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Bald können Brücken mehr als nur Hindernisse zu überwinden

Überall auf der Welt gibt es Brücken mit Kultstatus: die Golden Gate Bridge in San Francisco, die Brooklyn Bridge in New York City, die Tower Bridge in London, das Viadukt von Millau und der Pont du Gard in Südfrankreich, die Yongji-Brücke im chinesischen Chengyang und natürlich die Rialtobrücke in Venedig. Aber kennen Sie auch Brücken, auf denen es ein bespielbares Amphitheater, ein Café, einen Park mit Picknickplätzen, Wasserfälle oder interaktive Kunstinstallationen gibt?

Das ist keineswegs so utopisch, wie es klingen mag. Der von OMA + OLIN eingereichte Siegerentwurf für die 11th Street Park Bridge in Washington, D. C., deren Eröffnung für 2019 vorgesehen ist, gibt uns bereits jetzt einen Ausblick auf die Brückenkonstruktionen der Zukunft. Manche unserer heutigen Brücken sind außerordentlich beeindruckend und einige sogar weltberühmt, aber in Zukunft werden Brücken weit mehr sein als nur eindrucksvolle Bauwerke und Mittel zur Überwindung von Verkehrshindernissen.

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Die 11th Street Park Bridge in Washington D.C. führt über den Anacostia River. Mit freundlicher Genehmigung von OMA+OLIN.

So zum Beispiel die 11th Street Park Bridge in Washington, D. C., die das Stadtviertel Capitol Hill und die Viertel am Ostufer des Flusses Anacostia verbinden wird. Für den Autoverkehr ist sie übrigens gesperrt. Mit diesem Bauvorhaben unter der Federführung von Projektleiter Scott Kratz soll eine Brücke entstehen, die nicht nur dem Fußgängerverkehr dient, sondern die Menschen auch inspiriert und zueinander bringt.

„Entsteht das Projekt im Rahmen eines von der Einwohnerschaft gelenkten und geprüften Prozesses, so kann die Parkbrücke ein sinnvolles Beispiel dafür werden, wie öffentlicher Sektor und Privatwirtschaft mit gemeinsamen Investitionen und in ausgewogener Weise auch gemeinsam einen ausgezeichneten öffentlichen Raum schaffen können“, betont Scott Kratz in einer Erklärung, die er im November 2015 zum Projekt abgab.

Die 11th Street Park Bridge ist zwar nicht die allererste Multifunktionsbrücke der Welt – Elemente der Yongle-Brücke im chinesischen Tianjin bilden die Pfeiler eines enormen Riesenrads –, jedoch bahnt sie den Weg für noch raffiniertere Baupläne, die dazu beitragen, dass aus Gemeinden Gemeinschaften werden.

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Die 11th Street Park Bridge über dem Anacostia River. Mit freundlicher Genehmigung von OMA+OLIN.

Damals und heute

Wenn wir verstehen wollen, wohin sich Brückenkonstruktionen entwickeln werden, müssen wir uns ansehen, welchen Weg die Entwicklung der Brückenbaukunst bereits zurückgelegt hat. Die 1883 fertiggestellte Brooklyn Bridge ist ein perfektes Beispiel für eine Brücke mit Kultstatus, die gleichzeitig zu den größten ingenieurtechnischen Meisterleistungen in einem Jahrhundert der bautechnischen Meisterwerke gehört. Dieser Vorgänger der Golden Gate Bridge war ein Sinnbild dafür, was die Zukunft des Bauwesens der Welt bringen würde.

Als die Brooklyn Bridge errichtet wurde, war sie die längste Hängebrücke der Welt. Ihre Pfeiler waren das zweithöchste Bauwerk in New York City, nur der schlanke Kirchturm der Trinity Church überragte sie noch. Außerdem wurde bei ihrem Bau eine Technologie verwendet, die damals geradezu revolutionär war: zu Kabeln verbundene Stahldrähte. Wie auch andere wegweisende Bauwerke des 19. Jahrhunderts trug die Brooklyn Bridge dazu bei, das Land zu erschließen und das Fundament für den wirtschaftlichen Erfolg zu legen, den die USA im 20. Jahrhundert erzielen konnte. Diese Brücke veränderte die Vorstellung der Menschen davon, was eine Brücke eigentlich ist und wozu sie dienen kann – nämlich im wahrsten Sinne des Wortes Menschen einander näherzubringen.

In letzter Zeit ist viel über Brücken geschrieben worden. Hauptsächlich waren das negative Berichte über die große Anzahl baufälliger, nicht vollumfänglich nutzbarer oder sogar fehlerhaft ausgeführter Brücken. Und das, obwohl Verkehrssysteme zu den entscheidenden Bestandteilen unserer Infrastruktur gehören: Jede Störung eines solchen Systems löst sofort einen Dominoeffekt aus.

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Die 11th Street Park Bridge über dem Anacostia im Winter und Sommer. Mit freundlicher Genehmigung von OMA+OLIN.

In einem Notfall sind funktionierende Verkehrssysteme überlebenswichtig. Das gilt insbesondere für Brücken, denn sie garantieren die Bewegungsfreiheit von Such- und Rettungseinheiten ebenso wie von medizinischen Teams, die Verletzte in Krankenhäuser bringen müssen. Brücken ermöglichen den Zugang zu beschädigten Versorgungsnetzen, z. B. für Strom oder Wasser. Über Brücken können Lebensmittel und Wasser in Regionen gebracht werden, die von der Grundversorgung abgeschnitten sind. Bei einer Naturkatastrophe wie z. B. einem Erdbeben müssen Verkehrssysteme unbedingt funktionstüchtig bleiben oder schnellstmöglich wiederhergestellt werden.

