Diversität und Frauen in der Baubranche: Pandemie bringt den Wandel
- Durch die Pandemie haben sich für Frauen, nicht-binäre und gender-nonkonforme Menschen viele Türen geöffnet. Beflügelt wird der Wandel durch Technologie, Innovation und Karrierechancen, die bewusst auf Diversität setzen
- Zwar ist der Gender-Gap im Bauwesen noch immer allgegenwärtig, aber Organisationen, Regierungen und Unternehmen stellen sich zunehmend den längst überfälligen Änderungen
- Technologie und Innovation sind ein Treiber für mehr Vielfalt im Bausektor und sorgen dafür, dass tradierte Rollenbilder erneuert und Prozesse gerechter gestaltet werden können
Das Bauen ist so alt wie die Menschen selbst. Schon in der Steinzeit diente der Faustkeil als nützliches Werkzeug zur Gestaltung ihres Lebensraums. Später erlernten die Menschen die Kunst des Schmiedens und waren in der Lage, Nägel aus Metall zu fertigen. Weitere zwei Millionen Jahre später wurde der Hammerstiel erfunden. So führten viele revolutionäre Schritte zu immer neuen Baustoffen und Bautechnologien, bis im Zuge der Industriellen Revolution das uns heute bekannte Bauwesen entstand.
Lange galt die Branche als die Männerhochburg schlechthin. Zu einer „richtigen“ Baustelle schienen verschwitzte Männer mit Bauhelmen zu gehören. Doch dieses Bild beginnt zunehmend zu verblassen. Auch wenn nach wie vor deutlich mehr Männer als Frauen in Bauberufen arbeiten, wird die Arbeitskultur immer integrativer. Bereits heute leisten viele Frauen und Menschen, die sich als trans, nicht-binär oder gendervariant fühlen, einen unverzichtbaren Beitrag an Planungs- und Bauprozessen.
Besondere Herausforderungen für Frauen und nicht-binäre Menschen im Bauwesen
Obwohl viel dafür getan wird, Frauen für Bauberufe zu begeistern, leidet die Branche noch immer unter alten Klischees: Eine Karriere im Baubereich wird als „Männerberuf“ wahrgenommen. Paradoxerweise ist diese mangelnde Geschlechtervielfalt auch eine Schwäche der Branche. Schon allein aufgrund der starken Vorurteile ziehen viele körperlich ebenso gut geeignete und auch ansonsten gleichwertig qualifizierte Frauen einen Bauberuf gar nicht erst in Betracht.
Am 30. Juni 2021 lag der statistische Anteil von Frauen in Hoch- und Tiefbauberufen in Deutschland gerade einmal bei 1,8 % und bei Ausbauberufen 3,8 %. In diesen Bauberufen haben Frauen damit aktuell noch echten Exotenstatus. Lediglich an Bauplanungs-, Architektur- und Vermessungsberufen haben sie mit 30 % einen nennenswerten Anteil. Dazu kommt, dass Frauen wie auch nicht-binäre Menschen in diesem Umfeld häufiger Erfahrungen mit geschlechterspezifischer Diskriminierung durch männliche Kollegen am Arbeitsplatz machen. Dies hat zur Folge, dass Frauen, die im Baugewerbe arbeiten, sich häufig nicht respektiert fühlen. Darüber hinaus sind Sexismus und geschlechterspezifische Vorteile neben mangelnder Anerkennung und fehlenden weiblichen Vorbildern laut einer Umfrage der Hagedorn Unternehmensgruppe aus dem Jahr 2021 häufig genannte Herausforderung für Frauen.
Andere Herausforderungen im Baugewerbe reichen von sexueller Belästigung durch Kollegen und Geschäftspartner bis hin zur passenden Toilettenhygiene und anderen Herausforderungen. Klar ist auch, dass Frauen andere ergonomische Bedürfnisse haben. Häufig sind die Werkzeuge zu groß für Frauen, die im Durchschnitt kleinere Hände haben und im Verhältnis zu Männern anders proportioniert sind. Diese vermeintlich einfach zu lösenden Herausforderungen wurden bisher nicht systematisch angegangen.
