Leben auf dem Mars? Mit virtueller Realität sind Architekten beim Design für den roten Planeten echte Vorreiter
Wenn ein Architekturbüro Glück hat, können seine Mitarbeiter bei einem Projekt zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen – beispielsweise Denkmalschutz und Energieeffizienz gleichzeitig. Ein Team des im amerikanischen Philadelphia ansässigen Architekturbüros KieranTimberlake verfolgt mit seinem gemeinnützigen Projekt, der Mars City Facility Ops Challenge, sogar vier ambitionierte Ziele.
Die Architektinnen Fátima Olivieri und Efrie Friedlander sowie der Architekt Rolando Lopez bildeten mit dem US-amerikanischen Institut für Bauwissenschaften (National Institute of Building Sciences, kurz NIBS), der NASA und der gemeinnützigen Forschungseinrichtung Total Learning Research Institute (TLRI) eine Arbeitsgruppe, um gemeinsam eine virtuelle und funktionsfähige Stadt auf dem Mars zu entwerfen – die zahlreiche Vorteile bringen könnte.
Vorrangiges Ziel für Kerry Joels (Präsident des TLRI und früher Physiker bei der NASA) und KieranTimberlake war es, bei zukünftigen Arbeitskräften die Qualifikationsengpässe in den MINT-Fächern zu schließen – insbesondere in den Bereichen Architektur und Gebäudemanagement. Ein zweites Ziel bestand darin, das Projekt als einen Testlauf für Virtuelle Realität im Architekturbüro KieranTimberlake zu nutzen. Drittens hoffen Joels und die Architekten, Fördermittel für den Bau einer Mars City (ähnlich dem Space Camp in Alabama) auf der Erde zu erhalten. Und viertens könnte ihr großes Engagement in Forschung und Design eines Tages zur Ausarbeitung von Plänen für eine echte Mars-Station beitragen.
Mit durchschnittlich 225 Millionen km Entfernung zur Erde ist der Mars zwar weit weg, aber immer noch nah genug, dass die Chance für eine Besiedlung schon seit Jahrzehnten diskutiert wird. Mit seinem rauen Klima und weiteren ungünstigen Parametern ist er für Menschen derzeit unbewohnbar, aber das felsige Gelände ist vertraut, und durch das Vorkommen von Wasser bleibt eine Besiedlung weiterhin im Bereich des Möglichen. Der Unternehmer Elon Musk ist einer von vielen prominenten Vordenkern, der die Besiedlung des Mars innerhalb des nächsten Jahrhunderts prophezeit.
Das Projekt Mars City startete in den 2000er Jahren mit Fördermitteln der NASA und der Gründung eines MINT-Lernprogramms rund um den Mars. Mithilfe dieser Förderung rief das TLRI ein Projekt namens Mars Facility Ops Challenge ins Leben. Im Rahmen der Dashboard-basierten Lernplattform arbeiten Schülerteams gemeinsam an der Lösung mechanischer Probleme, die der Bau eines Gebäudes auf dem Mars mit sich bringen würde.
Nachdem das Architekturbüro KieranTimberlake ins Team aufgenommen wurde, erweiterten sie die Plattform (unter Zuhilfenahme von Autodesk Revit) um ein realistisches BIM-Modell, bei dem Licht und Natur, mechanische Systeme, Lebensräume uvm. berücksichtigt werden. Anschließend ergänzten sie das Modell um weitere Aspekte, die das Bauen in den unwirtlichen Lebensbedingungen eines fremden Planeten betreffen.
„Auf einem Mars-Stützpunkt muss man selbst für Energie und Lebensmittel sorgen, dort gibt es ja rein gar nichts“, so Fátima Olivieri. „Wir mussten also Bereiche dafür und für die Lebensweise der Menschen auf der Station ganz allgemein integrieren. Beispielsweise muss man die Station verlassen können, um einmal oder zweimal täglich die Photovoltaikpaneele (Solarpaneele) abzustauben. Könnte man das nicht, hätte man keine Energie.“
Um einen autarken Lebensraum für 100 Menschen zu schaffen, arbeiteten die Architekten mit Kerry Joels gemeinsam an der Ermittlung der Materialien und Technologien, die sich am besten für einen Einsatz auf dem Mars eignen würden – bis hin zur blasenförmigen Gestalt der Gebäude. „Kerry sagte uns sehr deutlich, wenn etwas nicht ganz stimmig war“, erzählt Friedlander. „In etwa so: ‚Genau genommen ist die Form falsch, denn weil der Luftdruck auf besondere Weise aufrechterhalten werden muss, darf es keine Ecken geben‘. Dann fingen wir wieder von vorn an und gestalteten das Modell ohne Ecken neu.“
Zudem versuchten die Architekten, die Station über die normalen Erwartungen an das Leben im Weltall hinaus zu verbessern – z. B. in Bezug auf die beengten Verhältnisse, wie man sie von der Internationalen Raumstation kennt, mit ihren Gängen voller Schalter und Röhren, die kaum mit der Außenwelt verbunden und eher für die Arbeit als für das Leben und Spielen ausgelegt sind. Im Gegensatz dazu liegt der Schwerpunkt der Mars City auf einem ausgeglichenen Verhältnis von gemeinsam und privat genutzten Räumen. Zudem finden architektonische Erkenntnisse über die Art und Weise Anwendung, wie wir Menschen auf der Erde miteinander umgehen wollen.
