Innovative Zahnspangen verleihen der Kieferorthopädie ein neues Gesicht
Das frühe 20. Jahrhundert war eine finstere Epoche in der Geschichte der Zahnmedizin: Extraktionen ohne Betäubung waren damals gang und gäbe, und Dentalgeräte erinnerten eher an mittelalterliche Folterinstrumente. In dieser Zeit wurden auch die Spangen zur Korrektur von Zahn- und Kieferfehlstellungen erfunden. Glücklicherweise hat die Kieferorthopädie in den vergangenen hundert Jahren enorme Fortschritte gemacht. Mit einem Bodendraht aus einer Formgedächtnislegierung setzt das kanadische Start-up Smarter Alloys nun zum nächsten kieferorthopädischen Quantensprung an.
Im Rahmen des Residenzprogramms am Autodesk Technology Center in Toronto arbeitet das Technologieunternehmen mit Multiple Memory Material, einer lernfähigen „intelligenten“ Metalllegierung, die sich individuell an den Träger anpassen lässt. So kann mit der von Smarter Alloys entwickelten „SmartArch“-Spange die Dauer kieferorthopädischer Behandlungen potenziell um bis zu 50 Prozent verkürzt werden.
Die Lernfähigkeit des Multiple Memory Material beruht auf zwei einzigartigen Produkteigenschaften: dem Formgedächtniseffekt und dem pseudoelastischen Verhalten („Superelastizität“). Temperaturgesteuert können Formgedächtnislegierungen (FGL) Formen „erlernen“, wieder verlernen und sich zu einem späteren Zeitpunkt in eine einmal erlernte Form zurückwandeln.
„Der Formgedächtniseffekt funktioniert so, dass wir den Werkstoff unter eine bestimmte Temperatur abkühlen“, erläutert Dr. Michael Kuntz, der bei Smarter Alloys als Vice President für die Bereiche Marketing und Produktentwicklung zuständig ist. „Dann können wir ihn biegen und beliebig verformen. Sobald wir den Werkstoff wieder über diese Temperatur erhitzen, kehrt er in seine ursprüngliche Form zurück. Die magische Eigenschaft dieses Materials liegt quasi darin, dass es sich an seine frühere Form erinnern kann.“
Dehnbarer als andere Materialien
FGL sind zudem dehnbarer als andere vergleichbare Werkstoffe. Im entlasteten Zustand kehren sie wieder in ihre Ursprungsform zurück und weisen dabei keine Ermüdungserscheinungen oder strukturellen Schäden auf.
Dank dieser Eigenschaft, die als pseudoelastisches Verhalten bzw. Superelastizität bezeichnet wird, „hält Multiple Memory Material erheblich stärkere Belastungen aus als andere metallische Werkstoffe“, so Kuntz weiter. „Durch äußere Krafteinwirkung können wir eine reversible Verformung verursachen, die den Draht um bis zu zehn Prozent seiner Gesamtlänge dehnt.“
Die Präzisionstechniker und Produktdesigner von Smarter Alloys arbeiten mit Lasern, um dem urheberrechtlich geschützten Bogendraht aus Multiple Memory Material unterschiedliche Drahtstärken einzuprogrammieren.
Bei Zahnspangen aus herkömmlichen Werkstoffen müsse die Bogenstärke schrittweise erhöht werden, wie Kuntz weiter erläutert. „Man fängt an mit einem geringen Durchmesser, um zunächst die kleinsten Zähne zu bewegen. Würde hier ein dicker Draht eingesetzt, wäre die hohe Krafteinwirkung für den Patienten schmerzhaft und könnte eine Menge Probleme mit dem Zahn selbst verursachen. Im schlimmsten Fall stirbt die Wurzel und muss gezogen werden.“
Bogendrähte aus Multiple Memory Material hingegen lassen sich so programmieren, dass sie im Backenbereich eine höhere Bogenstärke haben als vorne, wo die Zähne kleiner sind und enger zusammenstehen.
Bogenstärke passend für jeden Zahn
„Statt wie im herkömmlichen Behandlungsverfahren die Bogenstärke sukzessive zu erhöhen, um verschiedene Zähne zu bewegen, programmieren wir den Draht mit einem Laser so, dass er von Anfang an überall die richtige Stärke für den jeweils betroffenen Zahn hat“, so Kuntz. „So können mit einem einzigen Draht alle Zähne gleichzeitig mit der jeweils erforderlichen Kraft bewegt werden, wodurch sich die Behandlungsdauer dramatisch verkürzen lässt.“
Im Zuge einer typischen kieferorthopädischen Behandlung kämen über einen Zeitraum von anderthalb Jahren vier Bogendrähte in unterschiedlichen Stärken zum Einsatz; mit dem SmartArch seien nur zwei Drähte bei entsprechend kürzerer Behandlungsdauer erforderlich.
Derzeit erforscht das Team von Smarter Alloys weitere Anwendungsgebiete für FGL in anderen medizinischen Fachgebieten. Eine vielversprechende Einsatzmöglichkeit sieht Kuntz zum Beispiel bei der Entwicklung von Herzkathetern.
„Der praktische Nutzen liegt hier darin, dass wir den Stent auf einen kleinen Durchmesser komprimieren und dann mithilfe eines Katheters in das betroffene Gefäß einbringen können“, erläutert er weiter. „Durch die Körpertemperatur des Patienten wird er dann erwärmt, erinnert sich an seine Form und dehnt sich dementsprechend. Zudem hält er starken Belastungen stand und passt sich bei jedem Herzschlag an die Bewegung der Arterie an.“
Darüber hinaus eignen sich FGL auch zur Verstärkung von Gelenken und Knochen, da ihre superelastischen Eigenschaften mit denen des menschlichen Körpers vergleichbar sind, wie Kuntz erläutert. „Sehnen, Knochen und Haut weisen ein ganz ähnliches Spannungs-Dehnungs-Verhalten auf. Der Werkstoff selbst ist biokompatibel, kann also im Körper implantiert werden und ahmt quasi die Eigenschaften und die mechanische Struktur des menschlichen Körpers nach.“
Weitere potenzielle Anwendungszwecke bieten sich im Automobilbau sowie in der Luft- und Raumfahrtindustrie. Im Rahmen der Forschungsresidenz am Autodesk Technology Centre in Toronto entsteht derzeit das erste Verbraucherprodukt von Smarter Alloys: ein haptisches Gerät zum Navigieren in VR- und Augmented-Reality-Umgebungen. In Schaltern, Verriegelungen oder auch Motoren für die unterschiedlichsten Geräte könnten herkömmliche Werkstoffe ebenfalls durch Formgedächtnislegierungen ersetzt werden.
Selbst in der Sensorik hofft Kuntz neue Marktchancen für FGL erschließen zu können. „Mit einem Motorsystem ausgestattete Gerätschaften benötigen in der Regel einen Sensor zur Steuerung des Motors. Wir können die Sensoren direkt in den Werkstoff einbetten, sodass Motor, Aktor und Sensor alle in einem einzigen Draht untergebracht sind. Damit hat man eine sehr leistungsstarke Lösung für Regelkreise.“