Abenteuer Realitätserfassung: Drohnen und Laserscanner vermessen unwirtliche Umgebungen
Im Kultfilm „Matrix“ schluckt Neo (Keanu Reeves) die rote Pille und nimmt die Welt als grün schillerndes Netz aus Punktwolken wahr. Die Matrix dient hier dazu, die vermeintliche Wirklichkeit als Konstrukt zu durchschauen. Beim Fachanbieter für Realitätsfassung ATFF arbeitet man ebenfalls mit Punktwolken – allerdings mit dem Ziel, in einige der unwirtlichsten und gefährlichsten Umgebungen in Europa vorzudringen: Atomkraftwerke, autonome Industrieversorgungsanlagen und militärische Einrichtungen.
ATFF wurde 2014 im französischen Annecy als Spezialist für Realitätserfassung gegründet. Die Firma entwickelt Plattformen, Software und Hardware für die Erfassung und Ordnung von Datenschichten zur Visualisierung der natürlichen und gebauten Umwelt. Die Technologie, die um ein Vielfaches präziser ist als herkömmliche Vermessungsmethoden, bedeutet einen großen Schritt vorwärts in Richtung einer originalgetreuen Visualisierung der physischen Welt.
Tatsächlich nimmt ATFF-Mitgründer Florian Fauconnet eigenem Bekunden zufolge die Welt als Punktwolke wahr. Seine bevorzugte Plattform besteht aus Millionen von im Raum fixierten Punkten, aus denen sich detailgenaue 3D-Modelle von Objekten und Landschaften erstellen lassen. Ein typischer Scan ergibt zwischen 40 und 150 Millionen Datenpunkte, die das Team von ATFF mithilfe von Autodesks ReCap-Sofware zur Realitätserfassung in Punktwolken umwandelt. Die daraus erstellten Modelle können dann in BIM-Plattformen wie Revit von Autodesk eingegeben werden.
ATFF arbeitet in Innenräumen mit stationären Laserscannern, in Außenbereichen mit Drohnen und füllt die Lücken mit Daten von einem mobilen Scangerät, das sich beispielsweise am Auto oder Rucksack anbringen lässt. „Die Vorrichtung wird hinten am Auto befestigt und kann die Straße bzw. die bauliche Infrastruktur scannen“, erläutert Thomas Roland, der die Marketingabteilung bei ATFF leitet. Diese Mobilität spart Zeit und reduziert die Abhängigkeit von stationären Scannern.
Zur Unterstützung der Arbeit mit Punktwolken stehen zahlreiche Hardware-Geräte zur Verfügung, mit deren Hilfe sich ein umfassendes Datenvolumen erfassen lässt. Anschließend isoliert und bearbeitet das Team einzelne Elemente innerhalb der Punktwolke. Die bisher gängigen Vermessungsmethoden erfassten ausschließlich die vom Auftraggeber jeweils angeforderten Werte – beispielsweise den Abstand zwischen zwei Stützmauern –, gaben jedoch darüber hinaus keine Kontextdaten aus. Punktwolkenmodelle hingegen ermöglichen die zentrale Erfassung so gut wie aller räumlichen Daten, die dann zur gemeinsamen Nutzung für andere Projektbeteiligte freigegeben und ggf. an veränderte Bedürfnisse angepasst werden können.
„Früher ist ein Vermesser auf die Baustelle gegangen und hat gezielt die Daten erfasst, die aktuell vom Auftraggeber benötigt wurden“, erläutert Fauconnet. „Realitätserfassung funktioniert umgekehrt: Wir erfassen alles und filtern dann die aktuell benötigten Daten heraus.“
Fauconnet sieht Realitätserfassung als Abenteuer. Schwierige Umgebungen, deren Betreten den allerwenigsten Menschen vergönnt ist, empfindet er als besonders lohnende Herausforderung. Diese hochspezialisierte Arbeit, schwärmt er, habe den Seltenheitswert eines mouton à cinq pattes, eines „fünfbeinigen Schafes“.
