Die Zukunft der Stadt: Lehren aus der Geschichte
Der Legende zufolge soll der Violinvirtuose Mischa Elman nach einer enttäuschend verlaufenden Probe in der Carnegie Hall zwei Touristen begegnet sein, die den Eingang zu dem berühmten Konzertsaal suchten und ihn als offensichtlich Ortskundigen fragten: „Wie kommt man zur Carnegie Hall?“
Elman erwiderte schlagfertig: „Man muss viel üben.“
Dieser Witz mag einen langen Bart haben, aber er sagt einiges über die magische Anziehungskraft vieler Großstädte aus. Warum zieht es manche Menschen nach Los Angeles? Weil sie Hollywood-Stars werden wollen. Andere suchen ihr Glück an der Wall Street, in der Berliner Gründerszene oder im Pariser Künstler- und Intellektuellenmilieu. Stadtluft macht frei, Träume und Ambitionen zu verwirklichen, das war schon im Mittelalter so.
Schätzungen gehen davon aus, dass 2050 zwei Drittel der Weltbevölkerung in Städten leben werden, nicht zuletzt aus eben diesem Grund: Verglichen mit anderen menschlichen Siedlungsformen bieten Großstädte ihren Einwohnern bessere Chancen zur effizienten Nutzung zeitlicher, materieller und finanzieller Ressourcen, um ihre Hoffnungen und Träume zu verwirklichen.
Je mehr die Verstädterung voranschreitet, desto intensiver werden die Debatten um die Zukunft unserer Städte. Dabei geht es um Planung und Infrastruktur, aber auch um die Frage nach einer Verbesserung der Lebensqualität für Zuzügler. Theorien zur Stadtentwicklung aus dem letzten Jahrhundert – einer Zeit signifikanter städtebaulicher Neuerungen und Experimente – werden aufgegriffen, erweitert und häufig auch in Frage gestellt.
Die Stadt unterscheidet sich insofern von anderen menschlichen Erfindungen, als ihre neuen Ausprägungen die alten nicht zwangsläufig obsolet machen. Im Nahen Osten leben viele Menschen in Stadtteilen, die vor über zweitausend Jahren gebaut wurden. Die Altstädte zahlreicher europäischer Metropolen stammen immerhin aus dem Mittelalter, und selbst in manchen US-amerikanischen Städten – Boston etwa oder Philadelphia – gibt es Viertel, die mehrere hundert Jahre alt sind.
Die Geschichte der Städte wiederholt sich
Wer in einem Stadtteil lebt, dessen soziale Strukturen und Standortvorteile sich über Jahrhunderte hinweg entwickelt und bewährt haben, nimmt dafür gerne die Abstriche am Wohnkomfort in Kauf, die das Leben in einem mehrere hundert Jahre alten Gebäude mit sich bringt. Eben diese Vorteile gilt es zu prüfen und zu nutzen, wenn die Großstadt als zukunftsfähiges Modell florieren soll.
Die Stadtplaner des 20. Jahrhunderts waren fest davon überzeugt, dass die Moderne mit der Erfindung des Telefons, des Automobils und ähnlicher technologischer Innovationen zugleich radikal neue Lebensbedingungen geschaffen hatte. Entsprechend verwarfen sie bewährte Normen und Praktiken. Statt der früher üblichen Mischbebauung aus Wohnhäusern, Geschäften, Schulen, Ämtern, Krankenhäusern und Unternehmen verschiedener Art entstanden nun separate Wohn- und Gewerbegebiete, was wiederum zu Staus und anderen Verkehrsbehinderungen führte.
Der Stand der Technik verändert sich schneller als die menschliche Natur. Im 21. Jahrhundert wird die Urbanisierung immer noch von den gleichen Faktoren angetrieben, die die Menschen in der Renaissance nach Florenz und Venedig, im calvinistischen Holland nach Rotterdam und Delft oder während der Industriellen Revolution nach London und Manchester zogen: Arbeitsplätze, Chancen, die Gesellschaft Gleichgesinnter, Abenteuerlust sowie ein Gefühl der Freiheit und Unabhängigkeit. In einem Zeitalter, das ständig nach dem Neuen und Neuartigen zu verlangen scheint, dient ausgerechnet die Stadt als Erinnerung daran, dass der Mensch seinen Sehnsüchten im Wandel der Jahrhunderte treu geblieben ist.
So wie das 20. Jahrhundert das Zeitalter des Automobils war, wird das 21. Jahrhundert das Zeitalter der Informationstechnologie sein. Wenn bereits das Auto zur Auflösung althergebrachter Strukturen beigetragen und eine stärkere geografische Mobilität ermöglicht hat, befreit die Computertechnik ihre Nutzer erst recht von der früheren Ortsgebundenheit. Warum verlegen trotzdem so viele Marktführer – Google, Twitter usw. – ihre Firmengebäude in die Innenstädte? Weil ihre Mitarbeiter weder jeden Tag mehrere Stunden zur Arbeit und zurück pendeln noch in luftdichten Raumschiffen irgendwo in den Randbezirken oder als Einsiedler in der Wildnis leben wollen, wo sie nur virtuell miteinander vernetzt sind.
