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Bauwesen: Mit Augmented Reality können Sie durch Wände sehen

Stellen Sie sich vor, es wird ein neues Bürogebäude errichtet und Sie gehören zur Baumannschaft: Mitten in der Bauphase überwachen Sie vor Ort die Installation der HLK-Systeme. Sie setzen sich einen merkwürdig aussehenden Bauhelm auf und steigen aus dem Serviceaufzug. Als Sie hochschauen, sehen Sie, wie eine abgehängte Decke installiert wird. Sie fragen sich, was wohl dahinter passiert …

Über das Visier Ihres Helms rufen Sie das Building Information Modeling (BIM) auf, das sogleich in Ihr Sichtfeld projiziert wird. Sie sehen Heizschächte, Wasserleitungen und Schaltschränke, deren Perspektive sich anpasst, sobald Sie sich durch die Gänge bewegen. Wenn Sie bestimmte Ebenen des Modells deaktivieren, sehen Sie die Stahlkonstruktion, die Isolierung und Materialien des Gebäudes – als hätten Sie den Röntgenblick eines Comic-Helden. Tatsächlich könnte dies schon bald auf einer Baustelle in Ihrer Nähe Realität werden.

Dieser „Zauberhut“, der Smart Helmet von DAQRI, ist ein tragbares Augmented-Reality-System, das derzeit für den Einsatz in der Fertigungsindustrie entwickelt wird – besonders für das Bauwesen. Im Wesentlichen ermöglicht der Helm Baufachleuten, Ingenieuren und Planern, ihr BIM-Modell auf der Baustelle ständig parat zu haben und es dort als immersive 3D-Umgebung im Originalmaßstab zu erleben.

Mit dieser Fülle von mehrschichtigen Gebäudeinformationen kann eine Baumannschaft Raumverhältnisse besser sehen, Konflikte in der Gebäudetechnik früher erkennen und schneller besser fundierte Entscheidungen treffen – bei geringerem Fehlerpotenzial. „Man kann vor Ort Entscheidungen treffen, die sonst bis zum Ende der Schicht warten müssten, damit sie mit einem Vorgesetzten besprochen werden können“, sagt Roy Ashok, Produktleiter bei DAQRI. „So erhält der einzelne Baubeschäftigte mehr Entscheidungsbefugnis.“

augmented reality in construction worker using helmet
Mit freundlicher Genehmigung von DAQRI

Mittels kurzer Probeläufe, unter anderem in Zusammenarbeit mit Mortenson Construction und Autodesk, testet DAQRI die Helme (die in dieser frühen Entwicklungsphase umgerechnet ca. 13.000 Euro kosten) bereits auf einzelnen Baustellen. So setzte Mortenson die Helme im Rahmen einer Machbarkeitsstudie beim Bau des Hennepin County Medical Center in Minneapolis ein.

„Das BIM-Modell ist der erste Schritt“, erklärt Ricardo Khan, Senior Director für Projektlösungen bei Mortenson. „Tatsächlich bildet das Modell nur etwa 25 % der Informationswerte ab. Für die verbleibenden 75 % gilt es, die Mannschaften vor Ort mit den restlichen Projektinformationen des Auftrags räumlich zu verknüpfen.“

In der Erfolgsbilanz von Augmented-Reality-Wearables gibt es einen weltbekannten Reinfall – aber im Gegensatz zu Google Glass spezialisiert sich DAQRI konsequent auf industrielle Anwendungen. In diesem Umfeld wird eine etwas alberne Kopfbedeckung wie dieser Helm leichter akzeptiert; zudem gibt es weniger datenschutzrechtliche Bedenken.

Hardware-technisch sind die Helme mit drei unterschiedlichen Kameras ausgestattet, mit deren Hilfe das System den aktuellen Standort des Trägers lokalisiert und den Raum um ihn herum auswertet. Ein 166-Grad-Weitwinkelobjektiv mit Graustufendarstellung bestimmt die Position des Trägers in einer Umgebung auf den Zentimeter genau.

Daneben gibt es eine Kamera für die Tiefenwahrnehmung (die Intel RealSense), die die Geometrie des Raumes und der darin enthaltenen Objekte ermittelt und dem Träger kommuniziert: „Das ist eine Tür, das ist ein Fenster, das ist ein Tisch“, so Ashok. Auf dem Hintergrund dieser Erkenntnisse können virtuelle Inhalte platziert und Änderungen am Modell vorgenommen werden. Die Kamera speichert außerdem eine „Karte“ von jedem geplanten Raum. „Es ist im Grunde wie eine Kartografie-Funktion“, erklärt Ashok. Mithilfe einer dritten, thermischen Kamera können Anwender Temperaturmessungen auf gerenderte 3D-Objekte abbilden.

