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Mit generativer Architektur schreiben Sie Ihre eigenen Regeln

Jahrtausendelang waren der Vorstellungskraft von Bauherren und Architekten zeichentechnische Grenzen gesetzt.

Eine Linie zu zeichnen, ist einfach – man braucht nur ein Lineal. Einen Kreis zu zeichnen, ebenso – man braucht nur einen Zirkel. Sobald es aber über Linien und Kreise hinausgeht, ist man ohne weitere Hilfsmittel mehr oder weniger aufgeschmissen. Schon für eine Ellipse brauchte man zwei Stecknadeln, einen Bleistift und zwei Stück Schnur, als es noch keine Computer gab.

Je komplexer also die Form, desto schwieriger ließ sie sich zeichnen, und desto seltener wurde sie gebaut.

Komplexe Geometrien stellen Architekten seit jeher vor erhebliche Schwierigkeiten bei der Gestaltung gewundener oder verschlungener Formen. Vor dem digitalen Zeitalter nahmen nur wenige Bauherren und Architekten diese Herausforderung an. Frank Lloyd Wrights Guggenheim-Museum in New York City – ein architektonisches Projekt von bahnbrechender Tragweite und Kühnheit und bestimmt nicht einfach zu bauen – hat gleichzeitig Ausnahme- und Vorbildcharakter.

Etwa zwanzig Jahre nach seiner Fertigstellung kam der Personal Computer auf den Markt. Plötzlich konnte jeder Hinz und Kunz mit architektonischem Grundwissen komplexe geometrische Formen erstellen; mit einem Schlag rückten die Spiralen des Guggenheims in greifbare Nähe.

guggenheim_architecture

Tatsächlich ließen sich mit Hilfe des Computers nicht nur die Formen der klassischen euklidischen Geometrie zeichnen, sondern er vereinfachte auch die Planung und Gestaltung aller möglichen kreativen, komplexen und ausgefallenen Ideen für die verschiedensten Produkte – von Gebäuden über mechanische Bauteile bis hin zu Konsumgütern.

So sieht mehr oder weniger der aktuelle Status quo aus. Doch wir sind heute wieder an einem Punkt angelangt, an dem die Technologie nicht nur radikal neue Gestaltungsmöglichkeiten aufzeigt, sondern sogar die Gesetze der Geometrie außer Kraft zu setzen verspricht.

„If You Can Dream It, You Can Build It“

Wenn man sich anschaut, was heute mit Hilfe digitaler Technologie schon möglich ist, könnte man leicht zu dem Schluss kommen, dass die Innovation damit weitgehend abgeschlossen ist oder zumindest nicht mit gleicher Geschwindigkeit weitergehen kann. Weit gefehlt.

Bislang haben wir Computer als Hilfsmittel benutzt, um uns das geometrische Zeichnen zu erleichtern. Von nun an können wir ihnen sagen, was wir bauen wollen.

Dies bedeutet einen Paradigmenwechsel in der architektonischen Planung und Gestaltung.

Ich möchte das an einem Beispiel verdeutlichen. Stellen Sie sich vor, der Bauherr will ein Einfamilienhaus mit vier Schlafzimmern und einem großen Wohnzimmer auf einem dreieckigen Grundstück bauen. Nichts einfacher als das. Ich habe meinen Lageplan vorliegen und sitze am Computer. Ich zeichne also vier rechteckige Schlafzimmer und schiebe sie dann auf dem Bildschirm hin und her, bis mir die Anordnung gefällt.

Ich kann aber auch ganz anders an die Sache herangehen. Ich könnte dem Computer zum Beispiel befehlen, 25 unterschiedliche, gleichermaßen überzeugende Grundrisse für dieses Haus zu entwerfen, die folgende Vorgaben erfüllen:

  • Alle Schlafzimmer sollen mindestens neun Quadratmeter groß sein
  • Alle Schlafzimmer sollen aneinander angrenzen
  • Jeweils zwei Schafzimmer sollen ein gemeinsames Bad haben
  • Alle Schlafzimmer sollen im ersten Stock und alle Gemeinschaftsräume im Erdgeschoss liegen
  • Der Energieverbrauch des Gebäudes darf eine bestimmte Grenze „x“ nicht überschreiten
  • Das Esszimmer soll morgens Sonne bekommen, das Wohnzimmer nachmittags
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Projekt Akaba von Autodesk geht das Planungskonzept ähnlich an wie ein menschlicher Architekt. Anhand konkreter Vorgaben und Regelsätze werden visuell überzeugende Entwürfe zur Umsetzung der Bauziele erstellt.

