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Ein Visionär mit Sehbehinderung konserviert Kulturschätze in der Virtuellen Realität

The virtual reality experience of Simon Che de Boer's ‘Nefertari: Journey to Eternity.’

Seit seiner Wiederentdeckung durch den italienischen Ägyptologen Ernesto Schiaparelli im Jahre 1904 gilt das Grab der Nefertari, der Großen Königlichen Gemahlin von Ramses II., als bedeutendste historische Stätte im Tal der Königinnen nahe der südägyptischen Stadt Luxor. Filigran ausgeführte Malereien, hieroglyphische Inschriften und Porträts der mit weißer Robe und goldenem Kopfschmuck bekleideten Königin zieren die Wände der Gruft. Seit 2016 ist sie der Öffentlichkeit zugänglich, gilt jedoch trotz umfassender Restaurierungsarbeiten weiterhin als sehr zerstörungsanfällig.

Die neuseeländische Firma RealityVirtual hat nun unter dem Titel „Nefertari: Journey to Eternity“ (auf deutsch: „Nefertari: Reise in die Unendlichkeit“) einen hyperrealistischen virtuellen Rundgang durch die Grabstätte entwickelt, der einen Beitrag zu ihrer digitalen Konservierung leisten soll. „Dies ist ein gutes Anwendungsbeispiel für das Potenzial der Virtuellen Realität zur Konservierung bzw. Neubelebung von Stätten, Umgebungen und Schauplätzen, die der Menschheit entweder bereits verlorengegangen sind oder von Korrosion und Witterungseinwirkungen bedroht sind“, wie Unternehmensgründer Simon Che de Boer erläutert.

Zur detailgetreuen Nachbildung der Gruft nahm Che de Boer zunächst knapp 4.000 Fotos auf. Bei der Verarbeitung und Visualisierung der erfassten Bilddaten kam dann eine Kombination aus photogrammetischen Methoden (Bildmessung zur Bestimmung der räumlichen Lage bzw. dreidimensionalen Form von Objekten) und maschinellen Lernverfahren zum Einsatz.

A closeup image of an Egyptian tomb with fine details rendered through photogrammetry.
Zur detailgetreuen virtuellen Nachbildung der Gruft wurden 4.000 Fotos photogrammetisch ausgewertet. Mit freundlicher Genehmigung von RealityVirtual.

Durch maschinelle Lernverfahren wurden zum einen höhere Auflösungen ohne Abstriche bei der Bildqualität möglich. Zudem konnte das Team um Che de Boer „Korrekturen“ an den Bildern vornehmen, beispielsweise durch Retuschieren von Hinweisschildern. Die entstandenen Lücken wurden dann mit Hieroglyphen aus der unmittelbaren Bildumgebung gefüllt. „Wenn wir lückenhafte Stellen entdecken, weil wir beispielsweise nicht genug Fotos gemacht haben oder die Sicht aus irgendeinem Grund versperrt war, dann nimmt der Computer Elemente aus der Bildumgebung zum Füllen der jeweiligen Lücken“, so Che de Boer.

Die Überwindung von Herausforderungen ist kein Neuland für Che de Boer. Mit einem Sehvermögen um die fünf Prozent ist er auf den ersten Blick nicht zum VR-Entwickler prädestiniert. „Mir war nicht wirklich klar, wie imposant Nefertaris Grab eigentlich ist“, sagt er. „Ich kam nie nah genug heran, um die feinen Details wahrzunehmen. In der Virtuellen Realität kann ich sie auf eine Weise hautnah erleben, wie es mir in der realen Welt nicht möglich wäre.“

Wegen seines schlechten Sehvermögens ist Che de Boers Raum- und Lagebewusstsein besonders gut ausgeprägt. Diese Fähigkeit kommt ihm beim Entwickeln von VR-Inhalten zugute. „Ich kann nirgendwo hingehen, ohne mir die Strecke in allen Einzelheiten einzuprägen“, erläutert er. „Ich habe quasi mein ganzes Leben lang Umgebungen kartografisch erfasst, nur um von A nach B zu kommen. Diese Fähigkeit ist in der Photogrammetie sehr nützlich, denn man muss dort sowohl die bereits zurückgelegte Strecke als auch den weiteren Weg genau überblicken können.“

A portrait of Simon Che De Boer.
Simon Che de Boer. Mit freundlicher Genehmigung von RealityVirtuall.

