Zunehmende Vernetzung in einer grenzenlosen Welt: Wie sähe eine Landkarte aus, die Infrastrukturen statt Staatsgrenzen abbildet?
Um ein Haar wäre Parag Khanna während eines äußerst turbulenten Flugs hoch über den von Menschenhand gezogenen Grenzen geboren worden, die unsere heutige Weltsicht bestimmen. Seine Mutter war im achten Monat schwanger und hatte alle möglichen Verzichterklärungen unterzeichnen müssen, damit sie überhaupt mitfliegen durfte.
Man kann es also für Zufall oder auch für Schicksal halten, dass Khanna sich als Vordenker einer postnationalen Weltbürgerschaft ohne Grenzen einen Namen gemacht hat. In seinem jüngst erschienenen Buch „Connectography“ unternimmt der TED-Referent und freie CNN-Mitarbeiter den Versuch, sich das Leben in einer Welt ohne Grenzen vorzustellen. Angesichts der zunehmenden Vernetzung im Bereich der Infrastruktur – Verkehr, Energie, Wasser, Kanalisation, Kommunikation –, so seine These, verlieren politische Grenzen immer mehr an Bedeutung. „In einer Welt stabiler, gleichberechtigter souveräner Staaten haben wir sowieso nie gelebt“, betont er. „Das war seit jeher eine Fiktion.“
Das Private ist politisch
Khannas Theorie der Konnektivität schlägt sich auf bemerkenswerte Weise in seinem eigenen Lebensweg nieder. „Ich bin schon seit meiner Geburt ständig unterwegs“, erzählt er. „Wir sind immer viel in andere Länder gereist, und später habe ich darauf eine Karriere aufgebaut.“
Der gebürtige Inder verbrachte seine Kindheit in Abu Dhabi und Dubai, lebte dann acht Jahre lang in New York und schloss die High School als Austauschschüler in Deutschland ab. Nach dem Studium an der Georgetown University in Washington ging er zunächst nach New York und Genf, wo er beim Weltwirtschaftsforum arbeitete, und promovierte dann an der London School of Economics. Heute lebt er mit seiner Familie in Singapur. Vor diesem internationalen Hintergrund ist unschwer nachzuvollziehen, warum er Infrastruktur und Lieferketten für die eigentlichen Triebkräfte der globalisierten Welt hält.
„Als ich durch Zentralasien gereist bin, wo praktisch alle Länder mit ‚-stan‘ enden, fiel mir auf, dass nicht etwa Panzer oder Flugzeugträger das eigentliche Machtinstrument waren, sondern die Straßen, Eisenbahnen und Baukolonnen“, meint er.
Heute sieht die Mehrzahl der Menschen die Welt als ein Gebilde aus eindeutig voneinander abgegrenzten Ländern. „Würde man sich aber eine Karte ansehen, auf der statt Grenzen nur Infrastruktur abgebildet ist, dann würde man gar nicht erst auf den Gedanken kommen, dass Grenzen wichtiger seien als Infrastruktur“, hält Khanna dagegen. „Tatsächlich ist Infrastruktur weitaus wichtiger als Grenzen. Infrastruktur verbindet Menschen, Ressourcen, Waren, Ideen, Finanzmittel und Kapital.“
Weiter argumentiert er: „Schauen Sie sich zum Beispiel das Handels- und Kapitalvolumen und die Anzahl der Migranten an, die Grenzen überqueren. Oder auch die Anzahl von Geschäftsreisenden, den Export und Import von Technologie und den Transport natürlicher Rohstoffe von einem Ausgangsort an jeden beliebigen anderen Ort der Welt. Sie können sich jeden denkbaren Datenpunkt anschauen – und zwar ausnahmslos jeden: In jedem einzelnen Lebensbereich werden Sie eine Beschleunigung der Konnektivität feststellen, die jetzt schon stärker ist als je zuvor in der Geschichte.“
Politische Denkschranken
Dieser Entwicklung zum Trotz erweisen sich Xenophobie und Protektionismus in der Politik als erstaunlich hartnäckig, wie jüngst wieder die Forderung des republikanischen Präsidentschaftsfavoriten Donald Trump zeigt, eine Mauer zwischen Mexiko und den USA zu errichten.
„Mexiko muss für die Mauer zahlen“, heißt es in einem Positionspapier zur Einwanderung, das Trump auf seiner Homepage veröffentlicht hat. Bis dahin sollten die USA verschiedene Maßnahmen gegen Mexiko ergreifen, so zum Beispiel die Beschlagnahmung sämtlicher Überweisungen aus Gehältern für Schwarzarbeit sowie eine Erhöhung der Gebühren für Visa für Vorstandsmitglieder von Unternehmen und Diplomaten aus Mexiko, für die US-Grenzübergangskarten, die etwa eine Million Mexikaner jedes Jahr nutzten, sowie für Nichteinwanderungsvisa für NAFTA-Fachkräfte aus Mexiko und für die Einreise an sämtlichen Grenzübergängen.
