Im virtuellen Büro von Steelcase gibt es Möbeldesign von morgen zu erleben
Normalerweise verbindet man Abfalleimer nicht unbedingt mit Innovation. Doch im Jahr 1914 erhielt ein US-Möbelhersteller aus Grand Rapids in Michigan ein Patent für revolutionäres Produkt: einen soliden, langlebigen, feuersicheren und preisgünstigen Behälter zur Entsorgung von Büromüll.
Über ein Jahrhundert später hat sich Steelcase mit 60.000 Produkten und 20.000 verschiedenen Ausführungen als Anbieter in den Bereichen Architektur, Möbel und Technologie etabliert. Und seit dem ersten patentierten Design steht Innovation im Zentrum der Unternehmenskultur.
Bei der jüngsten designtechnischen Neuerung von Steelcase handelt es sich um einen virtuellen Ansatz – eine neue Innovation zur Unterstützung der Planung, Montage und Vermarktung seiner Produkte. „Wenn Sie Kunden erläutern möchten, dass es sich bei einem Objekt ‚um ein kleines Büro, einen kleinen Flur oder auch einen großzügig geschnittenen Flur’ handelt, fällt es ihnen oft schwer, sich ein konkretes Bild von dem jeweiligen Raum zu machen“, erklärt Steve Goetzinger von Steelcase die Tücken herkömmlicher Bauzeichnungen.
Als leitender Berater für Anwendungstechnik und Innovator des Hauses setzte sich Goetzinger mit seinem Team zusammen, um dieses Dilemma zu lösen, indem sie einen dreidimensionalen Raum gestalteten und ihn mittels virtueller Realität (VR) zum Leben erweckten. Konkret wird diese Visualisierung als virtueller Büroraum oder Virtual Office Space (VOS) bezeichnet – und sie ist ein perfektes Beispiel für die Unternehmenskultur des Experimentierens und Weiterentwickelns, die Steelcase seit jeher prägt.
Das VOS begann Goetzinger zufolge in einem „ziemlich horizontalen“ Umfeld, aber nach kurzer Zeit fing sein Team an zu experimentieren und gewann auf natürliche Weise Einblicke in seine Funktionsweisen. „Als wir mit der Testphase begannen, lagen wir insbesondere damit richtig, auf Iterationen zu setzen”, erklärt Goetzinger. „Auf diese Weise fingen wir damit an, sukzessive Pflanzen und Menschen hinzuzufügen, um besser zu verstehen, wie sich diese auf die jeweiligen Interaktionen auswirken.“
Ein Fenster zu einer anderen Welt
Statt spezieller Headsets oder sonstiger extravaganter Technologien kommen bei VOS lediglich drei 70-Zoll-Monitore zum Einsatz, wobei die äußeren Bildschirme in einem Winkel von ungefähr 40 Grad angeordnet sind, um das volle periphere Blickfeld des Betrachters abzudecken. „Wenn wir mehrere Architekten und Planer vor diese Bildschirmen setzten, konnten wir unmittelbar feststellen, dass sie sich zu unterhalten und zu gestikulieren begannen und die Technologie in den Hintergrund trat“, erzählt Goetzinger.
Als das Team das VOS-System dem Vorstand vorstellte, waren dessen Mitglieder gleich überzeugt davon. Danach verlagerten sich die Prioritäten darauf, die Kosten und den Aufwand zu reduzieren sowie Partner zur Bereitstellung der besten Software-Lösungen zu gewinnen. Abgesehen von der Schaffung einer virtuellen Welt, in der Architekten, Kunden und Steelcase-Mitarbeiter kostengünstig und ohne Zeitverlust oder aufwendige Installationen zusammenarbeiten können, birgt VOS zudem das Potenzial, jede Menge Papier einzusparen – und Sprachbarrieren zu überwinden. Goetzinger hat bereits begonnen, mittels Autodesk Forge und dem Einsatz von dreidimensionalen Montagemodellen damit herum zu experimentieren.
„Angesichts von 60.000 Produkten können Sie sich vorstellen, dass bei uns jede Menge Papier anfällt“, bemerkt Goetzinger. „Zu jedem einzelnen Produkt stellen wir begleitende Informationen in sieben Sprachen bereit. Die dreidimensionalen Montagemodelle kommen hingegen ohne Text aus: Es handelt sich dabei um eine 3D-Umgebung auf einer Webseite. Wenn man etwas nicht genau sehen kann – wie beispielsweise eine Schraube, die an einer Seite befestigt wird, oder was auch immer –, kann das Objekt einfach rotiert und die Präsentation wiederholt werden. Mein Lieblingsvergleich: Ein Bild sagt mehr als tausend Worte, ein 3D-Modell mehr als eine Million Worte. Es handelt sich dabei um eine unglaubliche Anwendung, die sich auch bei der Schulung unserer Monteure bereits bewährt.“
Nicht nur eine coole Spielerei
Der Wow-Faktor ist unbestritten: Wie aber wirkt sich VOS auf die für Anleger und Aktionäre so wichtige Profitmarge aus? Zum einen könnte es dadurch überflüssig werden, Prototypen herzustellen und diese dann zur Begutachtung an die Standorte der Kunden zu senden. Und da die Produktinformationen vollkommen digitalisiert und erfasst werden, ist es denkbar, dass Big Data zur individuellen Berücksichtigung bestimmter Themen oder Präferenzen eingesetzt werden kann, die menschlichen Planern oder Architekten möglicherweise niemals aufgefallen wären.