Ethnische Benachteiligung am Arbeitsplatz
Die Formen der ethnischen Benachteiligung im Bauwesen unterscheiden sich zunächst nicht wesentlich von den Problemen, denen Frauen of Color in anderen Branchen begegnen. Dass sie als Frauen oder nicht-binäre Menschen in einer von Männern dominierten Branche arbeiten, ist jedoch eine zusätzliche Erschwernis.
Junge Frauen of Color werden besonders häufig mit rassistischen Vorurteilen konfrontiert. Ihnen scheint man am wenigsten zuzutrauen. Neben dieser ethnischen Benachteiligung können diese Menschen zusätzlich einer Diskriminierung aufgrund ihres Alters oder Geschlechts ausgesetzt sein. In den Vereinigten Staaten sind 45 % aller Frauen im Baugewerbe Frauen of Color – ein Grund mehr, warum die Branche entschieden für ethnische Gleichheit einstehen und sich dringend an den weltweiten Fortschritten in diesem Bereich beteiligen sollte.
Die Auswirkungen von COVID-19 auf den Bausektor
In wirtschaftlicher Hinsicht verliefen die Jahre 2020 und 2021 alles andere als normal. Da das Bauwesen naturgemäß empfindlich auf Konjunkturschwankungen reagiert, war die Branche durch die COVID-19-Pandemie vergleichsweise stark betroffen. Das Jahr 2020 war durch massive Probleme in den Lieferketten, Material- und Ausrüstungsengpässe gekennzeichnet. Zudem sorgten auf der ganzen Welt Lockdowns für den Stillstand zahlreicher Baustellen.
In dieser Zeit erlebten von Frauen dominierte Branchen wie das Bildungs- und Gesundheitswesen den stärksten Beschäftigungseinbruch. Frauen haben während der pandemiebedingten Rezession einen Nettoverlust von 5,4 Millionen Arbeitsplätzen zu verzeichnen. Bei Männern waren es im Vergleich dazu nur 4,4 Millionen.
Zwar relativieren sich diese Verluste vor dem Hintergrund der alternden Arbeitnehmerschaft und dem Fachkräftemangel in der Bauwirtschaft etwas. Doch spätestens mit der Einstellung neuer Arbeitskräfte sollte die Chancen genutzt werden, die Geschlechterverteilung in der Branche ausgeglichener zu gestalten. Dabei erweitert sich der Kreis der geeigneten Bewerbenden exponentiell, wenn auch Frauen, trans- und gender-nonkonforme Menschen sich bei der Stellenvergabe angesprochen fühlen.
Diese Neuorientierung und die damit verbundenen Fortschritte lassen sich nicht von heute auf morgen erreichen. Spätestens im Zuge der Wiederbelebung der Baubranche nach der Coronapandemie scheint ein nachhaltiger Paradigmenwandel des Sektors jedoch ohnehin unausweichlich.
Die Baubranche nach der Pandemie
Derzeit spricht einiges dafür, dass Frauen einen Job im Bauwesen ergreifen: In dem schnell wachsenden Arbeitsmarkt sind viele Stellen zu besetzen. Damit dies gelingt, kann die Branche nun die Chance ergreifen und neue Zielgruppen ansprechen, die bisher kaum erreicht wurden.
Laut der zweiten jährlichen Studie von SmartAsset über die am schnellsten wachsenden Frauenberufe in Amerika gibt es heute 50.000 Frauen mehr im Baugewerbe als noch 2015. Ein wohl noch stärkerer Indikator für einen Wandel der Arbeitswelt ist die Tatsache, dass die Zahl der weiblichen Bauführungskräfte in dieser Zeit um mehr als 101 % gestiegen ist. Das zeigt, das sich Frauen insbesondere in den Führungsriegen der Planungs- und Bauunternehmen gut durchsetzen können und die ungleiche Geschlechterverteilung bald der Vergangenheit angehören könnte.