Mischbebauung spart Zeit und Geld
Sondern sie wollen mitten in der pulsierenden Großstadt leben – in Reichweite ihrer Familien, Freunde und Bekannten und in unmittelbarer Nähe von Einkaufsmöglichkeiten, Freizeiteinrichtungen, Kneipen, Cafés und Restaurants. Selbst im Zeitalter der allgegenwärtigen Social Media wollen sie sich in eine physische Gemeinschaft eingebunden fühlen, und genau dieses Gemeinschaftsgefühl können Städte im Idealfall schaffen. Dazu ist freilich ein entsprechender Wille seitens der Stadtplaner und Architekten erforderlich.
Infrastruktur dient letztlich dazu, die Mitglieder der jeweiligen Gemeinschaft bei der Verwirklichung ihrer Wünsche und Ambitionen zu unterstützen. Heute besinnt man sich wieder auf etwas, was die Stadtgründer der Vergangenheit instinktiv begriffen hatten: Infrastruktur ist kein Selbstzweck, wie die Stadtplaner des 20. Jahrhunderts allzu oft anzunehmen schienen, sondern ein Mittel zum Zweck. Die Menschen wünschen sich ein überschaubares und bequem erreichbares soziales Umfeld. Sie bestehen keineswegs auf uneingeschränkte Mobilität um jeden Preis, und sie wollen ganz bestimmt nicht jeden Morgen und Abend auf einer mehrspurigen Stadtautobahn im Stau stehen.
In einer gut geplanten Stadt kann ein Fahrradweg oder Bürgersteig zur Befriedigung ihrer Alltagsbedürfnisse vollkommen ausreichen. In vielen europäischen und einigen US-amerikanischen Städten beginnt man sich gerade wieder auf diese Erkenntnis zu besinnen. Mobilität wird erst dann zu einem übergeordneten Ziel, wenn die Lebenswelt in weit voneinander entfernte soziale, öffentliche und wirtschaftliche Einrichtungen zerfällt, wie es das im 20. Jahrhundert vorherrschende Stadtentwicklungsmodell vorsah.
Alles in allem sind integrierte Großstädte mit Mischbebauung in den einzelnen Bezirken schlicht und einfach effizienter als die Aufteilung in unterschiedliche Bebauungszonen. Statt stundenlang im Auto zu sitzen, um von einem Ort zum anderen zu gelangen, haben die Menschen mehr Zeit für Hobbies und sportliche Aktivitäten. Statt Energie zu vergeuden, um Stahl und Kunststoff tonnenweise zwischen weit auseinander liegenden Neubausiedlungen hin und her zu transportieren, steht mehr Geld zur Bereitstellung dringend erforderlicher Dienstleistungen zur Verfügung. Statt teure Autobahnen zu bauen, können öffentliche Mittel dafür verwendet werden, die Lebensqualität der Einwohner auf andere Art zu verbessern.
In Zukunft wird diese Art von Umverteilung zunehmend an Bedeutung gewinnen, um angesichts der weltweit fortschreitenden Verstädterung die Lebensqualität für Zuzügler zu verbessern und zugleich die Umweltbelastung zu verringern. Dazu ist eine verantwortungsbewusste Stadtplanung unabdinglich: Die Großstadt der Zukunft muss Vielfalt und Integration fördern. Sie muss sich zu Fuß und mit dem Fahrrad erschließen lassen. Vor allem aber muss sie multimodal und unter Berücksichtigung von den Lektionen geplant werden, die die Menschen über Jahrtausende gelernt haben.
Die Theoretiker des 20. Jahrhunderts gingen davon aus, dass jeder neue technische Fortschritt radikale Konsequenzen für die Planung, Bebauung und Verwaltung von Städten hervorbringen und jede neue Generation ein vollkommen andersartiges Planungskonzept entwickeln würde. Der historische Rückblick zeigt jedoch, dass genau das Gegenteil der Fall ist. Bewährte und erprobte Muster und Ansätze erweisen eine erstaunliche Kapazität, neue Technologien zu absorbieren und doch weiterhin die menschlichen Grundbedürfnisse zu befriedigen, die seit jeher die Anziehungskraft der Großstadt begründen: Sie bietet nicht nur Wohnungen, Arbeitsplätze und Freizeitmöglichkeiten, sondern gibt den Menschen zugleich vielfältige Möglichkeiten, ihre individuellen und kollektiven Träume zu verwirklichen.