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Eine Weltreise auf den Spuren von Industrie 4.0 in der Fertigung

industry 4.0 manufacturing

Die globale Fertigungsindustrie erfindet sich gerade zum vierten Mal komplett neu. Unter dem Stichwort „Industrie 4.0“ wird eine umfassende Transformation der herstellenden Industrie eingeläutet – bestimmt durch intelligente Fabriken und neue Technologien zur Verwaltung von Lieferketten, der Systematisierung von Entscheidungen und der Überarbeitung physischer Prozesse in Echtzeit. Wird zumindest behauptet.

Dom Mirabile arbeitet bei einem führenden Beratungsunternehmen. Er meint, Industrie 4.0 sei zwar ein praktisches Kürzel für den Digitalisierungstrend in der Herstellung, warnt aber auch vor zu starker Vereinfachung.

„Vieles, was zum Thema Vierte Industrielle Revolution behauptet wird, suggeriert, dass die Einführung exponentiell wachsender Technologien zu enormem Zuwachs an Produktivität und integrierten Lieferketten führen wird“, sagt Mirabile. „Es geht immer nur darum, inwieweit es gelingt, Hersteller dazu zu bringen, neue Technologien einzuführen.“

Mirabile hält Industrie 4.0 allerdings für ein ehrgeiziges Unterfangen. „Wir haben es hier mit kapitalintensiven Unternehmen zu tun“, erklärt er. „Die verändern sich normalerweise nicht so schnell. Für sie stehen Kosten und Produktionsziele im Vordergrund und die Einführung von Innovationen kann sehr schwierig sein. Die Industrie 4.0-Devise ‚Investieren oder zurückbleiben‘ wird deshalb nicht immer gleich Begeisterung auslösen.”

industry 4.0 manufacturing appliance microfactory
Um neue fortschrittliche Methoden auszuprobieren, gründeten einige große Hersteller sogenannte Microfactories. Ein Beispiel dafür ist diese Mikrofabrik für Haushaltsgeräte in Kentucky. Credit: Dom Mirabile.

Auf beruflicher Heldenreise

Als 26-jähriger Berufsanfänger stand Mirabile diesem Einheitsschema misstrauisch gegenüber. „Die Fertigung ist ein unübersichtliches System“, sagt er. „Da gibt es große Erstausrüster, kleine Lieferanten, öffentlich-private Kooperationen, politische Entscheidungsträger sowie Lösungsanbieter. Es ist ein riesiges Ökosystem, und ich wollte davon so viel wie möglich mit eigenen Augen sehen.“

Gesagt, getan. Mirabile nahm ein Sabbatjahr, packte einige wichtige Dinge in einen Rucksack und begab sich auf eine viermonatige Odyssee. Er bereiste mehr als 35 Städte in 21 Ländern und besuchte über 50 Hersteller von Pittsburgh über Shenzhen bis nach Hamburg. Er reiste auf Straße und Schiene und machte zum Beispiel eine siebentägige Reise mit der Transsibirischen Eisenbahn quer durch Russland von Wladiwostok nach Moskau.

„Ich habe in China winzige Elektronikfertigungsbetriebe besucht und mir in Korea einige der wohl größten Schiffswerften der Welt angesehen“, erzählt Mirabile. „Außerdem alles, was dazwischen liegt – einschließlich der Fertigung von Textilien in Vietnam, Düsenflugzeugen in den USA, Industriekomponenten in Thailand und Autos in Deutschland.“ Und die Liste geht noch weiter.

industry 4.0 manufacturing small component–manufacturing facility in Japan
Mirabile in Budapest, mit dem neugotischen Parlamentsgebäude im Hintergrund. Credit: Dom Mirabile.

So wurde die Tour zu einer Art beruflicher „Heldenreise“ – ein von dem Mythenforscher Joseph Campbell geprägter Begriff für Abenteuer, der Mirabile als Inspiration diente. „Ich hatte einige Jahre in der Branche gearbeitet und in den USA bereits viele verschiedene Arten von Fertigungsbetrieben gesehen“, erzählt Mirabile. „Ich hatte Schwierigkeiten, den Hype der Vierten Industriellen Revolution einzuordnen, und ich wollte die operative Realität gerne mit eigenen Augen sehen.“

Verständnis für kulturelle Unterschiede

Mirabile kam aus der US-amerikanischen Herstellungsindustrie, wo Betriebseffizienz, Prozesssteuerung und Unternehmensorganisation eine wichtige Rolle spielen. „Wenn man sich an andere Orte begibt, stellt man fest, dass nicht überall die gleichen Prinzipien herrschen“, erklärt er.