Zudem führt der technologische Hype auch dazu, dass der Name eines Unternehmens den Nutzern in Erinnerung bleibt (man denke bloß an Apple), sein Ruf als technologischer Vorreiter gefestigt und es in eine solide und ausbaufähige Marktposition versetzt wird.
Goetzinger erzählt von einer Steelcase-Veranstaltung, bei der 800 Vertretern des nordamerikanischen Vertriebsnetzwerks gesagt wurde, dass sie an einer Tour durch das Steelcase Innovation Center teilnehmen würden – an einem streng geheimen Ort, an dem sich das gesamte geistige Eigentum des Unternehmens befindet. Den Vertretern wurde allerdings nicht mitgeteilt, dass die Tour vollkommen virtuell erfolgen würde. Da aber alle Teilnehmer von der VOS-Technologie extrem beeindruckt waren, beschwerte sich auch niemand darüber, dass nicht das wirkliche Innovation Center besucht wurde. Stattdessen wollten viele Händler wissen, wie sie sich die Technologie im Umgang mit ihren eigenen Kunden zunutze machen könnten.
Gaming ohne fette Bomben
Es gibt ein weiteres überraschendes Detail, das erklärt, warum eine virtuelle Ansicht Ihres Arbeitsplatzes so effektiv sein kann: Gaming. Steelcase entwickelte VOS mit Partnerunternehmen, die im Gaming-Bereich tätig sind, und Goetzinger bezeichnet VOS als eines der größten Spiele überhaupt – es besteht aus 60 GB Daten und läuft im Wesentlichen über Gaming-Software und Server.
„Bei der ersten Präsentation stellten viele Testpersonen Fragen wie ‚Wie aktiviere ich meine Axt oder meine Granaten’ oder ‚Wie jage ich diesen Stuhl in die Luft’“, erzählt Goetzinger. „Wir alberten herum und sagten, dass wir das spaßhalber wirklich einmal tun sollten, aber in Wahrheit handelt es sich dabei um dieselben Funktionen. Man benötigt dazu genau die gleichen Bewegungen und dasselbe Verständnis. Wenn man den Leuten bei diesen Tours durch das Innovation Center zusieht, wie sie auf den Bildschirm zeigen und sich miteinander unterhalten, wird einem bewusst, dass es sich für sie um ein bedeutendes emotionales Ereignis handelt, eine Raumbegehung zu machen, ohne dafür einen Flieger nehmen oder irgendwelche Verzichtserklärungen unterschrieben zu müssen.“
Dieser Faktor könnte den Ausschlag über den Abschluss eines Verkaufs geben. Ein jeder Marketingprofi für den Konsumbereich wird Ihnen erklären, dass viele Kaufentscheidungen durch Emotionen (und nicht die Vernunft) ausgelöst werden – und dass die emotionale Beziehung, die Nutzer zu einer realen Umgebung aufbauen, unmöglich durch zweidimensionale Pläne oder eine Betriebsanleitung ausgelöst werden kann.
Der mobile Einsatz von VOS stellt für Goetzinger einen bedeutenden künftigen Meilenstein dar. Aufbauend auf seinen festen Installationen im US-amerikanischen Grand Rapids und in München beabsichtigt Steelcase, auf der ganzen Welt Vorführungsräume anbieten zu können. Zur Umsetzung ist eine enge Zusammenarbeit mit Partnern aus dem Software- und Hardware-Bereich notwendig.
Aber in einem etwas philosophischeren Sinn besteht Goetzingers Aufgabe als Innovator einfach darin, die Augen offen zu halten. „Ich werde oft gefragt, wie unsere Pläne für die nahe Zukunft aussehen. Die meisten Unternehmen betrachten in einem solchen Zusammenhang Zeiträume von drei oder fünf Jahren. Doch mein zeitlicher Horizont blickt nicht über 12 Monate hinaus – weil wir nicht vorausahnen können, wie sich die Branche verändern wird. Immerhin konnten wir in der jüngsten Vergangenheit bereits mehrere grundlegende Umwälzungen hautnah miterleben.“