Bei der Bebauung der Arktis misst sich architektonischer Erfindungsgeist mit brutalen Naturgewalten
Mit Durchschnittstemperaturen um minus 34 Grad in den Wintermonaten zählt die Arktis zu den kältesten Regionen der Welt. Nun steht ein Blizzard wirtschaftlicher Aktivität bevor, der ihre architektonische Erschließung kräftig anheizen dürfte.
Die Gründe dafür liegen auf der Hand: Laut Schätzungen der US-amerikanischen Kartographiebehörde US Geological Survey befinden sich um die 13 Prozent aller unerschlossenen Erdölreserven und 30 Prozent aller bislang nicht geförderten Gasreserven in der Arktis, einer Region, die zudem reichhaltige Erzlagerstätten und biologische Rohstoffe birgt. Die Russische Geographische Gesellschaft schätzt den Anteil der Arktis an den weltweiten Süßwasservorräten auf ein Fünftel. Immerhin fließen hier einige der größten Flüsse der Welt, die das Überleben von Hunderten einheimischen Pflanzen- und Tierarten, Millionen von Zugvögeln und einer Vielzahl von Fischen sichern und damit auch den kommerziellen Fischfang als einen der wichtigsten Wirtschaftszweige der Region unterstützen.
Das privatwirtschaftliche Investitionsvolumen in die Region wird sich nach Prognosen des Versicherungsunternehmens Lloyd’s of London bis 2022 auf über 100 Milliarden US-Dollar belaufen. Dabei gibt es nur ein Problem: Dem Reichtum an Bodenschätzen steht ein eklatanter Mangel an Infrastruktur gegenüber. Die Straßen, Häfen, Stromnetze und Wohnimmobilien, die zur Erschließung der arktischen Rohstoffe erforderlich wären, müssen erst noch gebaut werden.
Diese Rahmenbedingungen sind mit riesigen Herausforderungen, aber auch – gerade für Architekten – mit Riesenchancen verbunden. „Die Zukunft der Arktis wird von einer anhaltenden Expansion großer und kleiner Städte geprägt sein. Die Frage lautet: Wie werden diese Städte aussehen?“ ist Matthew Jull überzeugt. Jull ist Assistenzprofessor für Architektur an der University of Virginia (UVA) und leitet gemeinsam mit Leena Cho die interdisziplinäre Arctic Design Group (ADG) mit Forschungsschwerpunkt auf der baulichen Gestaltung der Arktis. „Als Gebäudeplaner können wir entscheidend an der Gestaltung der Zukunft dieser Region mitwirken.“
Klimatische Sachzwänge
In der Arktis ist Architektur kein ästhetisches Beiwerk, sondern knallharte Problemlösung. Problemquelle Nr. 1 ist dabei das Klima. „Das arktische Klima führt zu Verwerfungen und stellt Architekten somit vor Sachzwänge“, erläutert Jull. „Damit rückt bei der Planung funktionstauglicher Gebäude die Interaktion mit der Umgebung als unbedingte Priorität in den Vordergrund.“
Das im Juni fertiggestellte Terminal des Flughafens von Iqaluit veranschaulicht auf vorbildliche Weise, wie Architekten das Potential der Region zu ihrem Vorteil nutzen und Symbiosen zwischen der natürlichen und der gebauten Umwelt schaffen können. Die von Stantec geplante Anlage mit einer Grundfläche von 10.000 Quadratmetern ist darauf ausgelegt, den extremen Witterungsbedingungen in der Provinz Nunavut standzuhalten, die sich über die östliche Hälfte der kanadischen Arktis erstreckt. Den hohen Windgeschwindigkeiten und Schneeverwehungen, die in diesen Breitengraden im Winter quasi Alltagsphänomene sind, wirkte Stantec mit einem geschwungenen Dach entgegen, das den Wind abfängt und Schneeanhäufungen verhindert.
Schneeverwehungen, die sich in unmittelbarer Nähe des Gebäudes bis zum Dach auftürmen, stellen eine weitere Gefahrenquelle dar. Zu ihrer Verhinderung kam eine in der Arktis als snow scooping („Schneeschaufeln“) bekannte architektonische Strategie zum Einsatz.
„An der Windschattenseite des Gebäudes haben wir im Abstand von etwa einem Meter eine vertikale Außenwand errichtet, die ungefähr zwei Meter über die Dachfläche hinausragt und im unteren Teil offen ist“, wie der für das Projekt verantwortliche Architekt Noel Best erläutert. „Wenn der Wind über das geschwungene Dach hinwegfegt und auf diese vertikale Fläche trifft, wird er nach unten gezwungen und schaufelt auf der anderen Seite der Wand den Schnee in die Höhe. Schneeverwehungen bilden sich trotzdem – aber da der Wind die Gebäudefassade quasi abschrubbt, entstehen sie in einem Abstand von vier bis fünf Metern. Es ist ein ziemlich geniales System.“
Raumausleuchtung und energetische Effizienz sind ebenfalls wichtige Zielvorgaben – arktische Winter sind bekanntlich dunkel und die Energiekosten hoch. Leider sind beide Ziele nur bedingt miteinander vereinbar, weil Fenster Wärme austreten lassen. Stantec gelang es mithilfe einer Modellierungssoftware, den Lichteinfall bei möglichst geringer Fensterfläche zu optimieren.
Das Bauen auf Dauerfrostboden stellte die Architekten vor weitere Probleme. In der Arktis werden Gebäude zumeist auf Pfählen über einer dauergefrorenen Bodenschicht errichtet.
„Weil das Gebäude vom Boden abgehoben ist, kann der Wind darunter durchwehen. Dadurch entsteht ein Kaltluftpuffer, der verhindert, dass die Gebäudewärme den Dauerfrost zum Schmelzen bringt und sich das Gebäude senkt“, erklärt Best.