Verdienstunterschiede im Bauwesen verhältnismäßig gering
Wenn man die die Gehälter in allen US-amerikanischen zivilen Berufen insgesamt betrachtet, sind die Zahlen ziemlich eindeutig: Männer verdienen mehr als Frauen. So verdienen Frauen in den USA ungefähr 19 % weniger als ihre männlichen Kollegen und auch für Deutschland meldete das Statistische Bundesamt für 2018 einen Verdienstunterschied zwischen Frauen und Männern von 21 %. Im Bausektor hingegen ist das Lohngefälle zwischen den Geschlechtern erfreulicherweise deutlich geringer. So verdienen Frauen in den USA im Durchschnitt 95 % dessen, was Männer verdienen. Frauen, die in Deutschland einen Bauberuf wählen, und es bis an die Spitze schaffen, können sich Studien zufolge ebenfalls über eine überdurchschnittliche Entlohnung freuen.
Auch wenn die Arbeitsmarktstatistiken nicht alle geschlechtlichen Identitäten getrennt ausweisen, liegt der mittlere Verdienst von Frauen, die in der Baubranche arbeiten, in den USA etwa 7 % höher als in allen anderen Branchen. Das Gegenteil gilt für Männer, die in der Baubranche, verglichen mit anderen Industriezweigen, in der Regel unterdurchschnittlich verdienen. Obwohl Bauberufe weitgehend noch von Männern dominiert werden, zeichnet sich bei einer genaueren Betrachtung der Zahlen bereits der Beginn eines Wandels ab, der die Branche moderner und integrativer machen wird.
Die Baubranche kann den Gender-Gap überwinden
Spätestens mit der Generation Z verzeichnen die USA einen Bewusstseinswandel, unter dem sich die Geschlechteridentitäten freier entwickeln können. Nach einer Umfrage von Pew Research sagen 35 % der Befragten, die der Gen Z angehören, dass sie persönlich jemanden kennen, der lieber geschlechtsneutrale Pronomen führen möchte. Unter den Millennials waren es dagegen 25 %, in den Menschen der Gen X 16 % und unter den Baby Boomern gar nur 12 %.
Um mehr weibliche Beschäftigte zu gewinnen, sollten Unternehmen der Baubranche ihre Attraktivität als Arbeitgeber steigern. Hierfür bieten sich folgende Strategien an:
- Konsequent geschlechtsneutrale Stellenbeschreibungen
- Beauftragung von Subunternehmen und Anbietern, die von Frauen oder Transgendern geführt werden
- Respektieren der Selbstidentifikation, indem jeder Mensch mit dem selbst gewählten Namen und Pronomen angesprochen wird
- Hervorheben von Vorteilen, die die Vereinbarkeit von Berufs- und Privatleben erleichtern (z. B. Mutterschutz)
- Null-Toleranz-Politik in Bezug auf Sexismus, Diskriminierung und Mobbing
- Mentoren- und Lehrlingsprogramme für junge Frauen, Transsexuelle und gender-nonkonforme Menschen
Weitere Anregungen für die Umsetzung einer solchen Strategie gibt zum Beispiel Tanja Leis, Projektleiterin der RG-Bau.
Zahlreiche Organisationen setzen sich für mehr Frauen in Bauberufen ein und fördern das Bewusstsein für Innovationen und neue Möglichkeiten in der Branche. Um mit Vorurteilen aufzuräumen und zu zeigen, dass Frauen in Bauberufen sehr willkommen sind, beteiligen sich Unternehmen der Baubranche in Deutschland etwa am Girls‘ Day – einem bundesweiten Projekt zur Berufs- und Studienorientierung von Mädchen. Der Girls' Day ist eine gute Gelegenheit, um bereits Mädchen im Schulalter für die vielfältigen Berufsmöglichkeiten am Bau zu begeistern. Ziel ist es, dass sich die potenziellen Nachwuchskräfte in ein paar Jahren in den Unternehmen bewerben.