Anhand dieser Vorgaben entwirft der Computer eigenständig eine Geometrie und Anordnungen, die diesen Parametern gerecht werden – und zwar in Sekundenschnelle. Am besten stellt man sich diesen Vorgang als eine Art von generativer Architektur vor. Dabei entstehen Ideen, auf die ich nie im Leben gekommen wäre … und andere, die so abwegig sind, dass ich sie sofort wieder verwerfe. Denn auch diese Technologie hat ihre Vor- und Nachteile.

In ihrer nächsten Entwicklungsphase wird die architektonische Planung nicht mehr nur auf den Gesetzen der Geometrie beruhen, sondern auf Regelsätzen. Damit erweitert sich der Planungsbegriff und beinhaltet nun auch die Erstellung und Verfeinerung der Regeln zum Erstellen von Plänen und die darauf folgende Auswahl und Überarbeitung. Zugleich wird die ursprüngliche Iterationsphase, in der all diese Ideen entstehen, sehr viel interessanter.

Aktuell wird bereits in einigen experimentellen Projekten an der Verwirklichung dieser Vision gearbeitet. Dynamo, ein Open-Source-Tool zur visuellen Programmierung von architektonischen Planungsaufgaben, ist ein hervorragendes Beispiel dafür, wo meiner Meinung nach die Zukunft der computergestützten Planung hingeht. Einfach ausgedrückt handelt es sich dabei um eine Erweiterung für Autodesk Revit zur Erstellung und Analyse komplexer parametrischer Geometrien, die insbesondere für Modellierungsaufgaben geeignet ist.

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Ein Beispiel für die visuelle Programmierung architektonischer Planungsaufgaben. Das Projekt entstand in Dynamo, Autodesk Robot Structural Analysis Professional 2016, und Autodesk Revit.

Spannende Zeiten

Die architektonische Planung und die Werkzeuge, die dabei zum Einsatz kommen, unterliegen seit jeher einer ständigen Weiterentwicklung. Im Laufe der letzten vierzig Jahre haben wir miterlebt, wie Computer herkömmliche Geometrien nachgebildet und dadurch den Planungsprozess in seinem Wesen grundlegend verändert haben. Doch diese Veränderungen gehen weit über den „kreativen“ Planungsprozess hinaus.

Alltägliche Routineaufgaben – die Berechnung von Verlegeplänen für Leitungen oder die für ein LEED-Zertifikat erforderliche Anzahl von Fenstern bzw. Dachfenstern – können automatisiert werden. Architekten brauchen sich weniger mit Routinearbeiten zu befassen und können ihre Aufmerksamkeit stattdessen anspruchsvolleren Projekten zuwenden – und dabei zugleich Zeit und Kosten sparen.

Sobald sich diese Regelsätze als Grundlage für die Erstellung und Prüfung von Bauplänen durchgesetzt haben, wird die Arbeit des Architekten sowohl effektiver als auch spannender, weil wir unsere grauen Zellen dann für den wichtigsten Teil des Planungsprozesses nutzen können – die Identifizierung und anschließende Verfeinerung der interessantesten, provokantesten, sinnvollsten und formschönsten Konzepte. Diese Arbeit kann uns kein Computer abnehmen, aber er kann uns auf jeden Fall dabei unterstützen.

Unser Verhältnis zur Geometrie wird sich ein für allemal ändern, und zwar zum Besseren. Nennen Sie mir einen einzigen Architekten, der seinen Laptop gegen einen Zirkel eintauschen würde! Wir stehen an der Schwelle zu einer völlig neuen Welt – ein unglaublicher Durchbruch für den architektonischen Geist.

 

Über den Autor

Phil Bernstein ist Architekt, Technologe und seit 1988 Dozent an der School of Architecture der Yale University, wo er zuvor selbst studiert und seinen Bachelor of Arts und Master of Architecture erworben hatte. Als Vice President bei Autodesk war Bernstein früher dafür verantwortlich, die Vision und Strategie für unser BIM-Technologie-Angebot auszuarbeiten. Vor seiner Anstellung bei Autodesk war er Principal beim Architekturbüro Pelli Clarke & Partners, wo er viele der komplexesten Projekte des Unternehmens leitete, darunter den Bau des Reagan Washington National Airport sowie Projekte für die Mayo Clinic und Goldman Sachs. Bernstein ist Autor von Machine Learning: Architecture in the Age of Artificial Intelligence (2022), Architecture | Design | Data – Practice Competency in the Era of Computation (2018) und Mitherausgeber von Building (in) the Future: Recasting Labor in Architecture (2010, mit Peggy Deamer). Darüber hinaus ist er Autor, Redner und Berater für die Bereiche Technologie, Praxis und Projektabwicklung und Fellow des American Institute of Architects.

Profile Photo of Phil Bernstein - DE