So könnten Augmented Reality und ein Roboterarm die Baubranche auf den Kopf stellen
Das Baugewerbe boomt: Nach den mageren Jahren der globalen Wirtschaftskrise befindet sich die Branche heute wieder auf Erfolgskurs. Alleine in Deutschland machte sie 2017 mit Investitionen von mehr als 300 Milliarden ganze 9,9 Prozent des BIP aus – mit seither stetig wachsenden Umsatzprognosen.
Doch damit nicht genug. Fortschritte im Bereich der digitalen Technologie und der Robotertechnik, die sich noch vor einem Jahrzehnt niemand erträumt hätte, haben der Branche eine Fülle ungeahnter Möglichkeiten eröffnet. Umso verwunderlicher erscheint es, dass der milliardenschwere private Bausektor, der in Deutschland immerhin beinahe 90 Prozent aller Bauleistungen ausmacht, trotz enormer potenzieller Zeit- und Kostenersparnisse bei der Einführung neuester Technologien hinterherhinkt. Die Ingenieurin und Architektin Lauren Vasey erklärt, worauf dieser Umstand zurückzuführen ist.
„Jeder wünscht sich eine stärker digital ausgerichtete Baubranche, jedoch gibt es in der Praxis zahlreiche Hürden“, meint sie. „Die unterschiedlichen Prozesse und Akteure, die an der Konstruktion eines Gebäudes beteiligt sind, wie zum Beispiel Bauarbeiter, Gestalter oder verschiedene Hersteller, sind zu sehr voneinander abgeschottet. Es gibt weder einen gemeinsamen digitalen Arbeitsplan noch einen Austausch zwischen den Beteiligten.“
Ondrej Kyjanek, wissenschaftlicher Mitarbeiter und Vaseys Kollege am Institut für Computerbasiertes Entwerfen (Institute for Computational Design and Construction; ICD) der Universität Stuttgart, ist der Meinung, dass die Branche auf die perfekte Lösung mit Wow-Effekt warte, die jeden zufriedenstelle.
Genau diesen Wow-Effekt wollen Vasey und Kyjanek nun gemeinsam mit zwei weiteren ICD-Teammitgliedern, Bahar Al Bahar und Benedikt Wannemacher, im Rahmen eines Projekts mit dem Titel „Collaborative Robotic Workbench“ (CRoW) erzielen. Die CRoW basiert auf einem generativen Design-Workflow und nutzt zum Aufheben, Bewegen und Positionieren von Bauteilen den Roboter-Greifarm LBR iiwa der Marke KUKA. Das Projekt wurde bei den KUKA Innovation Awards 2018 vorgestellt: Hier drehte sich in diesem Jahr alles rund um das Thema Robotertechnik mit praktischen Anwendungsmöglichkeiten.
Den besonderen Clou liefert Augmented Reality (AR): Die CRoW verfügt über ein AR-Headset, das Benutzern einen genauen Überblick über Materialien und Prozesse bietet und es ermöglicht, jeden Schritt eines Projekts in einer digitalen Umgebung zu planen. So können verschiedene Alternativen in Betracht gezogen und bereits im Vorfeld aussagekräftige Daten ausgewertet werden. Mit präzisen Bewegungen bringt der Roboterarm jedes Bauteil exakt an – Anwender müssen zur Befestigung nur noch zur Nagelpistole greifen.
Ihre Fähigkeiten konnte die CRoW bereits auf der diesjährigen Hannover Messe unter Beweis stellen, wo sie live zur Anfertigung einer ausgefallenen Holzskulptur zum Einsatz kam. Das Gerät übernimmt Aufgaben, die üblicherweise von Menschenhand erledigt werden – etwa das Vermessen, Transportieren oder Anbringen von Bauteilen – und nutzt Sensoren, um Strukturen fortlaufend zu scannen und mit entsprechenden 3D-Modellen abzugleichen. Dadurch ist die Software sogar in der Lage, über das Headset Empfehlungen für die optimale Position eines Bauteils anzuzeigen. „Als Gestalter hat man die Möglichkeit, die endgültige Form der Struktur mitzubestimmen, man kann jedoch auch bewusst die Produktionssequenz beeinflussen“, so Kyjanek.
Ausgehend von 3D-Modellen, die eine Gesamtübersicht eines Projekts bieten, ist das AR-System in der Lage, schier endlose Datenmengen zu erheben. Sämtliche Achsen der Gelenkverbindungen des Roboters verfügen über Drehmomentsensoren, die sowohl Aufschluss über die auf die einzelnen Gelenke einwirkende Belastung geben als auch Aussagen über die Umsetzbarkeit eines geplanten Schritts ermöglichen. Indem die Bewegungsabfolge, über die der Roboterarm von A nach B gelangen soll, im Vorfeld visualisiert wird, kann der Nutzer etwaige Kollisionen oder Hindernisse vorhersehen und entsprechende Anpassungen vornehmen. Darüber hinaus lässt sich zu jedem Zeitpunkt eine auf dem aktuellen Stand des Projekts basierende Vorschau abrufen und mit noch anzubringenden Bauteilen oder auch mit einem Modell der geplanten Endversion vergleichen.