Er hat erhebliche betriebliche Unterschiede in Niedriglohn- oder Schwellenländern festgestellt, will diese Abweichung aber nicht ausschließlich auf die Arbeitskosten zurückführen.

„Viele dieser Unternehmen haben andere Leitsätze, deshalb agieren – und innovieren – sie auch anders“, sagt Mirabile. „In Südostasien zum Beispiel leben viele der Arbeiter in staatlich geförderten oder von Mitarbeitern geführten Wohnheimen vor Ort. Die Fabrik ist nicht nur Arbeitsplatz, sondern oft auch Gemeinschaft und Zuhause. Es ist eine Institution, die für diese Menschen sorgt. Eine interessante Frage ist, wie sich Arbeit dadurch verändert und welche sozialen Bindungen entstehen.“

Small-component manufacturing in Japan
Ein kleiner Herstellungsbetrieb für Komponenten in Japan. Credit: Dom Mirabile.

Die Kreativität kleinerer Hersteller mit begrenzten Ressourcen empfand er als bemerkenswert. „So kaufte ein Werkzeugbauer alle Maschinen aus zweiter Hand und modifizierte sie im Grunde genommen so lange, bis sie genau das leisten konnten, was benötigt wurde“, begeistert sich Mirabile. Dabei spricht er nicht von ausgebildeten Ingenieuren. „Man tüftelte einfach herum und fand so heraus, was funktionierte“, erklärt er. Dies ist nur ein Beispiel von vielen für die Kreativität und den Ideenreichtum von Fertigungsbetrieben auf der ganzen Welt.

In Südostasien richten sich die Bestrebungen vieler Hersteller darauf, sich in der Wertschöpfungskette von preisgünstigen Produkten hin zu höherwertigen Erzeugnissen vorzuarbeiten. Viele von ihnen geben sich offenbar nicht mehr damit zufrieden, die multinationalen Marken zu beliefern. Stattdessen bauen sie selbst eigene Marken auf und verkaufen ihre Produkte direkt. „Globale Marken, die einen Großteil ihrer Produktion nach Südostasien auslagern, haben diese Fertigungskompetenz und dieses Knowhow verschenkt“, sagt Mirabile. „Jetzt bauen deren Lieferanten damit selbst Marken auf.“

Mirabile zufolge gibt es viele Gemeinsamkeiten zwischen Europa und den USA, wie zum Beispiel ähnlich hohe Arbeitskosten. Einen entscheidenden Unterschied sieht er in der europäischen Arbeitsmarktpolitik. „Dort wird seit langem daran gearbeitet, in der Arbeitswelt das richtige Verhältnis zwischen Menschen und Maschinen zu finden – wie kann man Automatisierung in die Betriebsabläufe integrieren und gleichzeitig Arbeitsplätze schützen?“, erklärt Mirabile.

In Japan schließlich fielen ihm die humanzentrierten Produktionsstätten auf, wo Massenentlassungen selten sind und die Automatisierung eher auf die Steigerung der Mitarbeiterproduktivität als auf die Ersetzung menschlicher Arbeitskräfte abzielt.

Neuausrichtung in der Fertigung

Mirabiles Reise gab ihm die Gelegenheit, manche traditionelle Auffassung in der Branche kritisch zu hinterfragen. Er schlägt die Überarbeitung einiger dieser Konzepte vor:

1. Innovationsmechanismen. Der Innovationsprozess in der Fertigungsbranche scheint sich zu verändern – Mirabile erwähnt das Entstehen von „Co-Creation“-Plattformen zur Auslagerung von Entwicklungs- und Fertigungs-Knowhow. „Andere wiederum arbeiten mit Start-ups zusammen oder gründen sie, um Prüfstände für Spitzentechnologie einzurichten“, sagt er. „So entwickeln sie neue Strategien, um Innovationen in der Produktion voranzutreiben.“

