Wie hätten Michelangelos Skulpturen ausgesehen, wenn seine Gehilfen Roboter gewesen wären?
„In jedem Steinblock steckt bereits eine Statue. Die Aufgabe des Bildhauers ist es, sie zu entdecken.“ Diese bekannten Worte soll der Renaissance-Meister Michelangelo vor fünf Jahrhunderten geäußert haben.
Wie viele große Künstler seiner Zeit hatte auch Michelangelo Gehilfen, die ihn tatkräftig dabei unterstützten, seinen Vorstellungen und Visionen Form zu geben. Auch heute noch wissen zahlreiche kreative Köpfe um die Inspirationskraft, die den bevorzugten Werkstoffen des florentinischen Meisters innewohnt. Doch sie haben Gehilfen, die Michelangelos Lehrlingen in Sachen handwerkliches Geschick und Durchhaltevermögen um einiges überlegen sind. Der Grund: Sie sind Roboter.
Stein- und Bildhauerei sind durchaus naheliegende Anwendungsgebiete für Roboter – oder genauer gesagt für CNC-Portalschneidemaschinen. Bereits seit mehreren Jahrzehnten sind Roboter in der Lage, praktisch alles, was die menschliche Schaffenskraft erzeugen kann, schneller, präziser und kostengünstiger nachzubilden.
Das Team hinter dem Digital Stone Project, einer gemeinnützigen Organisation, die sich als Vermittler zwischen Künstlern, digitalen Konstrukteuren und auf Robotertechnik spezialisierten Steinbildhauern versteht, sieht die interessanteste Herausforderung in diesem Zusammenhang darin, die künstlerischen Möglichkeiten automatisierter Steinfräsmaschinen neu zu definieren. Aus dem Einsatz von Robotern mit präzisen Bohr- und Meißelfähigkeiten in Kombination mit digitaler Gestaltungssoftware, deren kreative Möglichkeiten das menschliche Vorstellungsvermögen erweitern und ergänzen, ergeben sich weitreichende gestalterische Vorzüge.
„Der Roboter setzt den 3D-Entwurf einfach eins zu eins um“, so Bildhauer Jon Isherwood, der das Digital Stone Project 2003 ins Leben rief. „Es ist, als wäre man wie in früheren Zeiten Meister eines Ateliers, in dem die grobe Vorarbeit von Assistenten erledigt wird. Nur dass man zusätzlich den Vorteil hat, dass der Roboter genau das tut, was man von ihm verlangt, ohne jemals eine Pause einlegen zu müssen. Ich kann mir keinen besseren Assistenten vorstellen!“
Überdies ermöglichen Automatisierungsprozesse eine präzise Ermittlung von Fertigungszeiten. „Der Kostenaufwand eines Projekts lässt sich besser abschätzen, als es bei der manuellen Arbeit mit menschlichen Assistenten jemals möglich wäre“, erklärt Isherwood.
Über den praktischen Nutzen hinweg geht es dem Team hinter dem Digital Stone Project jedoch nicht zuletzt auch um die Erkundung der wahrhaft einzigartigen Anwendungsmöglichkeiten von Software und Robotern. „Im 16. Jahrhundert vertraute Michelangelo bei seiner Arbeit auf aus Stahl geschmiedete Werkzeuge wie Flach- und Spitzmeißel, die eine bestimmte Oberflächenstruktur schufen“, so Isherwood. „Besonders eindrucksvoll veranschaulichen das seine als ,Sklaven‘ bekannten Statuen in der Galleria dell‘Accademia in Florenz. Hier kommt der Kontrast zwischen fein ausgearbeiteten Details und grob geschnitzten Oberflächen hervorragend zum Vorschein. Das robotergestützte Verfahren verwendet Drehkopffräsen, die Steinblöcke durch selektives Abtragen von Material bearbeiten. Künstler und Architekten beginnen allmählich, auf die Vorteile dieses Ansatzes aufmerksam zu werden und sein Potenzial zu erkunden.“
Im Jahr 2005 trafen die Leiter des Seward Johnson Atelier in New Jersey die Entscheidung, den auf Steinarbeiten spezialisierten Geschäftsbereich des Unternehmens zu verkaufen. Nachdem es ihm gelang, ausreichend Kapital aufzubringen, um sämtliche Anteile an der Stiftung zu erwerben, rief Isherwood gemeinsam mit fünf weiteren Bildhauern das Digital Stone Project ins Leben. Ihr Ziel: in Anknüpfung an die bisherige Arbeit des Ateliers einen künstlerischen Hort zur Förderung digitaler Technologien im Bereich der Steinbildhauerei ohne große Kosten zu schaffen. Ein ehrenamtlicher Vorstand verwaltete die Einrichtung, bis Isherwood 2011 beschloss, sich künftig ausschließlich auf die Veranstaltung von Workshops zu konzentrieren.
