Generatives Design: viel Lärm um nichts? Diese Beispiele zeichnen ein anderes Bild
Generatives Design ist meiner Meinung nach die vielversprechendste Entwicklung in der Fertigungsindustrie der letzten 20 Jahre. Sie halten das für übertrieben oder wissen allgemein nicht viel mit generativem Design anzufangen? Dann liefere ich Ihnen hier ein paar Beispiele, die Sie umstimmen könnten.
Zuallererst möchte ich jedoch darauf eingehen, was generatives Design ist – und was nicht. Häufig wird generatives Design mit einer anderen Technologie gleichgesetzt, der Topologieoptimierung. Bei der Topologieoptimierung handelt es sich zweifelsohne um ein wichtiges Verfahren, doch damit wird nur ein kleiner Teil der unzähligen Möglichkeiten abgedeckt, die generatives Design mit sich bringt. Wer das eine mit dem anderen verwechselt, verkennt leicht das richtungsweisende Potenzial des generativen Designs.
Worin unterscheiden sich also die beiden Technologien?
Grob gesagt nimmt man bei der Topologieoptimierung eine vorhandene, auf herkömmliche Weise erstellte Konstruktion als Grundlage und wendet darauf in der Folge einen Algorithmus an, um sie zu „optimieren“. Sie wird vor allem eingesetzt, um ein bestimmtes Material aus einer Konstruktion zu isolieren und wiederholt Simulationen zu unterziehen, um so die leichteste Variante zu bestimmen, die noch die Mindestanforderungen erfüllt. Damit ist sie ein nützliches Verfahren für die Gewichtsreduzierung bestehender Konstruktionen, eignet sich jedoch nicht für die Suche nach alternativen Lösungsmöglichkeiten und Herangehensweisen. Topologieoptimierung ist eben nicht gleich generatives Design.
„Das Ergebnis herkömmlicher Konstruktionsverfahren beruht immer auf der Annahme des Ingenieurs, wie ein Problem am besten gelöst werden kann.”
Bei der Topologieoptimierung bleibt nämlich ein entscheidender Faktor unberücksichtigt: Das Ergebnis herkömmlicher Konstruktionsverfahren beruht immer auf der Annahme des Ingenieurs, wie ein Problem am besten gelöst werden kann. Da die geometrischen Eigenschaften der entsprechenden Konstruktion bereits im Vorfeld festgelegt sind, ist der Optimierungsalgorithmus so sehr in seinen Möglichkeiten eingeschränkt, dass er die „optimale“ Lösung für das zugrundeliegende Problem gar nicht finden kann. Er ist an die Annahme des Konstrukteurs gebunden and kann lediglich versuchen, diese noch ein klein wenig zu verbessern. Zwar ist es durchaus denkbar, dass dabei eine ausgezeichnete und technisch fortschrittliche Annahme herauskommt, doch mit großer Wahrscheinlichkeit handelt es sich nicht um die bestmögliche Lösung für das Problem. In dem Fall kann Topologieoptimierung nicht mehr leisten als eine suboptimale Annahme Schritt für Schritt zu verbessern.
Im Gegensatz dazu kommt generatives Design bei der Festlegung der geometrischen Eigenschaften einer Konstruktion ganz ohne Annahmen aus. Im Prinzip sagen Sie Ihrem Computer: „Ich kenne die Lösung nicht, aber ich kann das Problem umreißen.“ Bei diesem Prozess stecken Sie zunächst alle Randbedingungen ab (zum Beispiel Lasten oder Befestigungspunkte) und legen die gewünschten Kriterien fest (zum Beispiel Gewicht, Sicherheitsanforderungen, Fertigungsverfahren).
Von da an übernimmt der Computer: Mit der Leistungsfähigkeit und Geschwindigkeit der Cloud im Rücken spielt die generative Designsoftware jede geometrisch mögliche Option durch und zeigt – basierend auf Werkstoffen, Herstellungsverfahren und Anforderungen an die Leistungsfähigkeit des Objekts – schließlich Hunderte (wenn nicht gar Tausende) von Optionen an. Sobald Sie sich einen Überblick über die vielen verschiedenen Lösungsmöglichkeiten für ein bestimmtes Konstruktionsproblem verschafft haben, können Sie diejenigen auswählen, die am besten zu Ihrem Projekt passen.
Ob bewusst oder nicht – Ingenieurinnen und Ingenieure neigen dazu, fertigungsbedingte Einschränkungen in ihre Entwürfe mit einzukalkulieren. Diese Voreingenommenheit ist dem Computer hingegen völlig fremd, sodass er mit Konstruktionslösungen aufwarten kann, die einem Menschen nie in den Sinn kämen. Dies ist ein weiteres Unterscheidungsmerkmal zwischen generativem Design und Topologieoptimierung. Letztere geht schließlich von einem bereits fertiggestellten menschengemachten Entwurf (inklusive aller Einschränkungen) aus und poliert diesen lediglich etwas auf.
Falls Sie immer noch der Ansicht sind, dass das Potenzial von generativem Design stark überbewertet sei, könnten die folgenden Praxisbeispiele interessant für Sie sein. Denn bei General Motors, Claudius Peters, Airbus und anderen Unternehmen kommt die Technologie bereits in allen möglichen Bereichen zum Einsatz, von der Ergründung neuer Designs bis hin zur Konsolidierung von Einzelteilen.
