Kann maschinelles Lernen zu einer gesünderen Work-Life-Balance für Architekten führen?
Nacht- und Wochenendarbeit gehört für viele Architekten zum Alltag – vor allem, wenn ein wichtiger Abgabetermin bevorsteht. Einem Bericht zufolge, den die Aktionsgruppe „Equity by Design“ 2018 veröffentlichte, wagen 70 Prozent der Befragten aus der Branche nicht, bei ihren Arbeitgebern flexible Arbeitszeiten und Homeoffice einzufordern. Abhilfe könnten schon in naher Zukunft Technologien wie Künstliche Intelligenz (KI) und maschinelles Lernen (ML) versprechen.
In der Forschungsabteilung von Autodesk haben meine Kollegen und ich in den vergangenen Jahren das Potenzial von ML zur Arbeitserleichterung bei der architektonischen Planung getestet. Wir konnten drei Bereiche identifizieren, in denen ML-gestützte Planung die Kompetenzpalette der Architekten erweitern, ihre Produktivität steigern und monotone Arbeiten automatisieren kann.
Bei der automatisierten Planung (Stichwort: „Generatives Design“) gibt der Planer Soll- bzw. Grenzwerte für bestimmte Parameter ein, aus denen der Algorithmus dann unterschiedliche Entwürfe erstellt. Das Forschungsteam von Autodesk hat diese Möglichkeiten bei der Planung des neuen Standorts im MaRS-Forschungspark in der kanadischen Stadt Toronto getestet.
Bei einer zweiten Variante, der datengestützten Planung, behält der Architekt hingegen die Kontrolle über den gesamten Planungsprozess, lässt sich dabei jedoch durch ML-Software unterstützen, die ihm Daten und Vorschläge etwa zu örtlich geltenden Bauordnungen und ähnlichen Themen liefert. Dadurch hat der Architekt mehr Freiheit bei der Planung und erhält nützliche Ratschläge, die seine Arbeit von der Grundlagenermittlung bis zur Genehmigungsplanung beschleunigen können.
Und drittens gibt es die interaktive Planung, eine ko-kreative Zusammenarbeit zwischen Mensch und Maschine, bei der die ML-Software die monotonen Routineaufgaben übernimmt. Diese Methode haben wir kürzlich mit unseren Projektpartnern NVIDIA und Gensler ausprobiert. Da wir einige gemeinsame Ziele haben, entstand daraus ein Forschungsprojekt, dessen Ergebnisse erwarten lassen, dass ML die Arbeitsabläufe in der Bauplanung und -ausführung grundlegend verändern wird.
Von BIM zu GAN
Unsere Versuchsbasis war ein von Gensler geplantes und von NVIDIA ausgeführtes Bürobauprojekt, bei dem wir die Praxistauglichkeit von ML zur Effizienzsteigerung für Architekten durch die Zusammenarbeit zwischen Menschen und Maschinen getestet haben.
Der (relativen) Einfachheit halber haben wir unser Experiment auf ein einziges Stockwerk – das dritte – und auf drei Gebäudebestandteile beschränkt: Großraumbüro-Waben, Konferenzräume und Telefonzellen. Wir waren uns einig, dass die dabei erfassten Daten für einen überzeugenden Machbarkeitsnachweis ausreichen würden.
In Zusammenarbeit mit NVIDIA und Gensler wurden alle Varianten dieser drei Bestandteile aus aktuellen Bauprojekten der beiden Unternehmen aufgezeichnet und in einem Datensatz zusammengefasst, der für jede der drei Komponenten sämtliche potenziellen räumlichen Kombinationen enthält.
Ein ML-Modell „lernt“ aus dem Erkennen von Mustern in einem großen Datensatz – in diesem Fall Beispielen für die Raumaufteilung in einem Bürogebäude. Zu den Grundprinzipien beim maschinellen Lernen zählt, dass das Modell sowohl an guten als auch an schlechten Daten geschult werden muss, sodass es erwünschte Ergebnisse (funktionale, angenehme und produktive Arbeitsumgebungen) ebenso sicher erkennt wie unerwünschte. Würde man es nur mit guten Daten füttern, wäre es nicht in der Lage, Fehler als solche zu identifizieren. Das führt dann dazu, dass etwa die Gesamtfläche der Waben größer geplant wird als die tatsächlich verfügbare Fläche oder nicht genügend Platz für die Durchgänge zwischen den Waben eingeplant wird.
Bei diesem Projekt entschieden wir uns für ein spezielles Modell, das als Generative Adversarial Network (GAN) bezeichnet wird. Ähnlich wie ein menschlicher Planer vertieft ein ML-System seine Kenntnisse in einem bestimmten Wissensbereich, indem es aus Erfahrung lernt und seine Vermutungen über das bereits Gelernte immer wieder an neuen Situationen testet.
In einem GAN fordern sich zwei unterschiedliche Modelle quasi gegenseitig heraus. Beide wurden mithilfe der Grafikprozessoren von NVIDIA geschult und „wissen“, wie ein guter Grundriss für ein Büro aussieht, einschließlich der Möblierung, Ausstattung (wie Gebäudetechnik und Rohrleitungen), Lichtversorgung und Raumaufteilung. Eins der beiden Modelle generiert laufend neue Kombinationen dieser Merkmale, die das zweite Netzwerk dann korrekt als „gut“ oder „schlecht“ bewerten muss.