Auf der Suche nach einem neuen Hauptquartier für die digitalen Gestaltungs- und Fertigungsprozesse der Organisation fiel Isherwoods Wahl schnell auf die Geburtsstätte der traditionellen Marmorbildhauerei: die Bergwelt der Toskana. Hier fand Isherwood im Unternehmen Garfagnana Innovazione einen Partner, der die notwendigen technischen Fachkenntnisse und Fertigungskapazitäten mit sich brachte.
Garfagnana Innovazione ist im italienischen Gramolazzo zuhause, knapp 40 Kilometer entfernt von den Steinbrüchen bei Carrara, aus denen der weiße und blaugraue Marmor gewonnen wird, der in der Architektur und Bildhauerei bereits seit der Römerzeit als hochgeschätztes Material gilt. Das Unternehmen wurde 2011 mit dem Ziel gegründet, digitale Fertigungsprozesse für architektonische Steinarbeiten anzubieten. Obwohl ein Großteil des weltweit hochwertigsten Marmors nach wie vor aus Italien stammt und die Fertigung dekorativer Steinbildhauereien mithilfe von Frästechnik sich zu einem beachtlichen Wirtschaftsfaktor entwickelt hat, ist digitale Gestaltungs- und Robotertechnik für viele Branchengrößen weiterhin Neuland.
Seit 2013 unterstützt Garfagnana Innovazione das Digital Stone Project tatkräftig durch die Bereitstellung technischer Dienstleistungen, Gerätschaften und Werkstoffe – darunter auch Roboter- und Scantechnologie.
„Wir verwandeln physische oder digitale Skizzen, die wir von Künstlern erhalten, mithilfe unserer Software in 3D-Entwürfe und übernehmen auch den Fertigungsprozess“, erklärt Lorenzo Busti, Programmierer und Techniker bei Garfagnana Innovazione. Während die Techniker sich bei ihrer Arbeit in der Regel auf 3D-CAD-Dateien stützen, haben sie ebenso die Möglichkeit, 3D-Scans physischer Modelle anzufertigen und den Maßstab den Bedürfnissen des jeweiligen Künstlers entsprechend anzupassen.
Die Roboter des Unternehmens kommen zur Bearbeitung von Marmorblöcken mit einem Durchmesser von einem und einer Höhe von zwei Metern zum Einsatz. Damit sind die gut sechs Tonnen schweren Strukturen groß genug, um daraus eine Statue in Menschengröße zu schaffen. Einigermaßen komplexe Skulpturen lassen sich in rund vier Wochen umsetzen. „In traditioneller Handarbeit würde ein solches Projekt zehn bis elf Monate in Anspruch nehmen“, meint Gabriel Ferri, einer der Programmierer der Scan- und Frässoftware von Garfagnana Innovazione.
Die Ausarbeitung von Skulpturen erfolgt üblicherweise in zwei Phasen, die jeweils über ein eigenständiges Programm gesteuert werden. Auf diese Weise ist es Anwendern möglich, Diamantschneidwerkzeuge vor ihrer Abnutzung in regelmäßigen Abständen auszuwechseln, oder zum erforderlichen Zeitpunkt bestimmte Tools zur präzisen Kantenbearbeitung ins Spiel zu bringen. Im Vergleich zu Granit, das zu einem dreimal schnelleren Verschleiß von Schneidwerkzeug führt, ist Marmor ein verhältnismäßig weiches Material.
Der Einsatz von Robotertechnik, so Busti, berge das Potenzial, den Markt für architektonische und dekorative Steinbildhauereien zum Wachsen zu bringen und aus einem ehemaligen Luxusgut ein allgemein erschwingliches Massenprodukt zu machen. So wäre mithilfe von Maschinen etwa eine Serienfertigung bekannter Skulpturen wie Michelangelos David oder Pietà denkbar.