Aus den Erfahrungen der Vergangenheit wissen wir, dass Erdbebenschäden an Straßen, Brücken, Dämmen, Tunnels und Böschungsmauern den Verkehrsfluss empfindlich stören können. Sie behindern die Arbeit der Notfall- und Rettungsteams, die nach einem Erdbeben ausgeschickt werden, und sie beeinflussen die Wirtschaft einer Region sogar längerfristig nachteilig. Früher wurden die baulichen Strukturen dann erdbebensicher nachgerüstet, um die öffentliche Sicherheit zu verbessern. Häufig aber konnten ingenieurtechnische Lösungen aus wirtschaftlichen oder politischen Gründen nicht komplett umgesetzt werden.

Dank der Entwicklung des verhaltensbasierten Erdbebeningenieurwesens (Performance-Based Earthquake Engineering – PBEE) und geeigneter Verfahren für Visualisierung, Simulation und Analyse sind Bauingenieure heute in der Lage, die Auswirkungen von seismischen und anderen Ereignissen auf die Infrastruktur zu verringern.

An dieser Stelle kommt die Gebäudedatenmodellierung (Building Information Modeling – BIM) ins Spiel, mit der sogar noch eindrucksvollere Ingenieursleistungen möglich werden. Eine beschädigte Brücke kann gravierende Auswirkungen auf eine Region haben. Wie bei einer Brücke, die abgerissen wird, weil an einer anderen Stelle eine neue und größere Brücke entsteht, verändern sich damit die Verkehrsströme und eine wichtige Verkehrsanbindung für Kommunen fällt weg. Aber was wäre, wenn Brücken zukünftig nicht mehr einfach nur eine Gerade zwischen zwei Punkten, sondern auch Vorboten neuer Verbindungen, neuer Wirtschaftsräume, neuer Entwicklungsmöglichkeiten wären?

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Brückenpark über dem Anacostia, Eingang Good Hope Road. Mit freundlicher Genehmigung von OMA+OLIN.

BIM für bessere Brücken

BIM öffnet der Weiterentwicklung des Bauwesens neue Türen. Mit diesem Verfahren lassen sich wesentlich komplexere Brücken verwirklichen. Ingenieure und Entwicklung arbeiten mit äußerst detailreichen 3D-Strukturmodellen, was einen größeren Erkenntnisgewinn ermöglicht und damit auch die Planung, Entwicklung, Konstruktion und das Management von Infrastruktursystemen verbessern und beschleunigen kann.

Mit BIM entfallen Nacharbeiten an manuellem Design und Dokumentation, wodurch sich Zeitpläne für die Projektentwicklung um bis zu 40 Prozent und für die Bauphase um bis zu 30 Prozent verringern lassen. Der Einsatz von Entwurfsmodellen für die digitale Fabrikation kann ebenfalls zu einer 20 Prozent kürzeren Fertigungszeit beitragen. Was bedeutet das für uns? Die unzähligen alternden Brücken überall auf der Welt könnten wieder oder weiter genutzt, nachgerüstet und für ihr „zweites Leben“ völlig neu gestaltet werden.

„BIM macht den Unterschied, denn ein Modell wird nicht nur inmitten seiner tatsächlichen Umgebung dargestellt, sondern ermöglicht auch rasche und einfache Anpassungen, die [für den Auftraggeber und die Öffentlichkeit] sichtbar und nachvollziehbar sind. Manchmal vielleicht sogar während einer öffentlichen Konsultation“, erläutert Timothy Armbrecht. Der Baustatiker arbeitet für das Verkehrsministerium des Bundesstaates Illinois und ist Mitglied des Fachausschusses für Software und Technologie (T-19) im Unterausschuss für Brücken und andere Bauwerke des Berufsverbandes American Association of State Highway and Transportation Officials.

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Das Umweltbildungszentrum direkt über dem Anacostia River. Mit freundlicher Genehmigung von MA+OLIN.

Die 11th Street Park Bridge in Washington, die auf den Pfeilern der alten Brücke ruhen wird, und die Tilikum-Brücke im amerikanischen Bundesstaat Oregon, die den Spitznamen „Bridge of the People“ trägt und ebenfalls für Kraftfahrzeuge gesperrt ist, machen deutlich: Brücken werden immer raffinierter.

Die Zukunft wird von einem Prozess getragen, der potentielle Probleme für städtische Infrastruktursysteme durch die Simulation von seismischen Ereignissen erkennen, diagnostizieren und sogar vorhersagen kann. Sobald Konstruktionsparameter bekannt werden, lassen sich auch mittels BIM alternative Brückenkonstruktionen entwickeln, bei denen diese Parameter Berücksichtigung finden und mit denen die kosten- sowie zeitgünstigsten Konstruktionsansätze genutzt werden können.

Die Brooklyn Bridge wurde vor 133 Jahren erbaut, war damals eine echte Innovation und beeindruckt uns noch heute. Die Brücken von morgen aber werden nicht mehr nur Brücken sein, sondern ganz neue Wege für das Bauwesen der Zukunft und die Leistungen der Bauingenieure aufzeigen.

Über den Autor

Terry D. Bennett ist der leitende Industriestratege für zivile Infrastruktur bei Autodesk. Er ist für die Festlegung der Zukunftsvision und Strategie des Unternehmens bezüglich Planungs-, Vermessungs-, Bau- und Tiefbautechnik sowie die Pflege und Aufrechterhaltung seiner Beziehungen zu strategischen Branchenführern und -verbänden zuständig.

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