingenieure und Planer wie im Ego-Shooter-Videospiel durch 3D-Renderings. Sie können Treppen hochschweben, sich von einem Flurende zum anderen beamen oder aus Fenstern hochgeschossiger Bauten spähen. Echt clever!

Entwurfsvisualisierungen verhelfen Unternehmen auch dazu, Ideen bei ihren Projektpartnern anzubringen. Durch die Bereitstellung von 3D-Baumodellen als spielbare „Videogames“ mit VR-fähiger Software wie etwa Revit Live, 3ds Max oder Enscape können Planer die Auftraggeber und Bauherren in virtuelle Schauräume der geplanten Bauvorhaben einladen.

Was morgen kommt: Kreatives Gestalten

Diese Beispiele können das Potential der VR nur ansatzweise verdeutlichen. Die nächste große Chance für Entwickler und Ingenieure wird über bloße Visualisierung hinausgehen, um tatsächlich Strukturen und Produkte direkt in der VR zu gestalten.

Großartig wirkt sich die VR in Revit-Programmen aus: Wäre es nicht genial, wenn man ein Eye-Tracking-Headset aufsetzen und allein durch Bewegen der Hände und Handgelenke einen festen Halt erreichen, ein Modell skalieren, es anordnen, verschieben, um die eigene Achse drehen und seine Form verändern könnte?

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Solch ein Szenario ist gar nicht so abwegig. Programme wie Google Tilt Brush, mit dem man in einer virtuellen 3D-Umgebung malen kann, machen deutlich, welche Art der Gestaltung bei VR-Projekten im Kommen ist: Durch einfaches Handgelenkkreisen im Maltool lässt sich ein Gegenstand in der VR-Umgebung färben. Derlei physikalisch empfindliche Gestaltungsfunktionen sind bei den VR-Plattformen, die von den meisten Architekten und Herstellerbetrieben genutzt werden, nicht verfügbar, ließen sich aber ohne weiteres integrieren.

Es gibt 3D-Gitternetz- und Oberflächenmodellierer, mit denen Planer geschmeidig gebogene, organische Formen entwerfen – Karosserien, Schutzdächer und dergleichen –, die jedoch unter Verwendung umständlicher Mausbewegungen und Tastaturbefehle an einem 2D-Bildschirm entstehen. Zur Bearbeitung von Knotenpunkten und Linien ziehen die Nutzer den Cursor mühevoll über den Schirm, was im Zeitalter der VR nicht der geschickteste Weg ist, um Dinge auszuführen.

Würden Planer direkt in der VR gestalten, anstatt konventionelle Desktop-Software zu nutzen, könnten sie um Rückwände herumspähen und sich an schwer zugängliche Orte wie Fugen und Formteile teleportieren. Würden Kreative in dichterem, besser justierbarem Abstand zu ihrem Objekt arbeiten, könnten sie organischere Formen mit einem höher differenzierten Detaillierungsgrad gestalten. Vor sehr langer Zeit lernten Künstler und Handwerker, Stein und Ton mit den Händen zu bearbeiten – und auch wenn sich diese Fertigkeit nicht unmittelbar auf die Gegebenheiten der Entwicklung von Gebäuden oder Automobilen übertragen lässt, besteht die Möglichkeit, sie auf virtuellem Wege neu zu beleben.

Was sich ändern muss: Mehr Interaktivität

Bevor sich die VR bei Städteplanern, Architekten und im Gewerbe flächendeckend als Erstellungswerkzeug durchsetzen kann, besteht für die Software weiterer Entwicklungsbedarf. Der heutige Stand der Spiel-Engine-Technologie erlaubt den Benutzern meist nur sich umzuschauen, aber nicht Objekte zu berühren oder direkt zu bearbeiten. Will man zum Beispiel ein Modell in der VR ansehen und eine Balkenkorrektur vornehmen, muss man das Headset abziehen, es hinlegen, den Balken in der Autorensoftware ausfindig machen, mit Maus und Tastatur die Änderung vornehmen, das Modell im Spiel-Engine-Viewer aktualisieren, das Headset wieder aufziehen, und überprüfen, ob die Änderung umgesetzt ist. Dieser Workflow ist umständlich und zeitraubend.

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Die Zukunft der virtuellen Realität muss mehr bieten, sodass man es sich bald sparen kann, das Headset abzuziehen und Änderungen per Maus- oder Tastaturangabe durchzuführen. Architektur- und Fertigungssoftware sollte die Handsteuergeräte und die dreidimensionale Umgebung der VR vollumfänglich nutzen und im Erfahrungsraum Tools bereitstellen, um mit 3D-Modellen zu interagieren und an ihnen Bearbeitungen durchzuführen.

Ein zusätzlicher Stolperstein ist die unzureichende automatisierte Interaktivität innerhalb der VR. Jegliche Aktion, die ein Nutzer in der VR ausführen könnte – einen Balken bewegen, ein Fenster öffnen, oder ein Licht anschalten –, muss von einem erfahrenen Spiel-Engine-Programmierer vorprogrammiert werden, damit sie interaktiv wird. Eine bessere Lösung wäre wohl die Automatisierung dieser Prozesse. So ließe sich zum Beispiel das Revit-3D-Modell automatisch in eine Spiel-Engine-Umgebung umwandeln, die für VR geeignet ist – mit vorprogrammierter Interaktivität, sodass ein Nutzer innerhalb der virtuellen Umgebung jederzeit eine Wand bewegen, eine Tür öffnen oder ein beliebiges Bauteil verbiegen kann.

Informationsmodellierung hat etwas beinahe Lebendiges bzw. Atmendes an sich: Die Parameter von Gebäuden, Türen, Fenstern, Tischen oder medizinischen Geräten sind durchweg flexibel. In den meisten Spiel-Engine-basierten Technologien, die heute zum Einsatz kommen, sind diese Elemente statisch, bis jetzt jedenfalls. Die VR entwickelt sich weiter. Sind Sie bereit für die nächste Version?

Über den Autor

Marcello Sgambelluri ist aktuell Leiter der Gebäudedatenmodellierung bei John A. Martin & Associates in Los Angeles. Seit 18 Jahren hat er als Projektmanager, Entwicklungsingenieur und Verantwortlicher zahlreiche Projekte des Ingenieurbüros mitgestaltet, u. a. die Walt Disney Concert Hall in Los Angeles, das MIT Stata Center in Cambridge (Massachusetts) sowie die Erweiterung des Tom Bradley International Terminal am Flughafen von Los Angeles. Sgambelluri studierte Bauingenieurwesen und ist staatlich geprüfter Bauingenieur und Tragwerkplaner.

Profile Photo of Marcello Sgambelluri - DE