Virtualitätscheck: So wirkt Cloud-Technologie gleich dreifach dem Fachkräftemangel am Bau entgegen
Der Albtraum eines jeden Stadtbewohners: das ohrenbetäubende Kreischen von Sägen und Schlagen von Hämmern auf der Baustelle nebenan.
Für eine Branche, die endlich wieder zum Leben erwacht, gibt es allerdings keinen süßeren Klang. In den USA ist die Baunachfrage in großen Städten wie Chicago und Denver so hoch wie schon lange nicht mehr. So gut wie nichts erinnert mehr an die Finanzkrise von 2008, als es der Wirtschaft an Aufträgen fehlte und viele Arbeitskräfte gezwungen waren, endgültig aus der Branche auszusteigen. Auch in Deutschland erwartet man dieses Jahr erneut ein Umsatzplus am Bau – mit dem höchsten Bedarf in Großstädten wie Berlin, München und Hamburg.
Trotzdem kann die Baubranche noch nicht ganz aufatmen, da ein weiteres Problem ihre Zukunft gefährdet: der Mangel an Fachkräften. Gleichermaßen beunruhigend ist die Tatsache, dass die gegenwärtig tätigen Arbeitskräfte zunehmend älter werden. Sowohl in den USA als auch in Deutschland werden nur wenige derjenigen, die heute in Rente gehen, durch junge Nachwuchskräfte ersetzt.
„Mit dem fortschreitenden Ausscheiden der Belegschaft der 55- bis 60-Jährigen eröffnen sich uns enorme Chancen“, so Anthony Colonna, Senior Vice President für innovative Baulösungen bei Skanska in Blue Bell, Pennsylvania. „Wir müssen talentierten Nachwuchs mit vielseitigen und teilweise weniger traditionellen Werdegängen anwerben.“
Der Baubranche ist heute mehr denn je bewusst, dass sie kreativ sein muss, um mit neuen Techniken und Werkzeugen qualifizierte Nachwuchskräfte anzuziehen und auf der Baustelle besser ausrüsten zu können. Was das angeht, haben zwei Baufirmen die Nase vorn, und zwar mit einem ganz bestimmten Werkzeug: der Cloud. Diesen beiden Firmen zufolge ist die Cloud-Technologie in dreifacher Hinsicht der Schlüssel dazu, den Fachkräftemangel am Bau zu entschärfen.
1. Für Millennials ist die Cloud attraktiv, weil sie Teil ihrer digitalen Sprache ist. „Wir haben kürzlich rund 65 unserer Praktikanten aus dem gesamten Unternehmen zu einer zweitägigen Veranstaltung eingeladen und sie gefragt, warum sie sich gerade für Mortenson entschieden haben“, berichtet Ricardo Khan, Senior Director für Projektlösungen bei der in Minneapolis beheimateten Baufirma Mortenson. „Einer der am häufigsten genannten Gründe war unser Einsatz von mobilen Technologien. Offensichtlich war damit die Verwendung von Tablets und Smartphones gemeint. Dabei handelt es sich allerdings nur um Hardware – im Zentrum steht jedoch die Cloud, ohne die all diese Geräte ihre Funktion nicht erfüllen könnten.“
Die Begeisterung für mobile Hardware ist nicht weiter überraschend, sind Millennials doch in einer Zeit aufgewachsen, in der Technologie bereits allgegenwärtig war – so sehr, dass ihre ständige Verfügbarkeit mittlerweile sogar erwartet wird. Im Gegensatz zu früheren Generationen sind Millennials bei Einstieg in die Berufstätigkeit deshalb schon bestens mit diesen digitalen Werkzeugen vertraut – ganz zu schweigen von Cloud-Anwendungen wie Dropbox und Google Docs, die sie aus ihrer Schulzeit kennen.
„Meine studierende Tochter entwirft bereits seit Jahren Gebäude und virtuelle Welten in Spielen wie ‚Die Sims‘ und sie arbeitet mühelos in 3D-Umgebungen“, erklärt Colonna. „Die kommende Generation hat sich nicht nur die Technologie längst zu eigen gemacht, sie denkt und visualisiert auch in 3D. So hat das Skanska-Innovationsförderungsprogramm in den vergangenen zwei Jahren Pilotprojekte unterstützt, die Augmented-Reality-Plattformen und 3D-Spielkonsolen, welche stark auf Cloud-Technologie basieren, in unsere gewohnten Arbeitsprozesse integrieren.“
Zur Förderung von Innovation am Bau in Deutschland wurde neulich im Rahmen des zweiten Zukunftsforums zur Digitalisierung des Bauens im Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur ein „Masterplan 4.0“ vorgelegt – mit Maßnahmen wie dem Einführen einer BIM-Cloud, der Einrichtung eines nationalen BIM-Kompetenzzentrums und der Gründung eines „BIM-Exzellenzclusters“ für den Wissenstransfer zwischen Hochschulen und Wirtschaft.
Um die Aufmerksamkeit der Millennials zu fesseln, muss die Baubranche zunächst die Sprache dieser neuen Generation junger Arbeitskräfte verstehen. Immer mehr Studien belegen, dass immer weniger Nachwuchskräfte aus dieser Generation in die Baubranche einsteigen – sei es in Form von traditionellen Ausbildungsprogrammen oder auf andere Weise. Cloud-basierte Technologien und progressive Arbeitsprozesse könnten die Branche wieder um einiges attraktiver machen.
