Bogotás neue Metro hebt die Stadtverkehrsplanung auf eine völlig neue Ebene
Um ihr Bus-Rapid-Transit-System (kurz BRT) wird die kolumbianische Hauptstadt Bogotá weltweit beneidet. Es gilt als kostengünstige und umweltfreundliche Lösung, mit der sich der große Bedarf an öffentlichen Verkehrsmitteln effizienter decken lässt als mit herkömmlichen Bussen. Das Busnetz TransMilenio mit einer Gesamtlänge von knapp 100 Kilometern gehört zu den besten BRT-Systemen der Welt. Die Busse verkehren hierbei auf separaten Busspuren und Fahrkarten müssen – ähnlich wie in einer Metro – häufig vor dem Einsteigen gelöst werden. Aber trotz der vielen Lorbeeren, die es in Stadtplanerkreisen erntet, stößt das BRT-System mittlerweile an seine Belastungsgrenze. Demonstrationen und sogar Ausschreitungen, mit denen die Fahrgäste gegen die Überfüllung, Preisgestaltung und langen Wartezeiten protestieren, sind daher an der Tagesordnung.
Hier kommt das auf Stadtverkehrsplanung spezialisierte Ingenieurbüro SYSTRA mit Sitz in Paris ins Spiel. „Um mit dem Bevölkerungswachstum in Bogotá Schritt zu halten, muss ein metroähnliches Verkehrssystem her“, sagt Pierre Gosset, Chief Technical Officer bei SYSTRA. Das Unternehmen arbeitet schon seit Jahrzehnten an der Planung eines für den Massenverkehr ausgelegten, schienengebundenen Metrosystems für Kolumbiens Hauptstadt. Die neue Infrastruktur kann gar nicht schnell genug kommen: Prognosen zufolge wird Bogotás Bevölkerung bis zum nächsten Jahr auf 8,3 Millionen Menschen anwachsen. Hinzu kommt, dass Bogotá laut einem vom Verkehrsdatendienst INRiX veröffentlichten Ranking zu den 15 staureichsten Hauptstädten der Welt zählt.
Planung des Routenverlaufs
Für die Konzeption des Metrosystems für Bogotá hat SYSTRA Computersimulationen durchgeführt, um die Zeit zu bestimmen, die die Züge zwischen beziehungsweise an den einzelnen Stationen benötigen. So konnte das Unternehmen dieses Verkehrsmittel mit anderen vergleichen und abwägen, mit welchen Kosten beim Erwerb von Land für den Bau oberirdischer beziehungsweise unterirdischer Trassen zu rechnen ist.
An dieser Rechnung feilt die rasant wachsende Stadt schon seit einer ganzen Weile. SYSTRA ist seit den 1980er Jahren an Bord, doch die Planungen für Bogotás Metro gehen bis in die 1940er Jahre zurück, als die Stadt noch keine Million Einwohner hatte.
Der Ausbau des städtischen Nahverkehrssystems soll in drei Bauabschnitten erfolgen: Im ersten Abschnitt ist der Bau einer neuen Metrolinie vorgesehen, die sich auf etwa 24 Kilometer erstreckt und 16 Stationen umfasst. Sie soll bis 2027 fertiggestellt werden. Diese Linie wird im zweiten Bauabschnitt, der bis 2030 abgeschlossen sein soll, zunächst auf 29 Kilometer und 19 Stationen und im dritten Abschnitt bis 2050 schließlich auf 38 Kilometer und 35 Stationen erweitert.
Der Beginn der Bauarbeiten ist für Ende 2022 geplant; gebaut wird von Südwesten nach Norden, entlang dem Mittelstück der Hauptverkehrsachse Avenida Caracas. An der Festlegung des genauen Routenverlaufs haben SYSTRA und die Stadtverwaltung 18 Monate lang gearbeitet.
Nach Fertigstellung des ersten Abschnitts wird die vollautomatische Metro 36.000 Menschen pro Stunde und Richtung befördern können. Mit den späteren Erweiterungen kann der Mindestabstand zwischen den einzelnen Zügen letztlich von 180 auf 100 Sekunden gesenkt werden, was die Kapazität auf 65.000 Passagiere pro Stunde und Richtung anhebt. Dank der Verzahnung des BRT-Systems mit dem Metrosystem wird auch „das Busnetz komplett umgestaltet werden“, ist Gosset überzeugt.
Die Kosten für das Projekt werden zu 70 Prozent von der kolumbianischen Regierung getragen. Zusätzlich wirbt Bogotás Bürgermeister, der mit ambitionierten Nahverkehrsprojekten bereits Erfahrung hat, vor Ort um Geldgeber. Schon die Einführung des TransMilenio-Bussystem im Jahr 2000 geht auf Bürgermeister Enrique Peñalosa zurück. Nachdem er danach zweimal erfolglos für das höchste Amt in der Stadt kandidierte, wurde er 2015 wiedergewählt – und die Metro zählte zu seinen zentralen Wahlkampfversprechen.
Frühere Planungsstadien sahen den Bau einer Untergrundbahn vor. Letztlich entschieden SYSTRA und die Stadt Bogotá sich jedoch aus haushaltstechnischen Gründen (Einsparungen von 28 Prozent) sowie Effizienzerwägungen (Verringerung der Bauzeit um 24 Monate) für ein Hochbahnsystem. Um den Zeitplan einzuhalten, muss die Bauplanung für die Metro zudem engmaschig mit anderen großangelegten Stadtentwicklungsvorhaben abgestimmt werden.