Ermöglicht werden ihm und seinem Team diese einmaligen Erlebnisse durch neue Technologien zur Realitätserfassung wie Flugdrohnen und mobile Laserscanner, die Scanvorgänge erheblich beschleunigen und den schnellen Zugang zu (und vor allem ein rechtzeitiges Entkommen aus) riskanten Umgebungen gewährleisten.
Entscheidend war dies zum Beispiel bei der Arbeit auf dem Gelände eines Atomkraftwerks, wo die Mitarbeiter sich aufgrund der hohen radioaktiven Strahlung jeweils nur sehr kurzzeitig aufhalten durften. „Eine Vermessung des Areals mit herkömmlichen Methoden hätte zu lange gedauert“, so Roland. „Mit den neuen Technologien zur Realitätserfassung geht es heute viel schneller.“ Im Vorfeld mussten die Mitarbeiter sich einem rigorosen Zulassungsverfahren inklusive Schulung und Zertifizierung unterziehen. Einmal auf dem Gelände, zählte jede Sekunde bis zur Ablösung durch den nächsten Teamkollegen.
Bei der Aktualisierung eines Revit-Modells, mit der ATFF im Vorfeld der Renovierung eines französischen Krankenhauses beauftragt wurde, spielte der Zeitfaktor ebenfalls eine entscheidende Rolle. Die alpine Lage des Centre Hospitalier Aiguilles-Queyras knapp 1.500 Meter über dem Meeresspiegel nahe der italienischen Grenze sowie seine kompliziert geführte Dachlinie stellten das Team, das dort mitten im Winter bei zweistelligen Minusgraden mit der Vermessung begann, vor erhebliche Herausforderungen.
Während die Geräte den unwirtlichen Bedingungen durchaus standzuhalten vermögen, sind ihre Bediener weniger hart im Nehmen. „Sich bei derart extremen Temperaturen lange genug draußen aufzuhalten, um die Drohnen präzise zu programmieren, und dann auch noch gute Arbeit zu leisten, ist gar nicht so einfach“, berichtet Roland. Mithilfe von Flugdrohnen gelang es den ATFF-Mitarbeitern dennoch, erstaunlich große Flächen zu vermessen, bevor ihnen die Finger vor Kälte so taub wurden, dass sie die Steuerung nicht mehr bedienen konnten.
Im Innern des Krankenhauses ergaben sich wiederum andere Schwierigkeiten – dort herrschte nämlich rund um die Uhr Dauerbetrieb. Da menschliche Bewegungen beim Scannen Datenverzerrungen verursachen können, arbeitete das ATFF-Team bevorzugt zu Essens- und anderen vergleichsweise ruhigen Zeiten, wie etwa nachts oder am Wochenende. Insgesamt dauerte die Vermessung des 20.000 m² großen Gebäudekomplexes acht Tage, in denen das Team 952 Fotos und 1.200 Scans aufnahm, aus denen dann mit ReCap 3D-Modelle erstellt wurden.
Bei der Vermessung eines Umspannwerks bei Oullins in der Nähe von Lyon, das im Wesentlichen ohne menschliches Personal auskommt, stellten Interferenzen durch Passanten weniger ein Problem dar. Dafür bestand hier Lebensgefahr aufgrund der hohen Betriebsspannungen – immerhin versorgt das Umspannwerk knapp 90.000 Haushalte mit Strom. Die ATFF-Mitarbeiter mussten spezielle Sicherheitskleidung tragen und den Betreiber der Anlage genauestens über ihre Aktivitäten auf dem Laufenden halten. Da die Luftraumnutzung für unbemannte Drohnen in Frankreich nur außerhalb von Wohngebieten gestattet ist, wurde bei diesem Projekt ausschließlich mit stationären Scannern gearbeitet.
„Unser Kerngeschäft besteht in der Begehung menschenfeindlicher Umgebungen“, bringt Roland das Alleinstellungsmerkmal von ATFF auf den Punkt. Darüber hinaus schafft das Unternehmen, das mit der Spezialisierung auf Plattformen und Techniken zur Realitätserfassung einen zurzeit wachsenden Trend bedient, einen echten Mehrwert, indem es die interessierte Außenwelt aus sicherer Distanz an seiner Arbeit teilhaben lässt.