2. Die Cloud ermöglicht Arbeitskräften, am Bildschirm zu üben, bevor in der Realität gebaut wird. „Betrachtet man den Produktentwicklungsprozess in der Fertigungsindustrie, gibt es in der Regel eine Reihe von Prototypen für Design und Produktion – das heißt, die Konstruktion des Endprodukts wird sorgfältig ausgetestet, bevor die endgültige Version auf den Markt geht“, erklärt Colonna.
Im Bauwesen gelten seiner Meinung nach jedoch völlig andere Regeln. Jedes Projekt erfordere eine eigene Planung, was Baufirmen im Grunde zwinge, für jede neue Baustelle einen Prototypen zu bauen.
Deshalb ist die Zusammenarbeit und die Modellierung in 3D für die Bauindustrie ein wahrer Segen: Dank Cloud-basierter Anwendungen und Services können Mitarbeiter die Gebäudekonstruktion jetzt simulieren – ein großer Fortschritt in einer Branche, die normalerweise wenig Spielraum für Fehler zulässt.
„Auch wenn wir nicht ganz dem Modell der Fertigung folgen, zeigt uns die Erfahrung, dass die aktive Zusammenarbeit mit unseren Kunden und Planungspartnern uns hilft, Probleme virtuell zu lösen, bevor sie auf der Baustelle auftreten“, erläutert Colonna. „Ohne die Cloud könnten wir nie ein hohes Maß an Zusammenarbeit erreichen – Anwendungen dieser Art müssen in der Cloud laufen, damit eine unternehmensübergreifende Zusammenarbeit möglich ist und wir die benötigten Kapazitäten erreichen.“
3. Die Cloud kann Anweisungen in Echtzeit an Arbeitskräfte auf der Baustelle schicken. Es wäre falsch, zu behaupten, dass sich die Zukunft des Bauwesens ausschließlich an einem Computer zutragen wird. Colonna betont, dass Technologie nur ein Faktor für den Erfolg von Skanska und der Branche als Ganzes sei. Letzten Endes löse man einen Großteil der Probleme vor Ort – dort, wo Innovation stattfinden muss. Laut Michal Wojtak, Senior Integrated Construction Manager bei Mortenson, stellt der Personalaufwand bei einem Bauprojekt einen wesentlichen Kostenfaktor dar, sodass es eine Verschwendung wertvoller Ressourcen wäre, Arbeitskräfte allein für Prozesse einzusetzen, die sich leicht automatisieren lassen – etwa für Remote File Management (RFM).
Die wahre Stärke der Cloud ist jedoch der explosionsartigen Entwicklung von Touchscreen-Benutzeroberflächen und mobilen Geräten in den letzten Jahren zu verdanken und kommt direkt auf der Baustelle zum Tragen. Wie das funktioniert, zeigen die Arbeitsanleitungen von Mortenson: Die Videos mit Echtzeit-Anweisungen zur Montage von Systemen wie Solarmodulen erweisen sich als überaus praktisches, digitales Klemmbrett für Arbeitskräfte vor Ort.
„Durch diesen neuen Ansatz konnten wir die Produktivität von Nachwuchskräften bei unseren Projekten deutlich steigern“, berichtet Khan. „Und mithilfe der Rückmeldungen unserer Teams vor Ort können wir unsere Arbeitsanleitungen kontinuierlich verbessern, um den sich ändernden Anforderungen des Systems gerecht zu werden.“
Mortenson setzte im Jahr 2006 zum ersten Mal Cloud-Anwendungen für den internen Wissenstransfer und zur Einbindung seiner Partner aus den Bereichen Planung und Bauausführung ein. Seitdem hat das Unternehmen eine enorme Entwicklung zurückgelegt und es dank Tools zur Verbesserung der Projektkoordination – darunter Navisworks, BIM 360 Field und BIM 360 Glue – an die Spitze der Branche geschafft.
„Am Anfang wurde oft gefragt, was ‚Cloud‘ eigentlich bedeutet“, schildert Wojtak. „Viele schienen das Konzept der Cloud nicht wirklich zu verstehen, deshalb haben wir unser Hauptaugenmerk zunächst darauf gerichtet, Mitarbeiter zu schulen und ihnen zu zeigen, wie man die Lösungen richtig einsetzt.“
Die Investition hat sich gelohnt: Die Produktivität der bisherigen Belegschaft wurde erhöht und das Unternehmen für Nachwuchskräfte sicherlich attraktiver. Aber gerade wenn Baufirmen zu hoffen beginnen, mit Cloud-Anwendungen jüngere Arbeitskräfte anzuziehen, ist es wiederum nur eine Frage der Zeit, bis wieder eine neue Generation an Tools in den Fokus rückt.
„Wir werden mit dem Einsatz von Augmented Reality und tragbaren Technologien schon bald eine weitere Transformation erleben“, erklärt Khan, der glaubt, dass uns noch sehr viel mehr erwartet. „Mithilfe von Cloud-Technologie wird das ‚Internet der Dinge‘ im Bauwesen sowohl Projektressourcen als auch Arbeitskräfte verwalten und Wissen weitergeben – alles direkt am Arbeitsplatz.“
Und dieser Arbeitsplatz, ob auf der Baustelle oder im Büro, wird mit aller Wahrscheinlichkeit einer ganz neuen Generation gehören.