„Das ursprüngliche Design [aus der Zeit vor der NASA-Förderung] forderte geschlossene Räume ohne viele räumliche Begrenzungen, und wir wollten einen Ort daraus machen, an dem die Menschen nicht von der Tatsache deprimiert wären, auf unbegrenzte Zeit in einer Art Blase zu leben“, erläutert Rolando Lopez. „Wir variierten den Gang also durch Öffnungen an bestimmten Stellen, wo man sich orientieren und mit der Landschaft in Verbindung treten kann.“
Entscheidend für das Projekt war die Zusammenarbeit mit dem Bau- und Immobilienunternehmen Gilbane Building Company sowie mit Ingenieuren für Gebäudetechnik von Travis Alderson Associates, ebenso wie die Unterstützung durch das NIBS und den Internationalen Fachverband für Gebäudemanagement (International Facilities Management Association). Mit deren Hilfe konnte KieranTimberlake Daten zu Systemanforderungen auf der Erde aufnehmen und diese für die virtuelle Welt umsetzen.
Aktuell ist Mars City ein Lernspiel, das bereits von über 1.200 amerikanischen Schülern der Mittel- und Oberstufe in der Demo-Version gespielt wurde (zuletzt auf der diesjährigen NIBS-Konferenz in Washington, D.C.) Dabei können Kinder und Jugendliche via VR-Brille über das Gelände spazieren, auf verschiedene Wartungsszenarien reagieren und Lösungswege testen.
Eine faszinierende Gelegenheit für das Designteam und die Schüler, denn so können alle herausfinden, wie Systeme auf dem Mars ausfallen könnten. „Wenn auf der Erde eine Tür kaputt geht, ist das meist keine große Sache“, erzählt Fátima Olivieri. „Aber wenn die Tür einer Druckkabine auf dem Mars defekt ist, kann das für die betroffenen Menschen tödlich enden.“
Für eine stimmige Bilderwelt des VR-Systems arbeitete das Team mit Autodesk Live, 3ds Max und Stingray, wodurch verschiedene Aspekte der virtuellen Welt verfeinert werden konnten, beispielsweise die Farbe des Terrains und Details an den Raumanzügen. Für die Bestimmung der geeigneten Materialien war ein gewisses Know-how über Fortschritte in der Werkstoffkunde erforderlich, zudem mussten Prognosen dazu abgegeben werden, wie sich die Technologie in den nächsten Jahrzehnten entwickeln würde.
„Wenn die Mars City jetzt gebaut werden würde, könnte man sie nicht mit transparenten Materialien errichten, weil man nicht genug Schichten einsetzen könnte, um die Strahlung abzuhalten“, erläutert Efrie Friedlander. „Sind wir soweit, dass wir in ca. 20 Jahren – wenn die hypothetische Station gebaut werden würde – über ein geeignetes transparentes Material verfügen würden? Wir haben solche Dinge berücksichtigt, um etwas halbwegs Realistisches zu verwirklichen, aber wir haben auch versucht, Prognosen für die in 20 Jahren verfügbaren Materialien und Technologien abzugeben.“
Bis dahin besteht das große Ziel von Mars City darin, das Interesse von Kindern und Jugendlichen am Gebäudemanagement zu wecken, da dieser Sektor an Bedeutung gewinnt. „Gebäude werden insgesamt immer komplexer, also wird auch das Gebäudemanagement immer schwieriger“, so Olivieri. „Es muss Menschen geben, die sich damit beschäftigen wollen und sich die anspruchsvollen Technologiekenntnisse aneignen, die für heutige und zukünftige Gebäude benötigt werden.“
Die nächste Etappe für Mars City wird hoffentlich ein reales Lernzentrum hier auf der Erde, das die virtuelle Lernplattform ergänzt. Für die absehbare Zukunft muss das erst einmal ausreichen, bis die Menschen tatsächlich anfangen können, auf dem Mars zu bauen und zu leben. Und vielleicht nicht nur dort.