Abenteuer Realitätserfassung: „Check-up“ für Kathedralen auf dem Weg zur Unsterblichkeit
Gebäude altern ebenso wie Menschen, und regelmäßige Befunderhebungen helfen dabei, mögliche Gesundheitsschäden zu erkennen. Fünf Kathedralen aus der französischen Region Pays de la Loire sind für die vollständige 3D-Vermessung vorgesehen. Die digital erfassten Daten liefern die Basis zur Erzeugung von Plänen und Schnitten für spätere Restaurierungen und sollen für die Nachwelt ein unwiederbringliches Kulturerbe bewahren.
Durch seitliche Fenster wird der Innenraum auf einzigartige Weise von Licht durchflutet. Überhöhte Domikalgewölbe – zunächst massiv über dem romanischen Mittelschiff und später im gotischen Querschiff und Chor als filigrane Rippengewölbe errichtet – verkörpern die unverkennbare Stilform der Kathedrale Saint-Maurice in Angers. Dieser Sakralbau, der sich im französischen Staatseigentum befindet, stellt für den Besucher ein einzigartiges Zeugnis der sogenannten angevinischen Gotik – auch als Plantagenet-Stil bezeichnet – dar.
Fünf Kathedralen der Loire-Region
Die Komplexität der Untersuchung dieses im 12. Jahrhundert errichteten Kulturdenkmals erfordert nicht nur fachliche Expertise, sondern auch hochentwickelte Spitzentechnologien. Die Regionaldirektion für kulturelle Angelegenheiten (Drac) – das für die Region Pays de la Loire zuständige Kulturministerium – hat die Vermessung von fünf Kathedralen ausgeschrieben. Darunter befinden sich Luçon, wo einst der bedeutende französische Kleriker Kardinal Richelieu amtierte, sowie die Kathedralen in Angers, Le Mans, Laval und Nantes. Der Auftrag ging an das Unternehmen Art Graphique & Patrimoine (AGP), einen der führenden Anbieter Frankreichs im Bereich der digitalen Technologien zur Erfassung und Erhaltung von Kulturerbe.
Bisher wurde nur die Kathedrale von Angers vollständig mit Laser-Farbscanner und Drohne kartiert. Im Ergebnis sollen umfassende und millimetergenaue Gebäudedaten bereitgestellt werden, aus denen schließlich Pläne und Schnitte für eine mögliche Restaurierung erarbeitet werden können. „Um einen Vergleich aus der Medizin heranzuziehen, würde ich sagen, wir fertigen eine Röntgenaufnahme des Gebäudes an. Das französische Kulturministerium und der für den Denkmalschutz zuständige Architekt erstellen eine Diagnose, um bei Schädigungen, Feuchtigkeitsschäden, Verwitterungen oder schweren Schadensbildern über die richtigen Behandlungsmaßnahmen zu entscheiden”, schildert Gaël Hamon, Gründer von Art Graphique & Patrimoine. Damit will man auch erreichen, dass die Gemeinde über eine genaue Datengrundlage verfügt, die sie dem Staat im Katastrophenfall wie dem von Notre-Dame de Paris im April 2019 zur Verfügung stellen kann.
Die vom Laserscanner erfassten Daten werden mithilfe der Software Autodesk ReCap Pro zusammengeführt und durch spezialisierte Techniker und Ingenieure ausgewertet, die dem 25-köpfigen interdisziplinären Team von AGP aus Architekten, Ingenieuren, Grafikdesignern, Entwicklern, Historikern und Archäologen angehören.
Manuelle Bearbeitung ist unverzichtbar
Ergänzend zur Technik trägt die manuelle Auswertung entscheidend dazu bei, sicherzugehen, dass die erfassten Daten die Realität korrekt abbilden. „Wenn wir, etwa wie in einem MRT, eine Punktwolke isolieren, um einen Ausschnitt oder eine Höhenkarte zu erstellen oder bestimmte Betrachtungen vorzunehmen, muss eine perfekte Übereinstimmung von einem Ende des Gebäudes bis zum anderen vorliegen. Einfache Formen werden von den leistungsstarken Computern, die wir verwenden, perfekt analysiert, komplexe Strukturen jedoch, wie sie in Kathedralen zu finden sind, können nur von Spezialisten ausgewertet werden“, argumentiert Gaël Hamon, der selbst ausgebildeter Steinmetz ist. Seit 1997 führt das Unternehmen AGP, das als Pionier in seiner Branche gilt, Laservermessungen historischer Denkmäler durch und hat ein eigenes Verfahren dafür entwickelt. Wie es für derartige Baumaßnahmen üblich und laut Ausschreibung auch erforderlich ist, erzeugt das Unternehmen aus dem vollständigen 3D-Scan mit AutoCAD die benötigten 2D-Schnittzeichnungen.
Die Datenerfassung für diese fünf Kathedralen erweist sich als Langzeitforschungsaufgabe, getragen vom starken politischen Willen, das religiöse Erbe in der Region Pays de la Loire zu erhalten. Ungewöhnlich ist dabei nicht so sehr die Erfassungszeit, die je nach Komplexität und ermitteltem Volumen des Bauwerks einige Wochen bis Monate in Anspruch nehmen kann, sondern vor allem der beachtliche, nicht verringerbare Zeitaufwand für die Bauwerkszeichnung.
Ein Mannjahr pro Kathedrale
Für die Zeichnung der aufwändig gestalteten Kathedrale von Le Mans wird beispielsweise ein ganzes Mannjahr angesetzt. Warum? „In einem historischen Denkmal gibt es keine geraden Linien. Die manuelle geometrische Auswertung ist unerlässlich, da die Werke im Laufe der Jahrhunderte auf verschiedene Weise umgebaut, verziert und restauriert wurden. Kein Computer könnte jemals die Form einer Rose analysieren und rekonstruieren“, fügt Gaël Hamon lächelnd hinzu.
In Angers wird in Kürze ein internationaler Architekturwettbewerb für den Bau einer zeitgenössischen Empore über dem Eingangsportal der Kathedrale ausgeschrieben. Es handelt sich dabei um eine architektonische Maßnahme zum Schutz des Portals, bei dessen Vermessung AGP die genaue Position der heute nicht mehr erhaltenen historischen Empore rekonstruieren konnte. „Unsere Arbeit erlaubt es jedem Architekten, genau auf die Anforderung der Drac zu antworten und eine korrekte Berechnung der Position und der Kosten abzugeben”, führt Gaël Hamon aus, der bereits etwa dreißig Kathedralen in Frankreich (darunter Notre-Dame de Paris, Amiens, Alès, Troyes, Soissons, Limoges, Perpignan, Poitiers) vermessen bzw. „geröntgt“ hat. Wie nie zuvor trägt seine Arbeit dazu bei, das Wissen über das Weltkulturerbe zugänglich zu machen und dessen Weitergabe an kommende Generationen zu sichern.