Von der Idee zum Konzept
Bei der Gestaltung der Metrostationen setze man Gosset zufolge auf Individualität statt Einheitslook. An einigen Stationen soll zudem ein direkter Umstieg in die TransMilenio-Busse möglich sein. Anstatt einen Stararchitekten für das Projekt zu engagieren, der die Stationen zusammen mit SYSTRA entwirft, hat die Stadt Bogotá die französische Firma selbst mit der Erstellung der Baupläne beauftragt. Teilweise soll es Verbindungsbrücken zwischen einzelnen Stationen und den angrenzenden Gebäuden geben. Das so entstehende komplexe Gebilde, das High-Tech-Elemente mit biomorphen Wellen und Kurven vereint, bekommt dadurch ein futuristisches Aussehen.
Dadurch, dass die Metro als Hochbahn konzipiert ist, wird sie das Stadtbild Bogotás nachhaltig prägen. In Städten wie Chicago hat dies dazu geführt, dass das Nahverkehrssystem geradezu zum Wahrzeichen der Stadt geworden ist. Ein Beispiel für eine ähnlich identitätsstiftende Wirkung in Deutschland ist die Wuppertaler Schwebebahn. Den Architekturstil der Metroinfrastruktur in Bogotá beschreibt Gosset als „leicht“ und „fließend“; Beton wird nur spärlich eingesetzt. Die strahlend weißen, nach oben offenen Stationen verfügen über Sonnendächer und durchlässige, grüne Wände, die das warme und milde Klima der Stadt aufgreifen.
Ein Schlüsselelement, das bei der Bewertung der Hochbahn nach umweltbezogenen und ästhetischen Gesichtspunkten eine Rolle gespielt und den Entscheidungsprozess maßgeblich vorangetrieben hat, war die Tatsache, dass SYSTRA ein Gebäudedatenmodell (BIM) der gesamten Infrastruktur erstellen konnte, das sowohl die städtebaulichen Gegebenheiten in der direkten Umgebung als auch das TransMilenio-System mit einbezog. Für seine Arbeit wurde das Unternehmen bei der BIM d‘Or-Preisverleihung, die einmal im Jahr von dem Wochenmagazin Le Moniteur ausgerichtet wird, mit dem BIM d’Argent-Preis ausgezeichnet. Gewürdigt wurde die Erstellung eines BIM-Ausschreibungsentwurfs, der die gesamte Systeminfrastruktur beinhaltet (wobei die Autodesk-Programme Revit, Civil 3D, InfraWorks, Navisworks und Dynamo zum Einsatz kamen). Die Gebäudedatenmodellierungsprozesse des Unternehmens haben nicht nur die effiziente Zusammenarbeit zwischen den Teams in Bogotá und Paris sichergestellt, sondern auch die reibungslose Zusammenführung aller Gestaltungsentwürfe. Auch für die beteiligten Subunternehmen werden die erweiterten Ausschreibungsdaten sich als wertvolle Hilfestellung erweisen.
In Gossets Augen ist das Schienennetz gleichbedeutend mit einer „Ökologiewende“ für Bogotá. Da die Metro mit Strom betrieben wird, stellt sie eine geringere Umweltbelastung dar als die Dieselbusse, die ihrerseits bereits zu einer deutlichen Senkung der Umweltverschmutzung in der Stadt beigetragen haben. Er geht außerdem davon aus, dass sich das Fahrerlebnis im Vergleich zu den Bussen verbessern wird und dass die automatisiert verkehrenden, fahrerlosen Züge sich als effizienter und flexibler erweisen werden.
„Die Züge werden im Betriebsablauf viel dynamischer und besser regulierbar sein“, so Gosset. „Während der Stoßzeiten kann man mehr Züge auf der Strecke einsetzen, außerhalb weniger. Auch auf die Nachfrage lässt sich punktgenau reagieren.“
Will man die maximale Kapazität herausholen, muss man möglichst viele Züge in möglichst kurzen Abständen auf die Schienen schicken. Folglich haben Sicherheitsaspekte bei dem neuen System einen noch größeren Stellenwert als bei dem BRT-System allein. „Bei einer Metro können völlig anders geartete Betriebsstörungen und Unfälle auftreten, als man sie bei Bussen erlebt“, erläutert Gosset.
Ein Aspekt, der bei der Planung von Nahverkehrssystemen immer eine Rolle spielt, ist in Südamerika von besonderer Bedeutung: die Anbindung benachteiligter Bevölkerungsgruppen, die am Stadtrand wohnen, ans Stadtzentrum, wo es die besseren Arbeitsplätze gibt. So diente der Bau von Bogotás neuer Seilbahnlinie TransMiCable, die das Stadtviertel Ciudad Bolivar an das wirtschaftliche Zentrum der Stadt anbindet, vor allem der Verbesserung der Lebensbedingungen im Viertel.
Gosset ist der Meinung, dass jeder Baustein eines Verkehrskonzepts zusätzliche Bausteine nach sich zieht: ein positiver Verstärkungseffekt der autofreien Stadtplanung. Der Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs ist für eine wachsende Bevölkerung mehr als die Lösung eines akuten Problems; er ist der Stein, der alles ins Rollen bringt. Denn, wie Gosset ausführt, schlägt sich eine verbesserte Verkehrssituation in höheren Lebensstandards nieder, was wiederum mehr Menschen in die Stadt zieht und langfristig eine Steigerung der Transportkapazitäten zur Folge hat. „Je mehr Menschen sich in der Stadt niederlassen, desto größer ist die Nachfrage nach zusätzlichen Nahverkehrsangeboten“, stellt er fest. „Und das heißt, dass es in der Regel nicht bei einer Linie bleibt. Meistens kommt in fünf bis zehn Jahren eine zweite Linie hinzu, dann eine dritte und eine vierte.“