Ein Flughafengebäude mit der Fläche eines Fußballplatzes auf Pfählen errichten zu wollen, wäre allerdings Irrsinn. Stattdessen entwarf Stantec ein Gebäude, das direkt auf dem Untergrund ruht, wobei eine unter dem Gebäudefundament installierte Thermosiphonanlage dafür sorgt, dass der Boden gefroren bleibt.
Logistik der langen Wege
Neben den klimatischen Herausforderungen der Region bereitet auch ihre Abgeschiedenheit den arktischen Bauunternehmern erhebliche Schwierigkeiten. Hier können Architekten ebenfalls für Abhilfe sorgen, wie Julls Kollegin Leena Cho berichtet. „Der Transport von Baumaterialien in abgelegene Ortschaften ist mit hohen Kosten verbunden“, so die Assistenzprofessorin für Landschaftsarchitektur. Die Hauptschuldigen seien wieder die extremen Wetterbedingungen und der Mangel an Infrastruktur. Die Anlieferung von Baumaterialien per Luft- oder Seefracht sei nur in den Sommermonaten möglich. „Konkret bedeutet das, dass bei der Gebäudeplanung komplexe logistische Gegebenheiten zu berücksichtigen sind und nach Möglichkeit Werkstoffe verwendet werden sollten, die sich vor Ort beschaffen lassen.“
Heizöl zählt dabei zu den teuersten Importgütern. „Die hohen Heizölpreise führen dazu, dass der Einsatz erneuerbarer Energien in der Arktis kräftig gefördert wird“, so Daniel Nichols, der in Anchorage als Leiter für Anlagentechnik bei WHPacific tätig ist – dem größten Ingenieurbüro der USA, das sich in indigenem Besitz befindet. In der Arktis kämen daher zunehmend Biomasseheizkraftwerke sowie Mikro-Kraftwerke auf Basis von Solar- und Windenergie zum Einsatz.
Auch hinsichtlich Betrieb und Wartung von Gebäuden gelten in der Arktis eigene Regeln. „Versorgungs- und Ausrüstungssysteme müssen robuster konstruiert und einfacher bedienbar sein als anderswo, denn hier gibt es nicht viele qualifizierte Techniker, die entsprechende Aufgaben übernehmen können“, berichtet Nichols.
Hier bietet sich Vorfertigung als Strategie zur Bewältigung dieser Herausforderungen an. So ist etwa das Flughafengebäude in Iqaluit mit einem KWK-Kraftwerk ausgestattet, das zur Stromherstellung Öl verbrennt und dabei zugleich Wärme produziert. Die Anlage wurde in einer Fabrik im Süden des Landes gebaut und getestet und im Anschluss zur Installierung nach Norden transportiert.
In der Arktis könne man fehlende Teile nicht einfach im Baumarkt holen, so Armstrong. Durch Vorfertigung in Regionen mit gemäßigtem Klima und niedrigeren Arbeits- und Werkstoffkosten ließen sich einerseits Effizienzgewinne erzielen, andererseits „ist damit gewährleistet, dass alle notwendigen Teile vorhanden sind“.
Architektonische Brückenschläge
Nicht zuletzt bringt die immer rasanter voranschreitende Erschließung der Arktis für die beteiligten Architekten auch Chancen mit sich, die Kultur der Region nachhaltig zu prägen. „Architektur schlägt eine Brücke zwischen funktionellen und sozialen Aspekten“, ist Jull überzeugt. „Die Auseinandersetzung mit der Frage nach der sozialen Bedeutung einer gebauten Umwelt hat bislang kaum stattgefunden: Wie kann sie zur Verbesserung der Lebensqualität beitragen? Hier können Architekten entscheidende Impulse setzen.“
Auch in dieser Hinsicht ist das Flughafengebäude in Iqaluit vorbildlich. „In der Arktis erfüllen Gebäude vielfältige Funktionen“, erläutert Best. Entsprechend habe sein Team den Flughafen nicht nur als Verkehrsdrehkreuz, sondern auch als öffentlichen Treffpunkt geplant. Der Ankunftsbereich in Form einer Rotunde ist einem Iglu nachempfunden, mit zahlreichen Sitzgelegenheiten und Restaurants ausgestattet und mit Werken von Inuit-Künstlern bestückt. Hier sei ein „echtes Gemeinschaftszentrum für die Einheimischen mit starker architektonischer Präsenz und einem einzigartigen kulturellen Charakter“ entstanden, so Best.
Das ebenfalls von Stantec geplante Iqaluit Aquatic Centre ist ein weiteres Beispiel für ein gelungenes Mehrzweckgebäude, das gleichzeitig als Sportanlage, Freizeit- und Gemeinschaftszentrum dient.
„Diese Städte sind nicht besonders groß, deswegen muss jedes Gebäude mehrere Funktionen auf einmal erfüllen“, so Armstrong. „In arktischen Gegenden gibt es nicht viele offene Plätze, wo man gemütlich sitzen und einen Kaffee trinken kann, so wie man es im Süden in einer Shopping Mall tun würde. Insofern haben der Flughafen und das Schwimmbad unser städtisches Umfeld um ein bislang fehlendes Element bereichert.“
In derart isolierten Gegenden spielt der gemeinschaftliche Zusammenhalt eine entscheidende Rolle. „Seien wir mal ehrlich“, sagt Best. „Viele dieser Ortschaften kämpfen mit ernsthaften Drogen- und Alkoholproblemen. Durch die Bereitstellung öffentlicher Räume, die den Menschen die Möglichkeit geben, sich aktiv an positiven Gemeinschaftserlebnissen zu beteiligen, kann man hier echt etwas bewirken.“