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Sport ist Mord? Ein neuer Rückenprotektor verspricht mehr Sicherheit

spine protector dominik doppelhofer

Helme, Knieschoner oder Handschuhe sind in vielen Sportarten gang und gäbe – doch ausgerechnet für die Wirbelsäule gibt es bislang kaum adäquate Schutzausrüstung. Nun will ein österreichisches Start-up die Rückenprotektion revolutionieren.

Laut einer 2016 im Journal of Spinal Cord Medicine veröffentlichten Studie führen Russland, Fidschi, Neuseeland, Island, Frankreich und Kanada die Liste der Länder mit den meisten durch Sportunfälle verursachten Rückenmarksverletzungen an. Turmspringen, Skifahren, Rugby und Reiten sind die Sportarten mit dem höchsten Risiko. Weltweit besteht in vielen Ländern Helmpflicht für Fahrrad- und Motorradfahrer, während entsprechende Normen und Vorschriften für Rückenprotektoren fehlen.

Bei der Mehrzahl der derzeit erhältlichen Rückenprotektoren handelt es sich um Schutzausrüstung für Motorradfahrer in Form von Korsetten mit Stützstäben, Lenden- oder Nierengurten, die den Bewegungsraum einschränken bzw. Stöße abfangen. Ihre Wirksamkeit liegt bei vier Prozent, wie ein Grazer Forschungsteam herausgefunden hat. Deswegen arbeitet man dort an der Entwicklung eines neuartigen Rückenprotektor-Systems, das sich wie eine zweite Haut um den Körper schnallen lässt. Rumpfbewegungen sind damit nur innerhalb eines sicheren Bereichs möglich. Wird dieser überschritten, fangen die Sicherheitsgurte die überschüssige Rotationskraft ab und verhindern Überdrehungen der Wirbelsäule.

Der Rückenprotektor von Edera Safety schützt die Wirbelsäule
Der Rückenprotektor von Edera Safety schützt die Wirbelsäule. Mit freundlicher Genehmigung von Edera Safety.

Thomas Saier, der Mitgründer und CEO von Edera Safety, dem Designstudio hinter dem Rotational Spine Protection (RSP) System, befasste sich mit medizinischen Studien zu den Risikofaktoren und körperlichen Schwachstellen, an denen Rückenmarksverletzungen am ehesten auftreten. Dabei stellte sich heraus, dass Rotationsverletzungen durch Überdrehung der Wirbelsäule fünfmal so häufig vorkommen wie Prellungen durch direkte Stöße bzw. stumpfe Schläge.

„Es handelt sich um biomechanische Verletzungen“, erläutert Saier. „Der natürliche Bewegungsspielraum wird überschritten. Verletzungen entstehen dadurch, dass das Rückenmark zerquetscht, durchtrennt bzw. abgeschert wird.“

Die Grenzen der Bewegungsfreiheit

Das Rückenprotektor-System, das Saiers Team unter der Eigenmarke adamsfour entwickelte, trägt diesen Erkenntnissen Rechnung. In einem ersten Schritt wurde untersucht, an welchen Stellen diese potenziell schädlichen Kräfte bei extremen oder plötzlichen Bewegungen auf die Wirbelsäule einwirken. Dazu wurde ein speziell entwickelter Crashtest-Dummy mit Sensoren und einer rotierenden Wirbelsäule Rotationskräften aus unterschiedlichen Richtungen ausgesetzt.

Nach Auswertung der bei diesen Versuchen erfassten Daten konzentrierte sich Saiers Team bei der weiteren Forschung auf die thorako-lumbale sowie die lumbo-sakrale Region, die am stärksten von Rotationskräften und den dadurch bedingten Verletzungen betroffen sind. Zusätzliche Daten zur Biomechanik der Wirbelsäule gewann man aus der Arbeit mit Versuchsobjekten aus dem „Leichenkeller“ des Instituts für Anatomie an der Medizinischen Universität Graz.

Vier verschiedene Iterationen des Entwurfs für den Rotational Spine Protector. Mit freundlicher Genehmigung von Edera Safety.
 
Mit freundlicher Genehmigung von Edera Safety.

 

 

Mit freundlicher Genehmigung von Edera Safety.

Eine entscheidende Entdeckung betraf die natürlichen Grenzen der Bewegungsfreiheit bei zwei unterschiedlichen Bewegungsarten. Das Team fand heraus, dass der menschliche Körper nur ca. 60 Prozent seines Bewegungsspielraums durch Einsatz aktiver Muskelkraft erreicht; über diesen Bereich hinaus trägt das passive Gelenkspiel zwischen den Knochen (insbesondere den Rückenwirbeln) die Belastung.

Entsprechend ging es bei der Entwicklung des neuen Rückenprotektors nicht um die Begrenzung der durch Muskeleinsatz erreichten Bewegungen, sondern vielmehr um die Einschränkung der passiven Bewegungsfreiheit bzw. des Gelenkspiels. Wenn hier die natürlichen Grenzen des menschlichen Körpers überschritten werden, muss das RSP-System die überschüssigen Kräfte abfangen.

Ein neuartiger Ansatz

In einem zweiten Schritt galt es, anhand der gewonnenen Erkenntnisse über Wirbelsäulenbewegungen ein neuartiges Rückenprotektor-System zu entwickeln, das sich bei schädlichen Verdrehungen sperrt, ohne den Körper in eine Rüstung zu zwängen, die ihm jegliche Bewegungsfreiheit nimmt.