Optimierte Raumaufteilung
Zur Umsetzung erstellte Autodesk eine Benutzeroberfläche zum Zeichnen. Bei diesem Arbeitsschritt – im Jargon als „Test Fitting“ bezeichnet –, mit dem die Planer von Gensler aus der Praxis sehr gut vertraut sind, ging es darum, die erforderliche Anzahl der einzelnen Komponenten in möglichst optimalen Konfigurationen auf der dafür verfügbaren Fläche unterzubringen.
Das Team gab die Zielvorgaben ein: 20 Konferenzräume, 20 Telefonzellen und 200 Arbeitsplätze. Aus diesen Vorgaben wurden vier Zonentypen konfiguriert – je einer für jede der drei Komponenten sowie ein vierter für „Keep out“-Zonen wie Küchen, Pausen- und Technikbereiche, die keine der drei Komponenten enthalten sollten.
Auf einem Tablet zeichneten die Planer zunächst den Grundriss für die geplanten Räume ein und gaben dann die Soll-Daten ein. Die daraus errechnete Raumaufteilung wurde in ein dreidimensionales BIM-Modell mit hoher Wiedergabetreue konvertiert.
Die nachträgliche Anpassung eines Bürogrundrisses – etwa die Erhöhung der Anzahl geplanter Arbeitsplätze von 350 auf 400 – stellt Architekten vor besondere Herausforderungen. In vielen Fällen muss der Planer dann mit Autodesk Revit noch einmal ganz von vorne anfangen. Ohne ML-Technologie ist das Erstellen und Vergleichen der unterschiedlichen Varianten ein mühseliger und zeitaufwendiger Prozess. Ob sich am Ende tatsächlich alle Vorgaben des Auftraggebers erfüllen lassen, ist dabei keineswegs garantiert.
Das GAN-Modell ermöglicht das Experimentieren mit verschiedenen alternativen Entwürfen, erspart den Planern dabei viel lästige Routinearbeit und verschafft ihnen dadurch mehr Freiraum, sich auf die kreativen Aspekte ihrer Arbeit zu konzentrieren. Das Zeichnen selbst dauert vielleicht nur 90 Sekunden – für Planer, die in Revit ohne ML-Unterstützung arbeiten, bedeuten diese 90 Sekunden jedoch ein wochenlanges Hin und Her.
Mithilfe der Grafikprozessoren von NVIDIA können Anwender den Entwurf zudem direkt in eine VR-Benutzeroberfläche übertragen. Mit einem VR-Headset kann der Planer sofort den Raum begehen, den er gerade gezeichnet hat, und sich quasi aus erster Hand einen Eindruck von der geplanten Arbeitsumgebung verschaffen. Wenn sie seine Erwartungen nicht erfüllt, hält er sich nicht lange dort auf, sondern probiert lieber eine Alternative aus.
Zukunftsweisende Arbeitsabläufe
Es ist gut denkbar, dass ML früher oder später einige Routineaufgaben automatisiert, die derzeit noch von Architekten erledigt werden. Die kreativeren Aspekte der Gebäudeplanung sollten jedoch immer in Menschenhand bleiben. Zur Gestaltung von Umgebungen, in denen andere Menschen gerne arbeiten und miteinander interagieren, braucht ein Architekt spezifisch menschliche Kompetenzen.
Die immateriellen Aspekte der Gebäudeplanung – der optische Gesamteindruck, die Werkstoffästhetik und die atmosphärische Eignung eines Raums zur Förderung von Teamarbeit – lassen sich einem GAN schwer beibringen. Die eigentliche Stärke der ML-gestützten Planung liegt in der Optimierung von Raumentwürfen für unterschiedliche Aktivitäten sowie der Errechnung infrastruktureller Erfordernisse. Die Technologie kann Architekten wertvolle Hilfestellung bei der Auswahl des praxistauglichsten Entwurfs leisten.
Bis ML-gestützte Planung für die Mehrzahl der Architekten verfügbar ist, werden wohl noch einige Jahre vergehen. Anders als bei der kommerziellen Markteinführung eines entsprechend optimierten neuen Tools lassen sich die bei unserem Experiment erzielten Produktivitätsgewinne bzw. -verluste zudem schwer quantifizieren. Auf jeden Fall konnten wir nachweisen, dass der Einsatz von ML im Rahmen existierender Arbeitsabläufe zur Steigerung der Produktivität – und Verringerung der Monotonie – für Architekten, Ingenieure und Bauunternehmer beitragen kann. In nicht allzu ferner Zukunft führt das hoffentlich dazu, dass Architekten sich ab und zu ein paar zusätzliche freie Tage gönnen können.
Dieser Beitrag entstand unter Mitwirkung des leitenden Forschungswissenschaftlers im Autodesk AI Lab, Chin-Yi Cheng.
Autodesk ist Partner vom Wissenschaftsjahr 2019 mit dem Fokus auf Künstliche Intelligenz (KI) und unterstützt damit die Initiative der Bundesregierung, den Blick für die Chancen in KI zu schärfen sowie die Herausforderungen dieses neuen Technologietrends zu thematisieren.