Khanna nimmt diese Rhetorik nicht sonderlich ernst. „Ich mache mir nicht allzu viele Gedanken darüber, dass Donald Trump eine Mauer entlang der Grenze zu Mexiko bauen will“, bekräftigt er. „Wir regen uns gerne über Populisten auf, die derartige Standpunkte vertreten. Wenn solche Leute aber jemals an die Macht kommen, relativieren sie oft ihre engstirnigen Ansichten, sobald sie mit den realen Bedingungen wechselseitiger Abhängigkeit konfrontiert werden.“
Zu dieser Realität gehöre auch, dass die Grenzen zwischen Ländern immer durchlässiger würden. Allem politischen Alarmismus zum Trotz gehe der Trend weltweit weiterhin in Richtung einer radikalen Konnektivität. Entsprechend sei auch der Eindruck falsch, Europa mache seine Grenzen aufgrund sicherheits- und wirtschaftspolitischer Bedenken zunehmend dicht. „Nie zuvor in der europäischen Geschichte sind innerhalb eines Jahres so viele Menschen nach Europa gekommen wie 2015. Entscheidend ist nicht bloß, was die Menschen sagen, sondern was sie tun.“
Entgegen der Trump‘schen Schwarzmalerei ist Khanna fest vom volkswirtschaftlichen Nutzen der Einwanderung überzeugt: „Amerika braucht Einwanderer als Unternehmer; es braucht Einwanderer für die Baumwoll- und Mandelernte, als Altenpfleger, als Busfahrer und Ärzte. Und Europa braucht sogar noch mehr Einwanderer als Amerika.“
Freilich fordern manche Politiker nicht nur aus wirtschaftlichen Gründen eine Schließung der Grenzen. Angesichts der zunehmenden Bedrohung durch Terroranschläge ist auch die innere Sicherheit ein ständiges Thema. Khanna gibt zu, dass sich durch „verschärfte Grenzkontrollen möglicherweise konkrete Fälle von terroristischen Anschlägen verhindern lassen“. Er gibt aber zu bedenken: „Aktuell befinden wir uns jedoch in einer Situation, in der viele Terroristen Anschläge in Ländern verüben, deren Staatsbürgerschaft sie haben, oder mit Pässen westlicher Länder problemlos hin und her reisen können. Insofern lassen sich diese Ströme gar nicht mehr aufhalten. Sowieso werden über 90 Prozent aller terroristischen Anschläge von Tätern aus dem Inland verübt. Dagegen kann eine Verschärfung der Grenzkontrollen wenig ausrichten.“
Grenzen abbauen
Statt Grenzen dicht zu machen, fordert Khanna genau das Gegenteil: „Von Pandemien und Terroristen einmal abgesehen, ist es grundsätzlich eine positive Sache, Strömen freien Lauf zu lassen“, behauptet er. „In sämtlichen wichtigen Weltregionen geht der Trend hin zur Abschaffung der Visumpflicht, Abbau von Hindernissen für den Im- und Export digitaler Technologien und den freien Fluss von Investitionskapital und Arbeitskräften sowie den Bau neuer grenzübergreifender Infrastrukturen. Diese Entwicklung ist selbst in den gefährlichsten Gegenden der Welt zu beobachten.“
Wie aber sollen sich die Bürger und Bürgerinnen in einer grenzenlosen Welt eingewöhnen? Ganz allmählich, empfiehlt Khanna. „Man reißt nicht alle Grenzen auf einmal ein, sondern eine nach der anderen.“ Land für Land, Region für Region. „Um eine grenzenlose Welt aufzubauen, in der Frieden und Ausgewogenheit herrschen, müssen die Staaten zunächst paarweise vorgehen, ihre Stabilität und ihre Beziehungen zueinander verbessern und diesen Kreis dann Stück für Stück auszuweiten.“
Dabei sei der Gedanke einer Welt ohne Grenzen keineswegs so radikal, wie er sich anhöre. Für Khanna handelt es sich weniger um einen Paradigmen- als um einen Perspektivenwechsel: Man müsse sich die Welt nicht als ein Konstrukt aus statischen Linien, sondern als Netzwerk vorstellen. Abschließend bringt er seine Hoffnung zum Ausdruck, dass die Washingtoner Strategen sein neues Buch lesen und künftig verstärkt auf eine vernetzte statt eine geteilte Welt hinarbeiten würden.