„Mit der vom Odometriesystem gelieferten Information über Ihren Aufenthaltsort und Ihr direktes Umfeld wissen Sie so ziemlich alles, was Sie über die Welt wissen müssen“, meint er.

augmented reality in construction worker in building
Mit freundlicher Genehmigung von DAQRI

Die Software für den Helm von DAQRI wurde im Hinblick auf das spezifische und relativ gefährliche Umfeld einer Baustelle entwickelt. Ursprünglich hatte man angedacht, Handsignale zu benutzen, die von der Helmkamera registriert und in Menübefehle umgesetzt werden sollten, doch das erwies sich als nicht machbar.

„Dafür gibt es zwei Hauptgründe“, erläutert Ashok. „Einer davon ist die Zuverlässigkeit. Die Technologie ist einfach noch nicht genügend ausgereift, um zu 99,99 Prozent zuverlässig zu sein, und diese Unsicherheit führt zu Ermüdung.“ Eine Baustelle ist außerdem nicht der geeignete Ort, um wild mit den Armen herumzufuchteln, um eine Reihe von Leuchten anzuzeigen, die noch gar nicht installiert wurden – so schildert Ashok den zweiten Vorbehalt gegen den Einsatz von Handsignalen.

Funkenregen, kreisende Sägeblätter, offene elektrische Leitungen und tonnenschwere, durch die Luft schwingende Metallteile zwingen jeden Einzelnen auf einer Baustelle, sich voll auf seine Aufgabe und die reale physische Umgebung zu konzentrieren. „Sobald man von dem, was um einen herum geschieht, abgelenkt wird, setzt man sich bei der Arbeit möglichen Gefahren aus“, warnt Khan.

Um diesen Herausforderungen zu begegnen, beschloss man bei DAQRI, dass die Helme völlig ohne Hände bedienbar sein müssten. So entschieden die Ingenieure sich für ein System auf Basis von Blickbewegungsmessung. Ein in Blickrichtung orientiertes Fadenkreuz wandert mit der Bewegung des Kopfes – „genau wie Maus und Cursor“, erklärt Ashok. Man wählt einen Menüpunkt, Hyperlink oder eine Modellebene aus, indem man mit dem Blick für ein paar Sekunden darauf verweilt. Die Software BIM 360 von Autodesk ist im Lieferumfang der Helme enthalten, aber da das Anwendungsspektrum des Produkts so breit ist, müssen viele Unternehmen maßgefertigte Software-Lösungen für ihre jeweiligen Anforderungen entwickeln, die von DAQRI unterstützt werden.

augmented reality in construction workers collaborating using the helmet
Mit freundlicher Genehmigung von DAQRI

Die Bauphase eines Projekts bietet sich als der früheste Zeitpunkt für den Einsatz der DAQRI-Helme an. Ashok meint jedoch, es lohne sich, sie bereits vom ersten Tag der Planung an auf der Baustelle einzusetzen. So könnte der Architekt bzw. die Architektin den Ingenieuren und Baufachleuten das Modell vor Baubeginn an Ort und Stelle zeigen – und diese können frühzeitig auf mögliche Probleme hinweisen, wenn Fehler sich noch einfach und preiswert beheben lassen. Mithilfe der übersichtlichen Benutzeroberfläche könnten den Baumannschaften über die Helme Schritt-für-Schritt-Anleitungen zur Verfügung gestellt werden, zum Beispiel für Bauabnahmen oder sogar für Wartungsarbeiten nach der Fertigstellung.

„Augmented Reality wird sich erheblich darauf auswirken, wie unsere Gesellschaft mit Informationen in Kontext mit physischen Umgebungen umgeht“, so Khans Prognose. „Wir glauben, sie bringt der Bauindustrie den dringend notwendigen Strukturwandel zur Lösung eines breiten Spektrums branchenspezifischer Probleme, wie zum Beispiel die Erhöhung des Sicherheitsbewusstseins von Baubeschäftigten in Bezug auf Just-in-time-Wissen. Ein zusätzlicher Nutzen ist, dass unsere Kunden mithilfe von Augmented Reality Betrieb und Wartung ihrer Anlagen entscheidend verbessern können.“

Die aktuelle Ausführung des DAQRI-Helms könnte die Baubranche entscheidend verändern, ist aber derzeit noch abhängig vom Import eines statischen virtuellen Modells eines Gebäudes, auf das das reale Objekt projiziert werden kann. Das nächste Ziel wird die Entwicklung eines Geräts sein, das Elemente außerhalb des Sichtfelds erkennt und dem Anwender dynamisch darstellt – unabhängig davon, ob sie im Modell angelegt wurden oder nicht. Damit käme Augmented Reality wahrlich an die Schwelle zum Röntgenblick und die Bauindustrie in eine neue Dimension unmittelbarer, materieller Allwissenheit.