Auch das RKW Kompetenzzentrum setzt sich für die Fachkräftesicherung und Innovation ein und möchte Bauunternehmen mit dem Projekt „Frauen am Bau“ für Themen wie Gender Diversity sensibilisieren und deren Image und Attraktivität als Arbeitgeber für Frauen verbessern. Auf der anderen Seite des Atlantiks bietet sich ein ähnliches Bild: Projekte wie Dykes With Drills planen landesweit in vielen US-amerikanischen Städten unter anderem Workshops, Lern- und Gemeinschaftsbaustellen, um Frauen, Transgender und gender-nonkonforme Menschen die Möglichkeit zu geben, Bauerfahrungen in einem inklusiven Umfeld zu sammeln. Freiwillige Helfende der gemeinnützigen Organisation haben kürzlich einen Teil eines überdachten Skateparks in Oakland und kleine Häuser für obdachlose Jugendliche gebaut. In New York bietet die Build Out Alliance spezielle Networking- und Mentoring-Angebote für LGBTQ-Menschen in der Baubranche.
Manche Unternehmen gehen noch einen Schritt weiter: Laing O'Rourke hat sich zum Ziel gesetzt, bis 2033 genauso viele Frauen zu beschäftigen wie Männer. Um die Diversität der Branche in den Medien besser darzustellen, haben Autodesk und die Associated General Contractors of America (AGC) vor kurzem die Construction Diversity Image Library ins Leben gerufen.
Bewusst auf Diversität im Bausektor setzen
Um wirtschaftliche Impulse zu setzen und einen echten Wandel herbeizuführen, macht es Sinn, die etablierten Vorstellungen über die Rolle von Frauen in der Baubranche zu überdenken: angesichts des Rufs der Branche als ausgesprochene Männerdomäne sicherlich kein leichtes Unterfangen, was nicht heißen soll, dass zahlreiche Unternehmen sich bereits auf diesen Weg gemacht haben.
Miron Construction ist eins dieser Unternehmen. Um den Gender-Gap zu überwinden, hat Miron eine jährliche Veranstaltung ins Leben gerufen. Ähnlich wie auch der Girls‘Day soll die Veranstaltung mit dem Titel Build Like a Girl Mädchen der Mittel- und Oberstufe zeigen, dass Bauen nicht nur etwas für Jungs ist. Build Like a Girl ermuntert junge Frauen, die Ärmel hochzukrempeln und durch praktische Projekte auf eigenen Lernbaustellen zu erfahren, worum es auf dem Bau und im Handwerk geht.
Auch im australischen Victoria setzt man sich für eine ausgeglichene Geschlechterverteilung im Bauwesen ein. Um den Anteil der Frauen in der Baubranche endlich zu erhöhen, fördert die Regierung des Bundesstaates mit der mit der Victoria’s Women in Construction Strategy eine gezielte Initiative, deren Ziel nicht weniger ambitioniert ist, als die Anzahl der Männer und Frauen in der Baubranche auszugleichen.
Vorurteile im Bauwesen abbauen
Das Arbeitsumfeld in der Baubranche ändert sich schnell. Dennoch sind gezielte Strategien zur Förderung der Diversität und mehr Werbung erforderlich, um mehr Frauen, nicht-binäre und gender-nonkonforme Menschen zu einer Karriere im Bauwesen zu motivieren. Dabei darf nicht vergessen werden, welche großartigen Erfolge Frauen allein im vergangenen Jahrzehnt feiern konnten. So wurde die einflussreiche Architektin Elizabeth Diller 2018 in die Time 100 aufgenommen – eine vom US-amerikanischen Nachrichtenmagazin Time jährlich veröffentlichte Liste der einhundert einflussreichsten Persönlichkeiten.
Bauen ist heute viel mehr als Mauern hochziehen, Gerüste aufstellen und Betondecken gießen. Eine wachsende Zahl Frauen und gender-diverser Menschen bringt mehr Inspiration in diesen Bereich als je zuvor. Diesbezüglich hat die Branche ein riesiges Potenzial und entwickelt sich dank neuer Technologien und Innovation schnell weiter.
Dieser Artikel wurde aktualisiert. Er wurde ursprünglich im März 2018 veröffentlicht.