2. Nachwuchsförderung. Die Diskussion um die Nachwuchsförderung in der Fertigung sollte über Ausbildung und Umschulung hinausgehen. Einige visionäre Hersteller bieten ihren Mitarbeitern bereits heute flexible Fortbildungsmodelle und echte Chancen zur beruflichen Weiterentwicklung. So fertigt ein Hersteller in Thailand mit einer hochqualifizierten dezentralen Belegschaft Handtaschen – auf Abruf und von zu Hause. „Dadurch konnte der Hersteller die Zahl seiner Arbeitskräfte bedarfsgerichtet reduzieren und gleichzeitig Menschen in entlegenen Gemeinden Zugang zu Arbeit und einen Weg aus der Armut zu geben“, erzählt Mirabile.

3. Digitale Plattformen. „Bei so viel Hype um die Digitalisierung habe ich nach denjenigen gesucht, die die zugrunde liegenden Systeme in der Fertigung überdenken“, erklärt Mirabile. China investiert massiv in den Aufbau von hochtechnisierten integrierten Wertschöpfungsketten: durch den Bau intelligenter Fabriken und die Integration von Rohstofflieferanten mit Herstellern, Entwicklern und Endabnehmern. „Vorangetrieben wird diese Entwicklung vor allem von den Technologieriesen, nicht von den großen chinesischen Erstausrüstern“, sagt er. „Sie versuchen, alle Beteiligten auf ihre ‚industriellen Cloud-Plattformen‘ zu bringen, um eine nahtlos integrierte Wertschöpfungskette zu schaffen.“

4. Investment-Strategien. Führende Hersteller werden kreativ, wenn es um den Zugriff auf und Einsatz von Kapital geht. Mirabile berichtet, dass einige von ihnen in Zusammenarbeit mit Lieferanten oder Endabnehmern Mikrofabriken gegründet haben, um neue Produktionstechnologien zu erforschen. Andere planen Fertigungsinnovationen mit in ihre F&E-Budgets ein, um so die Erforschung und Entwicklung neuer Produktionstechnologien zu forcieren.

industry 4.0 manufacturing Smartville, the factory complex in Hambach, France
Eine von Dom Mirabiles zahlreichen Stationen war der Fabrikenkomplex „Smartville“ im französischen Hambach. Credit: Dom Mirabile.

5. Intelligente Fabriken. Zwischen der Vision von Industrie 4.0 – dynamische Systeme zur kontinuierlichen Optimierung digitaler und physikalischer Prozesse – und dem, was Mirabile erlebt hat, liegen noch himmelweite Unterschiede. Die verantwortlichen Führungskräfte sollten sich zunächst auf Flexibilität als notwendige Voraussetzung konzentrieren, bevor sie intelligente Systeme einbinden. „Ich habe gesehen, wie Unternehmen Luftschächte entfernten und befestigte Maschinen aus der Verschraubung lösten, um höchste Flexibilität zu erreichen“, sagt er. „Man beginnt beispielsweise damit, die Länge von Produktionslinien an den Bedarf anpassbar zu machen und geht dann später zu geschlossenen Automatisierungslösungen über.“

Am meisten beeindruckt haben Mirabile die Unternehmen, die im Zuge ihrer Neuerfindung nicht nur modernste Technologien, sondern einen ganzheitlichen Ansatz verfolgen. „Es ist gerade in, sich nicht mehr als Konsumgüter-, Industrie- oder Gesundheitsunternehmen, sondern als Technologieunternehmen zu präsentieren“, sagt er. „Viele versuchen, sich selbst durch diese Technologie-Linse neu zu definieren. Dabei hat sich gezeigt, dass dies wertorientierten Unternehmen besonders gut gelingt. Sie lassen ihren Innovationsprozess gerne von ihren Idealen in punkto Kundenbetreuung, Nachhaltigkeit oder Produktdesign steuern. Dazu gehört nicht nur die Einführung neuer Technologien, sondern auch ein Umdenken bei all diesen anderen Themen wie Personalentwicklung, Investitionsstrategien, Organisationsprinzipien usw.“

Insgesamt hat Mirabiles Reise gezeigt, dass Industrie 4.0 weit mehr verheißt als nur eine digitale Aufrüstung altgewohnter Betriebsabläufe.