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Die 3D-Drucktechnologie von Continuous Composites wirkt wie Hexerei, ist aber keine

Stellen Sie sich vor, man könnte im 3D-Druckverfahren und in nur einem einzigen Arbeitsschritt ein komplettes Auto, eine Gebäudewand, eine Flugzeugtragfläche oder eine andere, ähnlich komplexe Konstruktion fertigen —und zwar nicht nur das Metall, den Beton oder die Schale aus Kohlefaser, sondern gleichzeitig auch funktionstüchtige Strom- und Kraftstoffleitungen, Sanitärtechnik, Gummidichtungen und bewegliche Komponenten.

Klingt das nicht märchenhaft? Im Unternehmen Continuous Composites mit Sitz im amerikanischen Bundesstaat Idaho ist man der Ansicht, dass sich auf diesem Gebiet gerade eine Revolution anbahnt und die Wunschvorstellung demnächst Realität werden könnte.

Von Kohlefaser, Kevlar und Fiberglas bis Glasfaseroptik und Endlos-Kupferdraht hat das Unternehmen bereits die verschiedensten Werkstoffe verarbeitet. Seine Geheimzutat aber ist die Fähigkeit, mit mehreren Materialien gleichzeitig zu drucken, sodass das Bauteil einsatzfertig aus dem 3D-Drucker kommt. Continuous Composites bezeichnet dieses Verfahren als kontinuierliche und skalierte Fertigung – sie geht einen Schritt weiter als die herkömmliche additive Fertigung.

continuous composites Ken Tyler
Ken Tyler. Mit freundlicher Genehmigung von Continuous Composites.

Wie Sie sich vorstellen können (und wie das Unternehmen auf seiner Internetpräsenz nahelegt), ergeben sich für diese Technologie beinahe unendlich viele Einsatzmöglichkeiten. Jeff Beebout, CEO von Continuous Composites, und sein Chief Technology Officer Ken Tyler sind bereit, sich jeder einzelnen davon zu stellen: „Prototyping und Proof of Concept haben wir hinter uns, jetzt geht es um die Marktreife.“

Ken Tyler lernte den 3D-Druck in den Anfangsjahren der Technologie kennen – einen Abschluss in Informatik und Erfahrungen mit CAD-Software konnte er da schon vorweisen. Als ihn sein ganz persönliches Aha-Erlebnis ereilte, war er in der Schiffsbranche tätig. „Ich beschäftigte mich mit der sogenannten Maker-Bewegung und den Möglichkeiten der Kunststoffschmelze, und mir wurde klar: ‚Das muss doch noch besser gehen‘“, erzählt er.

Ähnlich wie einst Sir Isaac Newton von seinem legendären Apfel buchstäblich vor den Kopf gestoßen wurde, hatte Tyler eine unangenehme Zufallsbegegnung mit einem Fiberglasteil, das er am Abend zuvor angefertigt hatte. Ein überstehender Faserstrang aus Epoxidharz bohrte sich ihm in die Haut. „Es tat verdammt weh“, erinnert er sich. „Ich dachte: ‚OK, was soll‘s, warum benutzen wir nicht dieses Zeug zum Drucken?‘“

Daraufhin erforschte untersuchte Ken Tyler ultraviolettes (UV-) Licht zum Aushärten von Epoxidharzen (ein gängiges Verfahren in der Massenproduktion von Elektronikartikeln) und fragte sich, warum man es nicht auch für Epoxidharze in der 3D-Drucktechnologie anwenden könnte. Während er also in der Schiffsbranche drei Jobs gleichzeitig machte, verbrachte er die Nächte damit, eine entsprechende Patentanmeldung zu verfassen. Und so entstand das Fundament für Continuous Composites.

continuous composites UV light
Das blaue Leuchten stammt vom UV-Licht. Mit freundlicher Genehmigung von Continuous Composites.

Ein wesentliches Element dieses Fundaments: die duromere Struktur des Epoxidharzes, mit dem das Unternehmen arbeitet. „Es ist viel leistungsfähiger“, erläutert der Chief Technology Officer. „Die molekulare Form von Kunststoff unterscheidet sich beim Erhitzen und Abkühlen im Grunde genommen nicht voneinander, aber wenn ein Epoxidharz aushärtet, kommt es zu einer chemischen Reaktion und einer neuen molekularen Form. Es verbindet sich besser als Kunststoff mit anderen Werkstoffen.“

Mit UV-Licht lassen sich Epoxidharze sofort aushärten. Auf diese Weise entsteht viel schneller eine feste Molekülbindung zwischen Werkstoff und Grundmatrix als bei den meisten 3D-Extrusionsverfahren. Aufgrund dieser Eigenschaft kann Continuous Composites individuelle Formen wie z. B. Bögen im freien Raum drucken.

All diese Elemente formen die Grundlage für die Behauptung des Unternehmens, sein Verfahren sei zehn Mal schneller als das seiner nächstbesten Wettbewerber. „Derzeit drucken wir knapp 230 cm pro Minute, aber wir sollten bald in der Lage sein, bis zu 3.050 cm pro Minute zu drucken“, meint Ken Tyler. Das macht natürlich keinen spürbaren Unterschied, wenn man kleine Bürohelfer aus Kunststoff fertigt. Aber weitet man das Konzept auf ein Containerschiff, ein mehrgeschossiges Bürogebäude einschließlich unzähliger Sanitär- und Elektroinstallationen oder eine Pipeline mit integrierter Sensortechnik, Steuerungselementen und leitfähigen Materialien für Anwendungen wie das Hochgeschwindigkeitstransportsystem Hyperloop aus, leuchtet schnell ein, was daran so reizvoll ist.