Che de Boers Leidenschaft dafür, verschollen Geglaubtes aus der Vergangenheit zu bergen, war eine direkte Folge seiner Begeisterung für die Möglichkeiten der Virtuellen Realität. Neben dem Ehrgeiz, der Welt verlorene Schätze zurückzugeben, spielte dabei auch eine private Tragödie eine Rolle. 2014 brannte das Haus nieder, das er mit seiner Tochter teilte. Che de Boer wollte unbedingt einen Weg finden, sein Zuhause wiederaufzubauen. „Das war der eigentliche Grund dafür, dass ich anfing, mich mit [Virtueller Realität] zu befassen”, bekräftigt er. „Ich hoffte, dass die Nachbildung des Hauses mir helfen würde, mit dem Thema abzuschließen.“

Als passionierter Informatiker kannte Che de Boer sich bereits mit der grafischen Datenverarbeitung aus und arbeitete sich nun in die VR-Technik ein. „Ich bin da ganz ohne Vorkenntnisse herangegangen und wusste somit auch nicht, wo die Grenzen lagen“, erzählt er. „Ich stürzte mich im wahrsten Sinne ins kalte Wasser, ohne wirklich zu verstehen, was ich überhaupt machte. Ich setzte mir ein Ziel – etwas Ultrarealistisches zu erschaffen.“

Für Che de Boer liegt das Erfolgsgeheimnis darin, dass er sich gerade auf die kleinen Mängel fokussierte. „Mir geht es vor allem um das Gefühl, das durch ein Objekt oder eine Erfahrung ausgelöst wird“, sagt er. „Und in der realen Welt ist es eben so, dass wir die Dinge gerade aufgrund ihrer Mängel als real empfinden – die Vollkommenheit des Unvollkommenen also.“

Che de Boers Herangehensweise stellt die Grenzen dessen in Frage, was die meisten Menschen in der VR-Entwicklung für machbar halten. Anstatt aus ein paar tausend Datenpunkten eine Live-Umgebung aufzubauen, die dann bearbeitet und durch weitere Punkte angereichert wird, geht Che de Boers Team sozusagen nach der Brachialmethode vor. Mit Maya von Autodesk werden durch 3D-Modellierung und verschiedene Speicherverwaltungstricks Umgebungen erstellt, die zwischen einer Milliarde und 40 Milliarden Datenpunkte umfassen. Zur weiteren Bearbeitung – Ausfüllen von Lücken, Entfernen von Geräuschen und Bereinigen von Objekten – kommt dann Meshmixer von Autodesk zum Einsatz.

Für Che de Boer ist Detailgenauigkeit ein ausschlaggebender Faktor für die Qualität von VR-Erlebnissen. „Ich habe den Eindruck, dass viele Menschen sich von den Details so überwältigen lassen, dass ihnen die kritische Wahrnehmung abhandenkommt“, meint er. „Ich hingegen schaue mir ein Bild an und habe dabei ein Gespür für seine künstlerische Gestaltung. Dinge wie Ausleuchtung, Stimmung usw. sind mir extrem wichtig. Ich kann dadurch etwas Abstand nehmen und das große Ganze überblicken, während andere sich in den Details verlieren.“

Che de Boer will sich auch in Zukunft auf die Dokumentierung und digitale Konservierung von Kulturschätzen konzentrieren. Vorgesehen ist unter anderem der Wiederaufbau der ChristChurch Cathedral, die 2011 bei einem Erdbeben zerstört wurde. Über einige weitere Projekte darf er noch nicht sprechen. „Es handelt sich um Orte, die uns allen ein Begriff sind, die aber nur wenige Leute betreten dürfen“, sagt er. „Wir hoffen, dass es uns gelingt, Erlebnisse zu demokratisieren, die bislang wenigen Privilegierten vorbehalten blieben.“

Che de Boer glaubt fest an das Potenzial der Virtuellen Realität, die menschliche Neugier auf möglichst lebensnahe neue Erfahrungen zu befriedigen. „Manchmal will man einfach von imposanten Umgebungen angerührt werden – sei es eine Strandlandschaft, ein Amphitheater oder eine Grabstätte“, meint er. „Eine hochgradig realitätsgetreue VR-Nachbildung gibt einem das Gefühl, direkt vor Ort zu sein.“

Über den Autor

Rina Diane Caballar lebt als Autorin in Neuseeland und schreibt Texte, die verschiedene Berührungspunkte zwischen Wissenschaft, Technologie, Gesellschaft und Umwelt thematisieren.

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