Die Ingenieure bei GM nutzen generatives Design, um die Gestaltung einer Sitzkonsole von Grund auf zu überarbeiten. Die neue Konsole besteht nur noch aus einem einzigen Bauteil und fällt um 40 Prozent leichter und 20 Prozent stabiler aus als das achtteilige Vorgängermodell, das sie ablösen soll. Da die Fahrzeuginsassen die Sitzkonsole nicht zu Gesicht bekommen, spielt es auch keine große Rolle, welche Form sie hat oder ob sie ansprechend aussieht. Großen Wert legt man bei GM stattdessen auf Faktoren wie Gewicht, Sicherheit, Einzelteilreduzierung, Langlebigkeit und Herstellbarkeit. Durch die zahlenmäßige Reduzierung der Einzelteile, die gefertigt, nachverfolgt und montiert werden müssen, stellen sich außerdem zwei positive Nebeneffekte ein: enorme Kosteneinsparungen und eine deutliche Vereinfachung des Produktionsprozesses.
Auch die Claudius Peters Projects GmbH setzt auf generatives Design, um ihre Produkte zu verbessern. Das vor mehr als 100 Jahren gegründete Unternehmen ist auf die Fertigung und Inbetriebnahme von Fördersystemen und verfahrenstechnischen Anlagen für die Gips-, Zement-, Kohle-, Aluminium- und Schüttgutindustrie spezialisiert. Mithilfe von generativem Design sammeln die Mitarbeiter bei Claudius Peters Ideen, wie man einige der größten Anlagen in ihrem Portfolio in Bezug auf Konstruktion und Fertigung umgestalten kann. Die verschiedenen Konstruktionsvorschläge, die die generative Designsoftware hervorbringt, dienen ihnen dabei als Inspiration. Sie fließen schließlich nach dem Reverse-Engineering-Prinzip in die Erstellung neuer Konstruktionen ein, deren Umsetzung mit herkömmlichen Fertigungsverfahren möglich ist. Durch die optimierten Konstruktionen kann nicht nur das Gewicht der Anlagen um etwa 25 Prozent verringert werden, sondern es können auch Schwachstellen beseitigt werden, die in der Vergangenheit zu Problemen führten.
Airbus griff für die Gestaltung einer neuen Trennwand für seine Flugzeuge ebenfalls auf generatives Design zurück und konnte so mehrere Tausend Varianten austesten. Das Ergebnis: Halbierung des Gewichts und damit Treibstoffeinsparungen in Millionenhöhe bei gleichzeitiger Einhaltung aller Sicherheitsstandards. Die neue Version der Trennwand ist zudem stabiler und leistungsfähiger als das schwerere Vorgängermodell, das jahrzehntelang eingesetzt wurde.
Das folgende Video zeigt, wie der Motorradhersteller Lightning Motorcycles bei der Neugestaltung einer Schwinge (dem zentralen Bauteil für die Hinterradaufhängung eines Motorrads) mit generativem Design vorgegangen ist.
Keine der vorgestellten Innovationen hätte mit Topologieoptimierung jemals das Licht der Welt erblickt. Letztlich konnte die bestmögliche Lösung nur gefunden werden, indem ein ganz neuer Ansatz gewählt und so alle möglichen Optionen in Betracht gezogen wurden. Für GM, Claudius Peters, Airbus und Lightning Motorcycles war nicht die Geometrie der Ausgangspunkt, sondern die Problemstellung und das gewünschte Ergebnis. Nachdem sie derart den Rahmen abgesteckt hatten, ließen sie den Computer die notwendigen Berechnungen vornehmen.
Bei Entwicklungen jeglicher Art geht es im Grunde immer darum, Kosten und Nutzen miteinander in Einklang zu bringen. Doch die Zeit und Energie, die ein Entwickler für die Lösung eines bestimmten Problems aufwenden kann, ist begrenzt. Der Computer ist hingegen nicht derartigen Einschränkungen unterworfen und kann daher jede mögliche Option durchspielen. Hinzu kommt, dass heutzutage auch alle in Betracht gezogenen Optionen dank fortschrittlicher Fertigungsverfahren, wie der additiven Fertigung, realisiert werden können. Zum ersten Mal in meinem Leben übertreffen die Möglichkeiten in der Fertigung bei weitem jene der Konstruktion.
Heutzutage halten sich viel zu viele Ingenieure mit trivialen Problemen auf, die keine neuen Innovationen hervorbringen. Mithilfe von generativem Design kann man den Großteil dieser „Denkarbeit“ dem Computer überlassen – so können Ingenieure ihre grauen Zellen wieder dazu verwenden, innovative Lösungen zu finden, sprich Probleme zu lösen, die bisher noch nicht gelöst wurden.
Damit sich generatives Design aber wirklich durchsetzen kann, müssen wir zunächst unsere Einstellung ändern. Malen Sie sich nur mal aus, welch bahnbrechende Erkenntnisse Konstrukteure und Ingenieure gewinnen könnten, wenn sie ihre Computer nicht mehr nur als Hilfsmittel, sondern als Partner begreifen würden. In einer solchen Welt werden neue Ideen nur so sprudeln und Hersteller werden nicht nur mehr Produkte auf den Markt bringen als je zuvor, sondern auch noch in kürzerer Zeit, zu geringeren Kosten und mit größerer Innovationskraft.
Und das Beste daran: Diese Zukunft müssen wir uns gar nicht ausmalen, denn generatives Design ist bereits Realität. Jedem Konstrukteur und Ingenieur steht heutzutage mehr Rechenleistung zur Verfügung, als es vor sieben Jahren insgesamt auf der Welt gab. Die Frage, die sich jeder einzelne von uns stellen sollte, lautet daher: Was fangen wir damit an?