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Könnten Kohlenstofffasern die neue Königsklasse der Werkstoffe sein?

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An jedem beliebigen Wochentag hasten die Menschenscharen in „The Loop“, dem Geschäftsviertel in der Innenstadt Chicagos, über die Straße wie aufgescheuchtes Wild. Die meisten eilen am Field Building vorbei, ohne sich dessen Bedeutung bewusst zu sein. Geschweige denn der des historischen Gebäudes, das 1931 an genau dieser Stelle abgerissen wurde: das Home Insurance Building. Es wurde im Jahr 1884 als erstes Hochhaus im Stahlskelettbau errichtet. Stahl war ein leichter, erschwinglicher und langlebiger Werkstoff, aus dem man Gebäude schneller, höher und stärker bauen konnte als aus Holz oder Stein.

Das Home Insurance Building, das als erster Wolkenkratzer der Welt gilt, bewies, dass Stahl ein funktionsfähiger Werkstoff und der Stahlskelettbau eine wirtschaftliche Bauweise war – und veränderte damit die Bereiche Architektur, Ingenieurwesen und Bauwesen für immer. Trotz seiner vergleichsweise bescheidenen Höhe von 10 Stockwerken und circa 42 Meter Höhe, war das Gebäude Vorläufer für jedes Hochhaus, das seither gebaut wurde: einschließlich des Burj Khalifa in Dubai, mit 206 Stockwerken und einer Höhe von über 800 Metern derzeit das höchste Gebäude der Welt.

Mehr als 130 Jahre später beherrschen Stahl und Stahlskelettbau noch immer die Branche. Aber innovative Entwicklungen in den Bereichen der Verbundwerkstoffe und Roboterfertigung könnten demnächst einen Machtwechsel einläuten. Und wenn man die Forschung bei Autodesk BUILD (Building, Innovation, Learning, and Design), einem kollaborativen Forschungs- und Entwicklungsworkshop in Boston, als Gradmesser sieht, wird der neue Herrscher sich womöglich als ebenso revolutionär erweisen.

carbon fiber building hand wrapping
Mitglieder des Projektteams von Ibañez Kim weben im BUILD Space Kohlenstofffasern von Hand. Mit freundlicher Genehmigung von Salem Chism.

„Magisches“ Material

Kohlenstofffasern zählen zu den vielversprechendsten Verbundstoffen für die Zukunft des Bauens. Lange, dünne, in einer kristallinen Formation miteinander verbundene, von einem Polymer umschlossene Stränge aus Kohlenstoffatomen – jeder Strang dünner als ein menschliches Haar – sind leichter als Stahl, fünfmal stärker und doppelt so steif. Deshalb ist dieser Werkstoff besonders beliebt bei Herstellern, die die Stränge wie ein Garn zusammendrehen, das zu Stoff gewebt oder in dauerhafte Formen gebracht werden kann. Dieses Verfahren wird in den verschiedensten Anwendungsbereichen genutzt: von Fahrradrahmen, Angelruten und Flugzeugflügeln bis hin zu Rennwagenkarosserien, Golfschlägern und Segelbootmasten.

„Kohlenstofffasern und andere Verbundwerkstoffe sind sehr leistungsfähig, das heißt, sie haben ein sehr geringes Gewicht, können aber enormen Lasten standhalten“, sagt Simon Kim, Architekt und seit Kurzem Gastforscher in BUILD Space sowie Inhaber der Architektur- und Planungsfirma Ibañez Kim in Cambridge (Massachusetts).

Aufgrund dieser speziellen Eigenschaften hält nicht nur Kim Kohlenstofffasern für ein ideales Baumaterial. „Verbundwerkstoffe sind besonders interessant, wenn es um schnelle Fertigung und Individualisierung geht“, sagt Kim und fügt hinzu, dass man innerhalb von wenigen Wochen ein kleines Haus aus Kohlenstofffaser bauen könne, während es mit herkömmlichen Werkstoffen Monate dauern würde. „Gebäude aus Verbundwerkstoffen kann man relativ schnell errichten und man benötigt dafür – von Bauunternehmen über Handwerksbetriebe bis hin zum Material – keine spezialisierten Arbeitskräfte und Arbeitsabläufe. Man kommt deshalb schneller voran, die Lieferzeiten sind kürzer, der Materialaufwand ist geringer und die Kosten sind niedriger.“