„Es gibt durchaus Kunden, die klassische Skulpturen nachbilden möchten“, bestätigt Busti. Ob damit der Sinn der Sache getroffen ist, ist jedoch fraglich: Schließlich besteht der Verdienst der Robotertechnik darin, dass sie die menschliche Handfertigkeit durch ein beispielloses Maß an Präzision und Vorhersehbarkeit ergänzt und es Künstlern so ermöglicht, ihrer Vorstellungskraft weit über die Grenzen der klassischen Bildhauerei hinaus freies Spiel zu lassen.
„Zurzeit interessiere ich mich für das Zusammenspiel von Form und Oberfläche“, fährt Isherwood fort. „Dabei geht es mir vor allem um die erkennbaren Prägungen, die digital gesteuerte Werkzeuge auf Oberflächen hinterlassen. Das bereichert meine Herangehensweise um eine neue Facette. Ich befasse mich sozusagen mit der Haut des Materials. Der Roboter erzeugt spezifische Einkerbungen in der Materialoberfläche, die sich auf die Gesamtform auswirken. So lässt sich die Volumendynamik, in der letztlich die Sinnlichkeit der Form liegt, durch An- und Abschwellen, Drehungen und Windungen verändern und um beliebige Akzente ergänzen.“
In verschiedenen Bewegungsabläufen um insgesamt sieben Achsen schneiden und schnitzen die Roboter das Material zurecht. „Vor Kurzem habe ich im Rahmen eines Projekts für die jährliche Fachmesse der Steinindustrie in Verona zwei ineinander übergehende Skulpturen gestaltet“, erzählt Isherwood. „Wenn man sie zusammenschob, liefen die unterschiedlichen Oberflächenreliefe der beiden gewölbten Strukturen förmlich zusammen und ergaben ein eigenes Muster.“
Das Aufkommen neuer digitaler Hilfsmittel ermöglicht eine immer stärkere Einbindung von Robotern in den Gestaltungsprozess. So hatten die Teilnehmer des im letzten Sommer vom Digital Stone Project veranstalteten Workshops etwa die Gelegenheit, mithilfe von 3D-Scannern und Virtual-Reality-Tools Entwürfe für Marmorskulpturen zu erstellen und anschließend über Autodesk PowerMill entsprechende Produktionsanweisungen an die Fertigungs- und Fräsroboter zu übermitteln.
Technologie dieser Art, so Isherwood, erlaube es Künstlern – ähnlich wie Computer in der Musik –, ihr kreatives Repertoire zu erweitern. „Software kann digitale Klänge erzeugen, die man analogen Instrumenten nicht entlocken kann. Genauso erreicht man mit Robotern Formen, die mit herkömmlichen Werkzeugen nicht möglich sind“, betont er.
Dennoch stehen Steinbildhauer, die sich die Möglichkeiten digitaler Gestaltung, künstlicher Intelligenz und maschineller Lernverfahren zu Nutzen machen, früher oder später vor der gleichen Frage wie einst Michelangelo: Wie bringt man die dem Rohgestein innewohnende Skulptur zum Vorschein?
„Ein Künstler namens Michael Rees bat die Techniker, die Software so zu programmieren, dass der erste Schnitt ausschließlich mit dem Ziel erfolgen sollte, in irgendeiner Form Material zu entfernen“, erinnert sich Isherwood. „Der nächste Schritt sollte als Reaktion auf diese erste Veränderung erfolgen, und jede weitere Veränderung sollte sich aus den vorangegangenen Schritten ergeben. Die Idee war es, den Roboter gewissermaßen durchgehend eigenständig und intuitiv arbeiten zu lassen.“
Für Isherwood ist dieser Ansatz lediglich die Spitze des Eisbergs, was den potenziellen Nutzen maschineller Lernverfahren für kreative Aufgaben angeht.
Seit nunmehr sechs Jahren organisiert das Digital Stone Project professionelle Workshops in Gramolazzo. „Solange Künstler, Gestalter und Architekten Interesse daran haben, teilzunehmen und Neues zu entdecken, führe ich das Ganze gerne weiter“, meint Isherwood. „Mit Autodesk als Sponsor konnten wir in den letzten Jahren auf die nötige finanzielle Unterstützung zählen, um uns die Teilnahme einer Reihe von Studierenden in Graduate-Programmen zu sichern. Wir betreiben die Workshops auf Eigenkosten. Wir begeben uns einen Monat lang in die Berge, um mit Robotern zu arbeiten, leckeres Essen zu genießen und uns guten Wein zu Gemüte zu führen. Was gibt es Schöneres?“