Dann kam Saier auf die Idee, mit Generativem Design zu arbeiten. Er wusste, dass das kalifornische Start-up Hack Rod diesen Ansatz mit Unterstützung von Autodesk bereits 2016 erfolgreich zur iterativen Entwicklung eines Hotrod-Fahrwerks genutzt hatte. Das Potenzial für das eigene Projekt habe für ihn auf der Hand gelegen, erklärt er: „Bei physischen Crashtests in der Prüfanlage kann man jeweils nur eine Bewegungsart simulieren. Sport ist aber eine komplexe Angelegenheit mit unzähligen Variationen – erst in der Praxis zeigt sich, wie viel Krafteinwirkung ein System wie unseres tatsächlich aushalten muss.“

Bei der Prototypen-Entwicklung arbeitete adamsfour mit Fusion 360 von Autodesk, um die Simulation mit Echtzeitdaten zu füllen. Dazu integrierte Saiers Team weitere Sensoren und eine App, um zuverlässige Messwerte zu allen relevanten Kräften zu erhalten. Diese Daten wurden dann in den Algorithmus der Software eingespeist.

Die auf diese Weise generierten Entwürfe musste René Stiegler, der bei adamsfour als Sportler vom Dienst für die Produktgestaltung zuständig ist, anschließend mit dem Ziel einer möglichst gebrauchstauglichen Lösung überarbeiten. „Die Ergebnisse, die der Algorithmus ausspuckte, waren ein bisschen zu extrem, die hätte man in dieser Form nicht auf den Markt bringen können“, wie er diplomatisch formuliert. „Wir mussten einen Gang zurückschalten, damit ein Produkt herauskam, das die Leute auch wirklich tragen wollen.“

Das RSP-System soll auf dem B2B-Markt an andere Hersteller vertrieben werden, die es dann in ihre eigenen Produkte einbauen können. Verträge mit drei großen Sportmarken stehen bereits kurz vor der Unterzeichnung, obwohl adamsfour sich erst in der Vorproduktionsphase befindet.

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Thomas Saier, der CEO von Edera Safety, bei der Arbeit an einem Entwurf für das RPS-System. Mit freundlicher Genehmigung von Edera Safety.

„Je nachdem, welche Parameter man vorgibt, erhält man eine Menge Vorschläge für die Struktur“, so Saier. „Die Software generierte die geometrischen Entwürfe, auf deren Grundlage wir dann das Endprodukt entwickelten. Man muss das eigene intuitive Know-how und die Kompetenzen des Designteams einbringen, damit ein marktfähiges Produkt herauskommt.“

Ein Vorteil dieses Ansatzes bestand darin, dass sich basierend auf den berechneten Krafteinwirkungen das benötigte Material reduzieren ließ. „Wenn wir nicht mit Generativem Design gearbeitet hätten, hätten wir wohl mehr Material verwendet bzw. das Produkt schwerer gemacht“, so Stiegler. „Die Software sagt uns quasi, wie hoch die Belastung ist, die das Produkt aushalten muss, bzw. wie dick das Material sein muss. Die Entscheidung, wie wir diese Vorgaben in unserem Endprodukt letztlich umsetzen, liegt bei uns. Man kann sich das vorstellen wie ein Gerüst bzw. einen Kern, um den herum das ganze System aufgebaut wird.“

In der nächsten Phase wollen Saier und sein Team zusätzliche Testfahrer mit Sensoren zur Erfassung weiterer Daten ausstatten, mit deren Hilfe das aktuelle Produktdesign weiter präzisiert werden soll.

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Daniel Krobath macht sich startklar zum Praxistest des RSP-Systems im österreichischen Schladming. Mit freundlicher Genehmigung von Edera Safety.

Probe aufs Exempel

Was haben die ganzen Simulationen, Datenanalysen und Präzisierungen letztlich für das Nutzungserlebnis gebracht? Wie einfach lässt sich der Protektor anlegen – und vor allem: Wie bequem und wie wirksam ist er tatsächlich?

Ausschlaggebend war vor allem das richtige Material. Es musste sich gut schneiden und formen lassen, ohne an Stärke zu verlieren, und ausreichende Reibungseigenschaften aufweisen, um auch auf schweißnasser Haut oder rutschiger Kleidung einen festen Sitz zu gewährleisten. Die Lösung fand sich in Form eines Elastomers namens chlorsulfoniertes Polyethylen, das u. a. bei der Herstellung von Schlauchbooten zum Einsatz kommt.

„Es ist bequem zu tragen“, sagt der Mann, der es wissen muss: Downhill-Mountainbiker und adamsfour-Testfahrer Dominik Doppelhofer. „Verglichen mit anderen Rückenprotektoren ist das Anschnallen ein bisschen gewöhnungsbedürftig. Man muss die Gurte sehr präzise einstellen, damit der Protektor am Körper liegt wie eine zweite Haut, aber dann funktioniert er echt gut.“

Bleibt abzuwarten, ob es dem kleinen österreichischen Start-up tatsächlich gelingt, mithilfe von Erkenntnissen aus der anatomischen Forschung und den technischen Möglichkeiten des Generativen Designs die Zahl der Querschnittlähmungen signifikant zu reduzieren ­– nicht nur für das Team hinter adamsfour, sondern vor allem für Sportbegeisterte aus aller Welt wäre das ein bahnbrechender Erfolg.