Wer die CRoW in Aktion erlebt, dem dürfte einleuchten, dass der zugrunde liegende Workflow sich problemlos über Projekte hinweg nutzen und skalieren ließe. Käme eine industriegerechte Variante des Systems beispielsweise zur Konstruktion eines Einfamilienhauses, Wohnungskomplexes oder Wolkenkratzers zum Einsatz, so könnten Daten über die Bewegungsabläufe des Roboterarms aufgezeichnet und optimiert werden, um sie anschließend beliebig oft im Rahmen verschiedener Bauprojekte anzuwenden. So wäre jedes Mal ein perfekt reproduzierbares Ergebnis garantiert.
In einem solchen Szenario könnten Architekten oder Bauarbeiter mit passendem Know-how überdies die Datensätze analysieren, um bei Bedarf Änderungen vorzunehmen und Bewegungsabläufe sowie Verbindungs- oder Druckpunkte gezielt auf die Anforderungen der jeweiligen Endstruktur abzustimmen.
Im Rahmen der Vorführung bei den Innovation Awards zeichnete das CRoW-Team die Bewegungen des LBR iiwa zu Diagnosezwecken auf – laut Vasey ein potenzielles Verkaufsargument. „Kunden können einfach nur den Roboter kaufen, Entwürfe herunterladen und anschließend alles mit einem generativen oder computergestützten Workflow steuern, wenn die grundlegende Software-Logik im Hintergrund läuft“, erläutert sie.
Zunächst gilt es jedoch, der Herausforderung Rechnung zu tragen, dass die Baubranche – so weit sie auch gekommen sein mag – von tief verwurzelten Gewohnheiten und Praktiken geprägt ist, mit denen sich nur schwer brechen lässt, da einiges an Geld und Aufwand in ihre Entwicklung geflossen ist. Die Technologie hinter der CRoW mag cool und innovativ sein, aber inwiefern wäre sie bei groß angelegten Bauprojekten von Vorteil?
„Es wurde bewiesen, dass die Technologie die Arbeitszeit enorm verkürzt. Das bestätigen nicht nur unsere eigenen Forschungsergebnisse, sondern auch die anderer Forschungsinstitute, die mit Augmented Reality arbeiten“, so Kyjanek. „Es ist etwas völlig anderes, die Komponenten und Abläufe mit eigenen Augen vor sich zu sehen, statt nur auf Bauplänen. Das Ganze ist viel intuitiver. Ganz zu schweigen davon, dass es leichter ist, Bauarbeitern die Funktionsweise von AR zu erklären, als ihnen das Interpretieren von Bauplänen beizubringen.“
Die CRoW ist ein weiteres Beispiel für die potenzielle Kurzlebigkeit des Hypes um neue Technologien. Genau wie der 3D-Druck genoss auch AR nach der Veröffentlichung von Pokémon Go seine 15 Minuten Ruhm, als Scharen begeisterter Gamer öffentliche Parks und ganze Stadtviertel auf der Suche nach kleinen Taschen-Monstern überfluteten. Doch so, wie die Hoffnung auf erschwingliche 3D-Drucker für den Heimgebrauch irgendwann abflaute, scheint auch der große Rummel um Pokémon Go – und damit um AR – bereits vorbei zu sein.
Wie die Erfahrung jedoch gezeigt hat, ist anfängliche Begeisterung bei Verbrauchern oft nur aus Marketingsicht relevant. Der 3D-Druck revolutioniert langsam, aber sicher den Industriesektor und Kyjanek und Vasey sind überzeugt, dass auch das Zeitalter von AR schon bald bevorsteht.
Die CRoW ist im Wesentlichen ein Machbarkeitsnachweis – eine gewerbliche Produktion, so Kyjanek, sei jedoch zurzeit nicht geplant. Zunächst wolle man sich auf die Weiterentwicklung des Prototyps konzentrieren: „Während der Entwicklung sind unzählige neue Probleme und Herausforderungen entstanden, die wir erst einmal lösen müssen“, meint er.
Vasey fügt hinzu, dass die Rolle des ICD darin bestehe, grundlegende Forschungsarbeit zu leisten, um ein Umdenken im Hinblick auf neue Technologien anzustoßen und diese als Alternativen zu etablierten Verfahren und Abläufen des Baugewerbes zu untersuchen. Das Institut knüpft regelmäßig neue interdisziplinäre Partnerschaften zu Mitgliedern eines großen, vielversprechenden Forschungsnetzwerks, das eine weitreichende Zusammenarbeit zwischen Forschung und Industrie fördert.
Zugegeben, noch steckt die AR-Revolution der Baubranche in den Kinderschuhen. Doch falls Sie in Zukunft vorhaben, ein Haus oder vielleicht ein Büro zu bauen, sollten Sie nicht allzu überrascht sein, wenn die Handwerker neben Schutzhelm und Werkzeuggürtel mit einem Headset und einem steuerbaren Roboterarm auf der Baustelle aufkreuzen.