Dank ihrer Flexibilität und Leichtigkeit lassen sich Kohlenstofffasern leicht transportieren. „Bauteile können abgeholt, an einen anderen Ort gebracht und miteinander verknüpft werden, um je nach Bedarf größere Strukturen zu erstellen“, erklärt er. „Das macht Gebäude aus Verbundwerkstoffen viel flexibler als herkömmliche Bauwerke, bei denen man sich auf eine Dauerhaftigkeit einlässt, die nicht immer wünschenswert ist.“

carbon fiber building fabrication setup at BUILD Space
Der Produktionsaufbau bei BUILD Space. Mit freundlicher Genehmigung der Universität Stuttgart.

Die Zukunft gestalten

Mit dem Aufkommen von Stahl entstanden nicht gleich Hochhäuser. Um die Vorteile des Stahls nutzen zu können, brauchten Architekten auch eine neue Bautechnik: den Stahlskelettbau. Für innovative Materialien wie Kohlenstofffasern gilt das Gleiche: Ihr Potenzial hängt von der Entwicklung modernster Fertigungsmethoden ab, um die Lücke zwischen Forschung und Baustelle zu schließen.

Während ihrer jüngsten Residenz bei BUILD Space testeten Kim und seine Kollegen Ayoub Lharchi und Yencheng Lu, Absolventen des Master-Studiengangs an der Universität Stuttgart, entsprechende Verfahren. Ihre Forschungsergebnisse verheißen eine Zukunft, in der architektonisch ebenso viel für Verbundwerkstoffe spricht wie für Stahl. Oder genauer gesagt: mehr.

Von Skulpturen zu Bauwerken

Kim begann seine Residenz in Boston im Juni 2017. Er wollte nachweisen, dass Kohlenstofffasern im Bauwesen nicht nur eine ausgezeichnete Funktionalität aufweisen, sondern auch ausgezeichnete Formen hervorbringen können. Seine Versuchsanordnungen, wie die zur Untersuchung der Festigkeitseigenschaften verschiedener Harze für die Erzeugung von kohlenstofffaserverstärkten Polymerverbundstoffen (CFK), prägen die Objekte, die er bislang realisiert hat.

„Wir verwenden temporäre Konstruktionen – nicht nur um zu dokumentieren, was Kohlenstofffasern leisten können, sondern auch, um die ihnen innewohnende kulturelle Schönheit zu zeigen“, schwärmt Kim. Mit „The Forest of Sound“, einem über das Pew-Forschungszentrum finanzierten Projekt, das Kim gemeinsam mit dem Komponisten Lembit Beecher für die Weltpremiere dessen Oper „Sophia’s Forest“ konzipierte, stellt Kim die optischen und haptischen Qualitäten von CFK-Strukturen heraus. Die im September 2017 in Philadelphia uraufgeführte Oper präsentierte sich mit neun von Kim und seinem Team bei BUILD Space kreierten „Klangskulpturen“. Die mannshohen Skulpturen bestehen aus einer Schale aus gewickelter Kohlenstofffaser, in der sich ein mechanisiertes Instrument befindet, das während der Aufführung sphärische Klänge erzeugt.

Bei BUILD Space testeten der Architekt Simon Kim mit Ayoub Lharchi und Yencheng Lu, Studenten der Universität Stuttgart, Methoden zur Herstellung von Kohlenstofffasern. Mit freundlicher Genehmigung der Universität Stuttgart.
 
Beim Fertigungsprozess mit Kohlenstofffasern war ein Fasern webender Roboter Dreh- und Angelpunkt. Mit freundlicher Genehmigung der Universität Stuttgart.
 
Detailaufnahme des im Herstellungsprozess verwendeten Roboters. Mit freundlicher Genehmigung der Universität Stuttgart.

Wenn auch im kleinen Maßstab gebaut, weisen die an Spinnennetze oder Kokons erinnernden tragbaren Skulpturen bereits auf das architektonische Potenzial von Kohlenstofffasern hin, erklärt Kim. In seiner Vision der Zukunft werden bestehende Gebäude, wie zum Beispiel klimatisierte Lagerhallen, durch Hinzufügen von Kohlenstofffaserschalen oder -kapseln umgestaltet. Das Äußere eines Gebäudes bliebe im Wesentlichen erhalten, während das Innere mit modularen Büros oder Wohnungen nach den gleichen Prozessen und Prinzipien wie Kims Klangskulpturen individualisiert werden könnte.

„Wir können natürlich neu bauen, aber wir kommen nicht an der Tatsache vorbei, dass über mehrere Jahrhunderte Bauwerke errichtet wurden, die sich nicht einfach in Luft auflösen werden“, sagt Kim. „Diese Gebäude aus Beton, Ziegelstein und Steinplatten abzureißen und neu aufzubauen, wäre in Bezug auf Energiebilanz und CO2-Fußabdruck problematisch. Ist es nicht besser, sie wiederzuverwenden und ihre Funktion mit ‚Einbauten‘ zu modernisieren, die extrem gut verarbeitet, leicht und erschwinglich sind?“

Die Herstellung der Zukunft gestalten

Die Natur ist voller interessanter Geometrie, von Spiralen und Kugeln bis hin zu Kurven und Kegeln. Und dennoch beschränkt sich die gebaute Welt allzu oft auf Dreiecke, Kreise und Quadrate. Auf der Suche nach einer größeren Bandbreite an möglichen Formen für gebaute Objekte nutzten Lharchi und Lu ihre Residenz bei BUILD Space zur Erforschung des geometrischen Potenzials von faserverstärkten Verbundwerkstoffen (FRC).

Um mit faserverstärkten Verbundstoffen – einschließlich Kohlenstoff-, Glas- und Aramidfasern – neuartige Formen zu erschaffen, sei eine effektive Herstellungsmethode erforderlich, meint Lharchi. „Der Einsatz von Fasern eignet sich besonders für großflächige Strukturen – beispielsweise für Dächer von Sportstadien, wo Stützen auf dem Spielfeld unerwünscht sind“, erklärt er. „Wenn man aktuell etwas Derartiges bauen möchte, kann man entweder eine große Maschine verwenden, wie sie für die Herstellung von 3D-gedruckten Häusern verwendet wird – was ich mir vor Ort kaum vorstellen kann –, oder einen industriellen Roboterarm, bei dem die Armlänge der einschränkende Faktor ist. Wir versuchen eine Herstellungsmethode zu finden, mit der man eine zusammenhängende Struktur [aus faserverstärktem Verbundstoff] in großem Maßstab in der Praxis umsetzen kann.“

Lharchi zufolge ist die Nutzung von Kabelrobotern bei der Herstellung eine vielversprechende Methode. Indem sie die Materialeigenschaften von Kohlenstofffasern mit Seilen simulierten, demonstrierten er und sein Team bei BUILD Space das mögliche Potenzial von Kabelrobotern.

„Sie haben sicher schon einmal in einem Sportstadion eine Skycam gesehen – das ist im Prinzip ein Kabelroboter mit einer Kamera“, erklärt Lharchi, der ein System aus zwei parallel übereinander arbeitenden Kabelrobotern entwickelt hat. Die Roboter bewegen sich am Kabel seitwärts hin und her und überreichen sich im Wechsel die Fasern – so können sie einzigartige Formen wie beispielsweise Wicklungen weben. „Faserverstärkte Verbundstoffe sind für die Gestaltung von großen, leichten Strukturen ideal. Ich hoffe, dass wir mit der Erforschung von kostengünstigen und allgemein zugänglichen Herstellungsmethoden das Bauen mit Fasern vor Ort flächendeckend etablieren können.“

Über den Autor

Matt Alderton lebt und arbeitet in Chicago als freischaffender Publizist. Er hat sich auf Wirtschaftsthemen, Design, Ernährung, Reisen und Technologie spezialisiert. Unter anderem hat der Absolvent der Medill School of Journalism an der Northwestern University in Illinois bereits über Beanies, Mega-Brücken, Roboter und Hähnchen-Sandwiches berichtet. Er ist über seine Website MattAlderton.com zu erreichen.

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